Nina Degele: Fußball verbindet - durch Ausgrenzung
Rezensiert von Matthias Meitzler, 14.01.2014

Nina Degele: Fußball verbindet - durch Ausgrenzung. Springer VS (Wiesbaden) 2013. 225 Seiten. ISBN 978-3-531-18620-7. D: 39,99 EUR, A: 41,07 EUR, CH: 50,00 sFr.
Thema
Wenn es um Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit geht, scheint der Sport, und insbesondere der Teamsport Fußball ein besonders prädestinierter Bereich des sozialen Lebens zu sein. Vor allem im Kontext von Welt- und Europameisterschaften ist nicht selten sogar von „Völkerverständigung“ die Rede. Anhänger einer Fußballmannschaft zu sein, oder gar selbst mit anderen in einer solchen zu spielen, stellt sich auf den ersten Blick als eine Passion mit hohem Verbundenheitscharakter dar. Dennoch ist das eine ohne das andere offenbar nicht zu haben: Es gibt immer auch jene Akteure, die aufgrund bestimmter Merkmale ausdrücklich nicht dazugehören, die draußen bleiben und über deren „Andersartigkeit“ die Grenzen zwischen Eigen- und Fremdgruppe ausgemacht werden. Zur Entfaltung einer sozialen Identität, über die sich Gruppen konstituieren und zusammen gehalten werden, zählt eine kategoriale Unterscheidung zwischen „Wir“ und den „Anderen“ – ganz nach der Devise: „Wir wissen wer wir sind, wenn wir wissen, von wem wir uns zu unterscheiden haben“ (9). Am Beispiel des Fußballs und damit zusammenhängenden Diskursen wie u. a. Heteronormativität, Stereotypisierung, Gewalt, Rassismus, Sexismus oder Homophobie knüpft die vorliegende Studie von Nina Degele an diese These an, indem sie das Feld hinsichtlich seiner mal sehr deutlichen, und mal eher subtilen Mechanismen der Ein- und Ausgrenzung kritisch unter die Lupe nimmt. Im Vordergrund steht „eine Erschütterung des so unerschütterlichen Glaubenssatzes ,Fußball verbindet‘“ (21).
Autorin
Nina Degele ist Professorin am Institut für Soziologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Wissens- und Techniksoziologie, der Soziologie des Körpers und des Sports, der qualitativen Methodologie sowie der Gendertheorie und den Queer Studies.
Entstehungshintergrund
Das Buch basiert auf einer von der Friedrich-Ebert-Stiftung geförderten Studie über Körpertabuisierung, Sexismus und Homophobie im Fußball, die die Autorin mit ihrem Mitarbeiterteam über mehrere Jahre durchgeführt hat.
Aufbau
Der knapp 200 Seiten starke Band besteht aus insgesamt acht Kapiteln, die ihrerseits in je drei Abschnitte gegliedert sind.
Inhalt
Die kompakteste Zusammenfassung des Buches liefert wohl bereits dessen Titel. Das sich dahinter verbergende Potenzial des Themas, zunächst: „was Fußballhandeln ausmacht“ (183), und daran anschließend: die vielschichtigen „Prozesse und Mechanismen der Ein- und Ausgrenzung als Kämpfe um Teilhabe“ (14), sind Gegenstand der nachfolgenden Kapitel und werden dort einer systematischen Analyse unterzogen. Die Autorin führt ungleichheits- und anerkennungstheoretische Konzepte in die Arena des Fußballs. Wie gelingt dort überhaupt Vergemeinschaftung, wie konstituieren sich die „kontrollierten“ Emotionen im Stadion? Auf welche Art und Weise werden Dimensionen des Andersseins – wie etwa Geschlecht, sexuelle Orientierung, Hautfarbe, Ethnie, Nationalität, Religion, Alter oder Gesundheit – konstruiert, inszeniert und stilisiert? Auf welchen Ebenen wirken sie aufeinander und welche Herrschaftsverhältnisse spielen bei der sozialen Positionierung, der Zuordnung von Status und Anerkennung, eine Rolle? Kurzum: „Wer gehört aufgrund welcher Kriterien zur Welt des Fußballs“ (10) – und wer nicht?
U. a. geht es also auch darum, zu klären, „wofür die Angst vor homosexuellen Irritationen des heteronormativen Normalbetriebs im Fußball steht, warum Frauen im Fußball ganz selbstverständlich unter den Verdacht geraten, lesbisch zu sein, wie die Strukturkategorien Geschlecht und Sexualität dabei wechselwirken, welche modulierenden oder konstituierenden Funktionen Hautfarbe/Ethnizität/Nationalität und Alter dabei spielen“ (27). Das zu untersuchende Feld umfasst sowohl den Profi- als auch den Amateurfußball, es schließt formelle sowie informelle Ungleichbehandlung mit ein. In Anlehnung an Pierre Bourdieu greift die Autorin bei ihren theoretischen Annäherungen u. a. auf das Konzept der symbolischen Gewalt zurück: Herrschaftsverhältnisse werden als harmlos verkannt und daraus resultierende Benachteiligungen als solche nicht erkannt, sondern – sogar unter aktiver „Mittäterschaft“ der benachteiligten Akteure selber – performativ reproduziert. In den theoretischen Rahmen eingeflochten ist ebenso das auf Wilhelm Heitmeyer zurück gehende „Konzept gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ (54). Von letzterer sei immer dann die Rede, wenn Personen aufgrund von selbst ausgesuchten oder zugeschriebenen Gruppenzugehörigkeiten als ungleichwertig etikettiert werden und ihnen deshalb mit einer feindseligen Gesinnung gegenüber getreten wird.
