Claudia Pinl: Freiwillig zu Diensten
Rezensiert von Dr. phil. Hubert Kolling, 05.11.2013

Claudia Pinl: Freiwillig zu Diensten. über die Ausbeutung von Ehrenamt und Gratisarbeit. Nomen (Frankfurt) 2013. 144 Seiten. ISBN 978-3-939816-18-8. D: 14,90 EUR, A: 15,40 EUR, CH: 21,90 sFr.
Thema
Ehrenamtliche Arbeit steht derzeit hoch im Kurs. Während hierbei für gewöhnlich, vor allem von Seiten der Politik und den entsprechenden Einsatzstellen, ein überaus positives Bild gezeichnet wird, gibt es aber auch – eher vereinzelt – kritische Stimmen. Zu ihnen gehört Claudia Pinl mit ihrem Buch „Freiwillig zu Diensten?“, in dem sie „Über die Ausbeutung von Ehrenamt und Gratisarbeit“ berichtet.
Autorin
Claudia Pinl (Jahrgang 1941) studierte Politikwissenschaft in den USA mit Abschluss als Diplom-Politologin an der Freien Universität Berlin. 1968 erhielt sie ihre erste Stelle als Redakteurin der „Gewerkschaftlichen Monatshefte“, die der DGB-Bundesvorstand in Düsseldorf herausgab. Es war die Zeit der „Außerparlamentarischen Opposition“ und bald auch der Frauenbewegung, bei der die Autorin aktiv mitwirkte. In den siebziger Jahren war sie „feste“ und „freie“ Hörfunk-Mitarbeiterin, hauptsächlich für den WDR mit dem Schwerpunkt „Frauenerwerbsarbeit“. Nach einem Intermezzo als Bonner Korrespondentin der „taz“ folgten fünf Jahre als Fraktionsreferentin der Grünen im Bundestag, zuständig für den „Arbeitskreis Frauenpolitik“ und dort wiederum für den Bereich „Erwerbsarbeit und Nichterwerbsarbeit von Frauen“. Seither ist Claudia Pinl als Dozentin, Journalistin und Buchautorin tätig. Zudem bietet sie Vorträge, Texte und Input aller Art zu Themen wie: Frauenpolitik, Gender Mainstreaming, Geschichte der Frauenbewegung, Feminismus, Berufsorientierung, Girls Day, Boys Day, Internationaler Frauentag, Ehrenamt, Freiwilligendienste, Zivilgesellschaft, Gender Aspekte in allen Politikfeldern, Vereinbarkeit Beruf-Familie, Neokonservatismus, Frauenemanzipation und Religionsfreiheit an, ebenso wie Recherchen und Texterstellung auf den Gebieten: Sozialpolitik, Frauenpolitik, Berufsorientierung, Zivilgesellschaft, Engagementpolitik, Feminismus, Geschlechterdifferenz und Geschlechtergleichheit.
Claudia Pinl, „mittlerweile so etwas wie eine Veteranin der Frauenbewegung“ (vgl. www.lespress.de/012001/texte012001/pinl.html), publizierte zahlreiche Beiträge in kritischen Fachzeitschriften, darunter „Blätter für deutsche und internationale Politik“, „Neue Gesellschaft, Frankfurter Hefte“, „Gewerkschaftliche Monatshefte“, „Vorgänge“ und „Courage. Berliner Frauenzeitung“. Zu ihren Veröffentlichungen gehören: „Ehrenamt. Neue Erfüllung, neue Karriere. Wie sich Beruf und öffentliches Ehrenamt verbinden lassen; Möglichkeiten, Wege, Perspektiven“ (Regensburg 2010) (vgl. eine Rezension unter: www.socialnet.de/rezensionen/10680.php), „Das Biedermeier-Komplott. Wie Neokonservative Deutschland retten wollen“ (Hamburg 2007), „Gender Mainstreaming. Geschlechtergerechtigkeit in der Landespolitik Nordrhein-Westfalens; eine Publikation des Landtags Nordrhein-Westfalen“ (Düsseldorf 2003), „Männer lassen arbeiten. 20 faule Tricks, auf die Frauen am Arbeitsplatz hereinfallen“ (Frankfurt am Main 2002), „Männer können putzen. Strategien gegen die Tricks des faulen Geschlechts“ (Frankfurt am Main 1997), „Das faule Geschlecht. Wie die Männer es schaffen, Frauen für sich arbeiten zu lassen“ (München 1995), „Vom kleinen zum großen Unterschied. ‚Geschlechterdifferenz‘ und konservative Wende im Feminismus“ (Hamburg 1993), „Das Arbeitnehmer-Patriarchat. Die Frauenpolitik der Gewerkschaften“ (Köln 1977).
