Burkhard Schnepel, Felix Girke et al. (Hrsg.): Kultur all inclusive
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 21.10.2013

Burkhard Schnepel, Felix Girke, Eva-Maria Knoll (Hrsg.): Kultur all inclusive. Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus.
transcript
(Bielefeld) 2013.
346 Seiten.
ISBN 978-3-8376-2089-4.
D: 29,90 EUR,
A: 30,70 EUR.
Reihe: Kultur und soziale Praxis.
Glücksbringende Verheißung oder zerstörerische Einflussnahme?
Begegnung markiert, identifiziert, vereint, trennt, festigt, ideologisiert, monopolisiert, modifiziert, zerstört… Das Dilemma ist deutlich. In jeder Form des menschlichen Zusammenlebens steckt, gewollt oder ungewollt, immer auch ein „Sowohl-als-Auch“ (Fritz B. Simon, Wenn rechts links ist und links rechts. Paradoxiemanagement in Familie, Wirtschaft und Politik, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/14542.php). Das Erkennen, sachgerechte, moralische und humane Umgehen mit den Chancen und Risiken bei Begegnungsprozessen aber sind Voraussetzungen für eine gelingende kulturelle Identität (Gerd Gigerenzer, Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/15271.php).
Über die Möglichkeiten und Gefahren, die in der modernen Zeit der Massentourismus mit sich bringt, wird viel argumentiert, analysiert, apostrophiert, appelliert, adhibiert, affirmiert und agitiert. Die Argumentationen reichen von dem Versprechen, dass Tourismus als Werkzeug des Friedens und zur Verständigung zwischen Ländern und Völkern diene, bis hin zu den Befürchtungen, dass Berührung und Kontakt des Anderen, des Fremden mit dem Eigenen, überlieferte Traditionen, Sitten und Gebräuche nicht nur verändern, sondern zerstören würden (Abdelwahab Bouhdiba, Massentourismus und kulturelle Tradition, UNESCO-Kurier, 2/1981, S. 4ff.). Euphorie und Lamento halten sich dabei die Waage. Wirtschaftsmacht und kulturelle Veränderungsprozesse werden ins Spiel gebracht. Aufklärungs-, Bildungs- und Erziehungsprozesse hin zur interkulturellen Begegnung prägen den Diskurs um eine humane, gerechte und friedliche Eine Welt (vgl. dazu auch: www.initiativen-partnerschaft.de).
Entstehungshintergrund und Herausgeberteam
In der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (Einen?) Welt vollzieht sich ein Wandel, der die traditionellen Vorstellungen und Gewissheiten von der ethno-zentrierten kulturellen Identität konfrontiert mit der Dynamik des transkulturellen Raumes (Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hrsg.): Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14103.php). Die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ forderte 1995 eine Abkehr von der Idee einer „Nationalkultur“ und von der Argumentation, dass „kulturelle Identität“ Mauer und Abwehr gegen anderskulturelle Einflüsse und Einwirkungen sein müsse; vielmehr müsse es eine globale Ethik auf der Grundlage des Universalismus und der Allgemeingültigkeit und Nichtrelativierbarkeit der Menschenrechte geben: „Kulturen sind weder isoliert noch statisch, sondern interagieren miteinander“ (Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt, Bonn 1997, S. 24). Die Gleichwertigkeit von kulturellen Identitäten und Darstellungen macht es notwendig, Kontakte und Begegnungen auf der Grundlage des Bewusstseins von der gleichberechtigten menschlichen Zusammengehörigkeit zu realisieren. Die internationale Diskussion über den Kulturbegriff und die konkreten Ausprägungen zum kulturellen und interkulturellen Bewusstsein hat im Laufe der Jahrzehnte zu zahlreichen, von der Kulturorganisation der Vereinten Nationen (UNESCO) initiierten und dokumentierten Aktivitäten geführt; etwa, wenn es bei der Weltkonferenz über Kulturpolitik (1970) heißt: „Die Kultur soll das ganze Wesen der Völker umfassen, Lebensart und Produktionsformen, Wertbegriffe, Meinungen und Glaubensrichtungen“; oder wenn mit der 1972 gegründeten Konvention zum Schutz des Kultur- und Naturerbes darauf aufmerksam gemacht wird, dass „das Kulturerbe ( ) nicht nur aus der Summe der Kulturdenkmäler (besteht), sondern auch aus der kraftvollen und vitalen Gesamtheit der menschlichen Schöpfung“.