Empirische Grundlage der Forschungsarbeit bildet die Analyse von bildgestützten Gruppendiskussionen, mit deren Hilfe sich die Autorin eine Annäherung an die oben genannten Konstruktionen verspricht. Es handelt sich um 24 Gruppen, die aus insgesamt 177 Diskutanten bestehen und sich hinsichtlich mehrerer Faktoren unterscheiden: Geschlecht, Nähe zum Fußball, Alter, sexuelle Präferenz, soziale Lage, Ethnie, Gesundheitsstatus. Die Diskussionen erhalten ihre Impulse durch die Darbietung von acht Bildern als visuelle Stimuli, die unterschiedliche Szenarien im Kontext des Fußballsports zeigen, und die allesamt auf ihre Weise das gemeinsame Thema Körperlichkeit (bzw. dessen Tabuisierung) tangieren. In dieser Methode sieht die Autorin ein Verfahren, das „erstens die soziale Gebundenheit von AkteurInnen nutzt und zweitens diesen möglichst wenig in den Mund legt“ (21). Ziel ist, und hier kommt erneut Bourdieu ins Spiel, die Rekonstruktion von inkorporierter Gesellschaft, also das Sichtbarmachen von zunächst unsichtbaren sozial geteilten Wissensbeständen und Sinngehalten, denn das Handeln von Akteuren weist stets mehr Sinn auf, als es ihnen bewusst ist. Indem sich die Gesprächsteilnehmer positionieren, liefern sie manifeste, aber auch subtile Hinweise auf Selbst- und Rollenbilder, Stereotype, Distinktionen, Kategorienkonstruktionen bis hin zu Diskriminierungen. Bei der Auswertung ihres Materials folgt die Verfasserin im Rahmen der rekonstruktiven Sozialforschung den Schritten der dokumentarischen Methode. Das methodologische Vorgehen wird um die Auswertung von massenmedialen Berichterstattungen und weitere inhaltsanalytische Verfahren ergänzt.
Während man innerhalb der Gruppendiskussionen hinsichtlich der Kategorien Nationalität und Ethnizität um political correctness redlich bemüht ist, werden in Bezug auf Homosexualität einerseits unterschiedliche Strategien erkennbar, um das mit „Unsicherheiten, Ängsten, Verdrängungen und Feindseligkeiten“ (83) behaftete Thema zu umschiffen. Andererseits offenbart sich gerade hier ein „beeindruckendes Sammelsurium von Tabus, Klischees und offenen Beleidigungen“ (189). Nicht nur der rhetorische Umgang mit homosexuellen und ausländischen Spielern ist exemplarisch zu nennen, sondern insbesondere auch die auf einer Naturalisierungssemantik beruhende Differenzierung zwischen Fußball und Frauenfußball, bei der letzteres als etwas vom ersteren Abgeleitetes Unvollständiges erscheint. Solche und andere Ungleichheitsfaktoren werden bezüglich ihrer Relevanz für Inklusion und Exklusion beleuchtet; es liegt eine „Hierarchie von Diskriminierungen“ (185) vor, wo unterschiedlichen Ausgrenzungsformen eine je unterschiedliche Bedeutung zukommt und sie deshalb unterschiedlich verhandelt, d. h. auch: unterschiedlich stark tabuisiert werden. Einzelne Strukturmerkmale werden jedoch nicht nur isoliert voneinander betrachtet; vielmehr betont die Verfasserin ihre „intersektionale Verwobenheit“ (144) mit anderen Kategorien, wodurch Diskriminierung vermindert sowie verstärkt werden kann – oder gar erst zustande kommt. Ein Mehrebenenmodell im letzten Kapitel demonstriert mögliche „Verschiebungen, Konvertierungen und Kompensationen“ (191) von Ungleichheitsdimensionen durch die Wechselwirkungen der drei Ebenen Identität, Repräsentation und Struktur im Feld sozialer Praktiken.
Diskussion
Ohne seine klare Linie zu verlieren, bietet der Band umfassende Auseinandersetzungen mit zahlreichen Diskursen und Exkursen rund um Themenfelder wie die soziale Konstruktion von Ungleichheit, Sozialpsychologie, Geschlechterforschung, Queer Studies und viele weitere.