Aufbau
Nach der Einleitung gliedert sich das Buch in die folgenden zehn Kapitel:
- Wie alles anfing
- Ehrenamtliche, Engagierte, Freiwillige – wer sie sind
- Kommune, Schule, Krankenhaus – wie Ehrenamtliche den Betrieb in Gang halten
- Die Goodwill-Industrie
- Die unverzichtbare PR-Masche: „Corporate Social Responsibility“
- Meinungsmache
- Gemeinnützig – oder einfach nur gemein? Engagement und Arbeitsmarkt
- Miese und Millionen – Armut, Reichtum, Engagement
- Spenden – Brot der Armen
- Denn sie sollen wissen, was sie tun.
Inhalt
Ausgehend vom „Ehrenamtstag 2012“ stellt Claudia Pinl einleitend einige Beispiele von Ehrenamtlichem Engagement vor um festzustellen, dass es kaum jemand wagt, dieses freiwillige Engagement zu hinterfragen. Zum Beispiel mit dem Einwand, dass Kinder- und Jugendarbeit, die Einrichtung und Pflege von Spielplätzen oder die schulische und universitäre Bildung Gemeinschaftsaufgaben seien, die beruflicher Kompetenz und Stetigkeit bedürfen, statt sie der wohlwollenden, freiwilligen Arbeit Ehrenamtlicher oder dem Spendenwillen der Bürger zu überlassen. Sodann hält sie wörtlich fest: „Es stimmt, es gibt eine große Bereitschaft zum Engagement in der Bevölkerung. Und dass Menschen, die sich für andere einsetzen, viel zurückbekommen, wird niemand bestreiten. Ärgerlich aber ist die Selbstverständlichkeit, mit der von allen möglichen Seiten, nicht zuletzt von den politisch Verantwortlichen, unser aller Selbstlosigkeit eingefordert wird“ (S. 8).
Nach Ansicht der Autorin sind „Zivilgesellschaft“, „Engagement“, „Bürgersinn“ und „Freiwilligenarbeit“ in Deutschland hehre Begriffe, die auf ihre politische Bedeutung hin abzuklopfen so „gut wie tabu“ sind. Man käme sich schon sonderbar vor – „ein bisschen von gestern, ein bisschen asozial“ – wenn man daran erinnere, dass Bildung, Kultur, kommunale Infrastruktur und soziale Sicherung öffentliche Aufgaben sind, die mit Steuergeldern finanziert werden müssen, unter anderem deshalb, um Arbeitsplätze zu erhalten. Besonders ärgert es Claudia Pinl, dass angesichts zahlreicher Probleme in unserer Gesellschaft immer nur eine Seite der Medaille beleuchtet wird. So werde etwa über die Ebbe in den öffentlichen Kassen geklagt und das durch Engagement zu generierende „soziale Kapital“ beschworen, um die Versorgungslücken zu füllen, nicht aber darauf hingewiesen, dass die Kluft zwischen Arm und Reich beständig wächst. Und arm seien nicht nur die armen Teile der Bevölkerung (rund ein Fünftel), sondern auch der Staat, der sich – durch Steuer-„Reformen“ zugunsten von Unternehmen und Reichen – in den letzten zwanzig Jahren erfolgreich selber die Grundlagen für die Finanzierung von Sozialem, Kultur und Bildung beschnitten habe. Und nun sollten wir Bürgerinnen und Bürger es richten.
Obwohl bereits 23 Millionen Menschen, rund ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung, sich in der Bundesrepublik in kleinem oder großem Umfang ehrenamtlich engagieren, würde das anscheinend aber nicht ausreichen: „Denn die Werbetrommel wird mächtig gerührt. Ehrenamtstage, Ehrenamtspreise, Wochen des bürgerschaftlichen Engagements, nationale und internationale ‚Jahre der Freiwilligenarbeit‘ lösen einander ab, begleitet von einer Wissenschaftsarmada, die ständig in ‚Freiwilligen-surveys‘ und ähnlichen Untersuchungen den Engagementwillen der Deutschen beforscht“ (S. 10).
Nach Ansicht der Autorin soll durch vermehrtes praktisches Engagement, sprich: Gratisarbeit in Schulen, Kitas und Büchereien, in Krankenhäusern, auf Spielplätzen, an Museumskassen, bei der Grünpflege und in Schwimmbädern, der Mangel an Pflegekräften, Erzieherinnen und kommunalen Bediensteten kompensiert werden. Nicht so gern rede man darüber, dass ein Großteil der eingeforderten und geleisteten Gratisarbeit den vielen gering qualifizierten Langzeitarbeitslosen auch noch die letzten Reste an Beschäftigungsmöglichkeiten in einfachen Tätigkeiten wegnimmt.