Wenden wir nun diese Prämissen auf die Wirklichkeiten und Wirkungen des Massentourismus an, bedarf es keines besonderen Erstaunens, dass es notwendig ist, Aufmerksamkeit auf die Entwicklungen dieses mächtigen Prozesses „im Zeitalter des Massentourismus“ zu lenken. An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg wird vom Zentrum für Interdisziplinäre Regionalstudien (ZIRS) der sozialanthropologischen und ethnologischen Forschung eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Zum Thema „Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus“ wurde vom 3. – 5. 2. 2011 ein internationales Symposium durchgeführt; und bei der 34. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde vom 14. – 17. 9. 2011diskutierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Aspekte „Kultur all inclusive. Konsum und Vermarktung kultureller Aspekte im Tourismus“. Der Ethnologe und Direktor des Zentrums ZIRS, Burkhard Schnepel, der Ethnologe und wissenschaftliche Mitarbeiter Felix Girke und die an der Universität in Wien lehrende Völkerkundlerin und Frauen- und Geschlechterforscherin, Eva-Maria Knoll, geben den Sammelband mit den Einzelbeiträgen der Veranstaltungen heraus.
Aufbau und Inhalt
Im Vorwort „Drohung und Verheißung“, setzen sich Felix Girke und Eva-Maria Knoll mit dem „Wechselspiel von Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus“ auseinandersetzen: „Die im touristischen Schatten stattfindende Imagination und Antizipation ist aber keinesfalls nur projektiv; sie wirkt zugleich transformativ nach innen“. Bei den nachfolgenden Beiträgen handelt es sich überwiegend um konkrete Fallbeispiele über Wahrnehmungen und Wirkungen der Einflüsse von Tourismus auf etablierte und sich verändernde Kulturen in Europa (Deutschland und Schweiz), im Nahen Osten (Israel und Jordanien), in Afrika (Marokko, Namibia, Senegal), in Ozianien (Papua-Neuguinea), Nordamerika und Inselwelt des Indischen Ozeans (La Réunion); aber auch die Nachschau über die Innovations-, Diskussions- und Entscheidungsprozesse in der UNESCO-Welterbekommission.
Mit dem Beitrag „Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus“ unternimmt Burkhard Schnepel eine programmatische Einführung in die Thematik. Er arbeitet heraus, wie „sich die Ware Kulturerbe von anderen Waren des globalen kapitalistischen Marktes“ unterscheidet. Er mahnt eine „innovative Ausweitung und Vertiefung der lange Zeit hauptsächlich auf Management-Fragen, Marktanalysen und wirtschaftlichen Faktoren fokussierten Tourismusforschung um kulturelle, soziale und historische Dimensionen“ an.
Die an der Universität Göttingen lehrende Kulturanthropologin und Europäische Ethnologin, Regina Bendix, vermittelt mit ihrem Beitrag „Dynamiken der In-Wertsetzung von Kultur(erbe)“ einen historischen Überblick über Akteure und Kontexte in den Auseinandersetzungen der Entwicklung des Schützens und Bewahrens von Kulturgütern und -eigenschaften. Mit Fallbeispielen aus der Schweiz zeigt sie Wirkungen und Prozesse auf, die trotz vieler aktueller Irritationen und Konfliktsituationen doch Anlass für die Erwartung seien, In-Wertsetzungsprozesse als gemeinsame Herausforderung in einer multikulturellen Gesellschaft zu verstehen.
Der Anthropologe David Picard setzt sich mit seinem Text „Die ganze Welt auf einer Insel“ damit auseinander, wie Tourismus- und Werbeslogans Auffassungen, Einstellungen und Leitbilder idealisieren, projizieren, inszenieren und lenken. Den positiven Entwicklungen und Zeitlichkeiten stellt er negative Auswirkungen gegenüber; und die „Kreolität“ als eine Antwort der Réunionesen auf die Tourismusherausforderungen.
Der Berliner Historiker, Soziologe und Philosoph Hasso Spode nimmt mit seinem Beitrag „Homogenisierung und Differenzierung“ Stellung zur „Ambivalenz touristischer Chronotopie-Konstitution“. Mit seiner Zeitreise verdeutlicht der Autor die Entwicklungen vom seelisch-motivierten Raum- und Erfahrungskonsum, über zivilisationskritisch-romantische Impulse, bis hin zu Fluchtmotiven von einer hektischen Zivilisation und zu kulturkritischen und freiraum-denkerischen „Hier-bin-ich-Mensch-hier-darf-ich?s-sein“- Einstellungen.
Der an der Universität Erlangen tätige Humangeograf Thomas Schmitt informiert über die „Governanz des Outstanding Universal Value“ über Strukturen und Entscheidungen bei den globalen Verhandlungen der UNESCO-Welterbeliste. Interessant dabei, dass der verliehe Titel als Welterbestätte und immaterielles Erbe in der Konvention nur am Rande als „tourismusrelevant“ betrachtet wird; vielmehr geht es um langfristige Schutz- und Erhaltungsaspekte des kulturellen menschlichen Schaffens.