Degeles Buch fällt vor allem durch sorgfältige Recherchen und Analysen auf, bei denen durchdachte theoretische Überlegungen auf fundierte empirische Nachforschungen treffen. Neben historischen Rückblicken (es erfolgt beispielsweise ein Abriss der Geschichte des Frauenfußballs) werden auch aktuelle Geschehnisse und Debatten aufgegriffen. Der Leser wird zum reflektierten Nachdenken eingeladen (obschon manche Ausführungen doch etwas überkritisch ausfallen), was zugleich den Anreiz liefert, einige im medialen Binnenraum transportierte Darstellungen des Fußballs mit all den dazugehörigen Semantiken nach der Lektüre aus einer anderen, weniger affirmativen Perspektive zu betrachten.
Ganz ohne Voraussetzungen ist das Buch nicht in jedem Abschnitt vollends nachvollziehbar und ist aus diesem Grund eher fortgeschrittenen Studierenden zu empfehlen. Andererseits erweist sich gerade der reflektierte Umgang mit dem anhand der Gruppendiskussionen generierten Material als lehrreich für das Studium der qualitativen Methoden, sofern es etwa darum geht, zu verstehen, dass die Gruppenmeinung „keine Summe von Einzelmeinungen“ (23) ist, oder wenn generell gefragt werden soll, was die Diskutanten „zwischen den Zeilen“ ausdrücken, und welche Normalitätserwartungen sie dabei hegen. Und dennoch ist die Schilderung des methodischen Vorgehens nicht lückenlos. Zwar erfährt der Leser vieles über die Auswahl und Interpretation der eingesetzten Bilder, gerne hätte man aber darüber hinaus auch gewusst, welche Wege beschritten wurden, um die Diskutanten zu akquirieren (außer, dass sich diese schlichtweg „bereit gefunden“ haben; 23) und welche Kriterien erfüllt werden mussten, um an der Studie zu teilzunehmen (außer, dass sie in irgendeiner Form mit Fußball zu tun haben).
Auch wenn (oder gerade weil!) der Band etliche Ausgrenzungsfacetten, nicht nur im Fußballsport, aufgreift, und somit die beeindruckende Reichweite der Thematik erkennen lässt, muss die Ausklammerung anderer Aspekte doch ein wenig überraschen. Große Aufmerksamkeit kommt der Diskriminierung von Frauen in der „Männerdomäne“ Fußball zu, was zu einer Degradierung des Frauenfußballs insgesamt führe. Nicht thematisiert wird hingegen das Pendant, bei dem Männer „weiblich konnotierten“ Sportarten nachgehen. Angesichts der zentralen Rolle, die dem Körper „als Träger von Leistungsfähigkeit schlechthin“ (15) in den Überlegungen der Autorin zukommt, ist es geradezu erstaunlich, dass neben den im Buch thematisierten Ungleichheitsinsignien ausgerechnet der Behindertensport nicht mit einbezogen wird. Nicht minder bedauerlich erscheint im Kontext des Leistungsaspektes zudem, dass das Thema Depression unerwähnt bleibt. Das ist auch insofern bemerkenswert, als es an jüngeren Beispielen allein aus dem deutschen Profifußball keineswegs mangelt. Erinnert sei vor allem an den Freitod des Nationaltorhüters Robert Enke 2009, der zumindest zeitweise einen breiten öffentlichen Diskurs über Depression im Profifußball auslöste, in dessen Zuge auch das „Outing“ des Spielers Andreas Biermann fiel – ein Schritt, den er, nach eigener Aussage, im Nachhinein bereute. Von seinem damaligen Arbeitgeber FC St. Pauli erhielt Biermann keinen Vertrag mehr und konnte bis heute nicht mehr im Profigeschäft Fuß fassen. Ein anderes Beispiel ist der Fall des Bundesliga-Schiedsrichters Babak Rafati, der aufgrund einer depressiven Erkrankung 2011 einen misslungenen Selbstmordversuch unternahm und wenige Zeit später seinen Rücktritt bekannt gab. Nähere Ausführungen darüber, inwieweit Depression mit gesellschaftlich verankerten Bildern etwa von Maskulinität und – damit zusammen hängend – mit Leistungsvermögen zu vereinbaren ist und welche Ausgrenzungserlebnisse dabei entstehen können, wären gewiss aufschlussreich gewesen. Gleichwohl ist natürlich auch zu berücksichtigen, dass es der Verfasserin, wie sie anfangs betont, in ihrer Studie primär um die Triade Homophobie-Sexismus-Rassismus geht.
Zuletzt sind noch die vielen aufgeführten Zitate aus den Gruppendiskussionen hervorzuheben, wodurch das Buch an Anschaulichkeit und Lebendigkeit gewinnt.
Fazit
Trotz weniger Einschränkungen eine kritische, detailliert recherchierte Arbeit, der es gelungen ist, umfangreiche theoretische Überlegungen und empirische Erkenntnisse in einem spezifischen Feld der sozialen Wirklichkeit zusammenzuführen – und die dadurch eine erweiterte Perspektive ermöglicht.
Rezension von
Matthias Meitzler
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