„Bürgersinn und Bürgerengagement als Lösung aller gesellschaftlichen Probleme, oder wenigstens vieler?“ Vor dem Hintergrund dieser Frage beleuchtet Claudia Pinl in ihrem Buch „Freiwillig zu Diensten?“ nicht nur „Aspekte der real existierenden ‚Bürgergesellschaft‘“, sondern beschäftigt sich auch mit den Interessen derjenigen, die sie propagieren. Unmissverständlich weist sie darauf hin, dass es ihr dabei nicht darum geht, das Potential, das in ehrenamtlicher Betätigung liegt, zu leugnen oder die positiven Seiten selbstlosen Engagements herabzusetzen. Ihr Anliegen sei vielmehr, „die ständigen Appelle an unsere Hilfsbereitschaft und Verantwortung in Beziehung zu setzen zum Abbau sozialer Sicherheit, zur Privatisierung und Kommerzialisierung von Pflege und Gesundheit, zur finanziellen Austrocknung der Kommunen, zur Unterfinanzierung von Kultur und Bildung, zur Vermögenskonzentration und zu wachsender Armut, kurz: zur Umgestaltung von Staat und Gesellschaft zugunsten weniger, auf Kosten vieler“ (S. 11).
In ihrer Darstellung, die sich in zehn Kapitel unterteilt, ruft die Autorin zunächst die Einführung des Systems sozialer Sicherung in Erinnerung, ebenso wie dessen Entwicklung von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart („Wie alles anfing“). In diesem Zusammenhang erinnert sie daran, dass es einmal einen deutschen Sozialstaat gab, der Armen und in Not geratenen Menschen unter die Arme griff, Sozialhilfe oberhalb der Armutsgrenze zahlte, Arbeitslose in ABM-Stellen [Arbeits-Beschaffungs-Maßnahmen] vermittelte, durch Steuereinnahmen dafür sorgte, dass öffentliche Gebäude und Einrichtungen in Schuss gehalten wurden, Bahnen und Busse auch in ländlichen Gebieten verkehrten und Leute mit Gipsbein auf Kassenkosten im Taxi zur Arztpraxis fahren konnten. Inzwischen sei Freiwilligen-Arbeit zur kostbaren, möglichst zu vermehrenden Ressource und ihre Förderung zum wichtigsten politischen Anliegen erklärt worden, weil sich durch ihre Nutzung gleich zwei der dringlichsten Probleme lösen ließen: Zum einen werde Freiwilligen-Arbeit die durch den Abbau öffentlicher Dienste und die Einsparungen im Sozialsystem entstandenen Lücken füllen und so zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen, zum anderen vermittle die selbstbestimmte Freiwilligen-Tätigkeit im Dienste des Gemeinwohls den (Erwerbs-) Arbeitslosen neue Identität und neuen Sinn.
Unter der Überschrift „Ehrenamtliche, Engagierte, Freiwillige – wer sie sind“ stellt Claudia Pinl die Ergebnisse von zahlreichen neueren Umfragen und Gutachten über die Struktur des Engagements in Deutschland und die Motive der Engagierten vor. Unstrittig sei, dass die Freiwilligen-Arbeit in fast allen gesellschaftlichen Bereichen zur Funktionsfähigkeit des Ganzen beiträgt. Ohne die rund 23 Millionen Menschen, die sich in Deutschland ehrenamtlich, ohne Erwerbsabsicht, für andere einsetzen, wäre unsere Gesellschaft, so die Autorin, „nicht nur ein Ort großer sozialer Kälte“ – viele uns selbstverständlich erscheinende Einrichtungen und Dienstleistungen gäbe es nicht.
Nach der Darstellung verschiedener Beispiele ehrenamtlicher Arbeit („Kommune, Schule, Krankenhaus – wie Ehrenamtliche den Betrieb in Gang halten“) und deren Auswirkung auf den Arbeitsprozess beleuchtet Claudia Pinl auch „Die Goodwill-Industrie“ – ein Kranz unterschiedlichster Institutionen und Anbieter – die damit beschäftigt ist, die Philosophie des Helfens zu fördern, Freiwilligkeit und „Bürgersinn“ zu fordern, „Zivilgesellschaft“ und Spendenfreude anzuregen, zu vermitteln, zu begleiten, zu beforschen, zu propagieren und zu subventionieren. Demnach ist mittlerweile ein ganzer Wirtschaftszweig damit beschäftigt, den Engagementwillen der Bürgerinnen und Bürger zu wecken und ihn in entsprechende Freiwilligentätigkeit zu überführen. „Engagement wird nicht mehr dem Zufall überlassen, es bedarf des systematischen Managements, sein Einsatz muss planbarer als bisher gestaltet werden und berechenbar sein. Ressourcenmanagement, Koordinierung, Steuerung, Effizienz – diesen betriebswirtschaftlichen Kriterien ist zunehmend auch die Freiwilligenarbeit unterworfen“ (S. 63).