Die Wiener Ethnologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin Ingrid Thurner berichtet als freie Mitarbeiterin von Tourismus-Unternehmen über „Tourismuslandschaften – Sehenswürdigkeiten – Menschen“. Sie benutzt die Akteur-Netzwerk-Theorie (vgl. dazu: Jos Schnurer, in: Berliner Literaturkritik vom 11. 4. 2008), um die Zusammenhänge von Aufmerksamkeit, Akzeptanz und Vollzug bei Tourismusbetreibern und -konsumenten zu verdeutlichen.
Der wissenschaftliche Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle/Saale, Joachim Görlich, formuliert mit seinem Beitrag „Wa(h)re Kultur“ seine Eindrücke und Analysen zum „Kalam-Kulturfestival“ im nördlichen Hochland von Papua-Neuguinea. Dabei arbeitet er die Prozesse der Kommerzialisierung („Kommodifizierung“) heraus, die sich gleichzeitig als (neue und wiederentdeckte) Aneignung von Traditionen und Kulturen darstellen.
Die Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Ethnologie und Kulturanthropologie der Universität Konstanz, Anna Hüncke, berichtet über die „Tourist Bubble des San-Projektes ‚Treesleeper Camp‘ in Tsintsabis, Namibia“. Sie diskutiert die unterschiedlichen Bilder und Einstellungen, die von den Einheimischen als Akteure (und Profiteure) und den Touristen als Zuschauer vorhanden sind und sich verändern. Die organisierte (Paket-/“Blase“) Form der Präsentation und Teilnahme an (fremd-)kulturellen Veranstaltungen macht es notwendig, in zwei Richtungen zu fragen: Welche Eindrücke und Erfahrungen nehmen die Touristen bei der überwiegend einmaligen Teilnahme an Anschauungs- und Vorführprojekten mit? Und: Welche Wirkungen und Veränderungsprozesse vollziehen sich bei den „Vorführern“ von laufend produzierten Zurschaustellungen?
Der Museumsethnologe und wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Ethnologie der Goethe-Universität in Frankfurt/M., Markus H. Lindner, geht mit seinem Beitrag „Sharing and Protecting“ auf den Umgang mit Chancen und Risiken des Tourismus in nordamerikanischen Indianerreservaten ein. In seiner historischen Betrachtung zeigt er die Entwicklung hin zur Tourismusteilhabe der indigenen Bevölkerung auf und stellt die vielfältigen Formen der aktiven Teilnahme, aber auch die Risiken von Vermarktungs- und Verfälschungstendenzen auf.
Der an der Bayreuth International Graduate School of African Studies tätige Ethnologe, Georg Materna, berichtet mit seinem vieldeutigen Text „Die Leute hinter den Masken“ über Kleinunternehmer und die Kommerzialisierung von Kultur im senegalesischen Tourismus“. Er thematisiert die historische Entwicklung auf dem Souvenir-, Kunstgewerbe- und Tourismusmarkt und stellt anhand von mehreren Fallbeispielen Erfolge und Misserfolge, Tendenzen und Entwicklungen im Senegal heraus; durchaus exemplarisch zu übertragen auf andere Plätze in der Tourismusbranche in Afrika und anderswo.
Die Ethnologin Anja Peleikis vom Berliner Zentrum Moderner Orient und der Soziologe von der Ben Gurion University im israelischen Beerscheba, Jackie Feldman, beschließen den Sammelband mit ihrem Beitrag „Der Shop als Spiegel des Museums“, indem sie über Ausstellungsobjekte, Souvenirs und Identitätspraktiken im Jüdischen Museum Berlin und im Yad Vashem, Israel reflektieren. Die unterschiedlichen Funktionsbestimmungen und Identifikationsverortungen der beiden Museen – hier „trendiges In-Museum“, dort nationale Gedenkstätte für die jüdischen Opfer des Holocaust – vermitteln zwangsläufig differenzierte Zugangs- und konsumtive Verhaltensweisen.
Fazit
Die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen über Entwicklungen und Folgen des Massentourismus dürfen, das verdeutlichen die einzelnen Beiträge und die Darstellung der Praxisbeispiele, nicht stehen bleiben bei euphorischen, ökonomischen und idealisierten Freiheits- und Freizügigkeitserwartungen; sie sollten sich aber auch nicht beschränken auf einseitige und ideologisch bestimmte Kritik an den Phänomenen des Massentourismus. Vielleicht kommt es dabei zur Einsicht: „Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche“ (F. W. Bernstein) und zur Fähigkeit, in der wissenschaftlichen Forschung Pro und Contra konstruktiv in den Diskurs einzubringen. Obwohl keine erkennbare Systematisierung der Thematiken im Sammelband deutlich wird, bieten die einzelnen Beiträge doch Zugänge zu den vielfältigen Formen und Entwicklungen im Tourismusgeschäft und zur Tourismusforschung an.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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