Im Kapitel „Die unverzichtbare PR-Masche: ‚Corporate Social Responsibility‘“ beschäftigt sich die Autorin mit der „sozialen Verantwortung von Unternehmen“, die seit der Jahrtausendwende in Deutschland mächtig im Aufschwung ist. Anhand einiger konkreter Beispiele zeigt sie auf, dass diese Art der Zusammenarbeit mittlerweile nicht mehr als preiswerte Werbemasche verstanden wird, sondern „Teil langfristiger, strategischer Planung, oft sogar in der Verantwortung der Vorstände oder der Chefs der konzerneigenen Stiftungen, mit Ziel, sich scheinbar uneigennützig in Szene zu setzen“ (S. 85).
Dass der Staat nicht mehr „alles“ richten kann, sondern wir Bürgerinnen und Bürger selbst „Hand anlegen“ müssen, ist für Claudia Pinl zur scheinbaren Selbstverständlichkeit geworden, nicht zuletzt dank einer „neoliberalen Dauerberieselung in Medien, Öffentlichkeit und Politik“, wie sie im Kapitel „Meinungsmache“ ausführt. Zugleich gelte es der „Goodwill-Industrie“ darum „Abwehrfronten aufzubauen“ gegen drohende Steuererhöhungen und Subventionsabbau, gegen Gerechtigkeitsforderungen und „Gerechtigkeitsansprüche, die einmal nicht nur ‚Chancengerechtigkeit‘ meinen, sondern auch Verteilungsgerechtigkeit einfordern“ (S. 92).
Wenngleich in der Theorie seitens der Meinungsmacher viel die Rede von der „aktiven Bürgergesellschaft“ sei, im Sinne der demokratischen Mitbestimmung über Prozesse und Inhalte wie auch das Einbringen innovativer Vorstellungen, erinnere sich Politik und Verwaltung in der Praxis erst an die „aktiven“ Bürger, wenn es mit den Kommunalfinanzen bergab geht. Die „Wutbürger“ am Stuttgarter Hauptbahnhof würden jedenfalls nicht als „Koproduzenten im System des gesellschaftlichen Bedarfsausgleichs“ betrachtet. „Demokratie“ und „Eigensinn“ stießen schnell an Grenzen, sobald der „Eigensinn“ der Bürger kommerziellen Interessen ins Gehege kommt. Mitbestimmungswünsche und Gestaltungspotential dürften sich dagegen gern an defizitären Bibliotheken und Schwimmbädern austoben.
Unter der Überschrift „Gemeinnützig – oder einfach nur gemein? Engagement und Arbeitsmarkt“ stellt die Autorin ein paar Beispiele derjenigen vor, die die „Nutzbarmachung ehrenamtlichen Engagements“ durch Staat und Wohlfahrtsverbände kritisieren. In diesem Zusammenhang thematisiert sie auch die angebliche „Arbeitsmarktneutralität“ ehrenamtlicher Tätigkeiten, ebenso wie die Rolle der „Bufdis“ (Bundesfreiwilligendienst-Leistende) und der „FSJler“ (Freiwilliges Soziales Jahr). Viele Tätigkeiten in den Freiwilligendiensten ebenso wie vieles andere, was unter ehrenamtlicher Tätigkeit mit Aufwandsentschädigung läuft, seien „de facto Jobs im Niedrigstlohnsektor“. Überwiegend würden sie verrichtet in Bereichen, die durch hohe Belastung, extremen Personalmangel und strukturelle Unterfinanzierung gekennzeichnet sind und in denen Gehälter ohne hin schmal ausfallen. So trägt auch der seit 2011 bestehende Bundesfreiwilligendienst (BFD) nach Ansicht von Claudia Pinl dazu bei, „die Grenzen zwischen ‚monetarisiertem Ehrenamt‘ und dem wachsenden Sektor prekärer Beschäftigung weiter zu verwischen“ (S. 116). Gerade in den ostdeutschen Bundesländern – wo sich aufgrund der weit über dem Durchschnitt liegenden Arbeitslosenquote besonders viele über 27-Jährige melden – sei der BFD eine „Alternative zur Arbeitslosigkeit“.
Von dem zersplitterten, völlig intransparenten Arbeitsmarkt mit Bufdis, FSJlern, Teilzeitkräften, Leiharbeitern, 450-Euro-Jobber unterhalb der Versicherungspflichtgrenze, Honorarkräfte, Praktikanten, Menschen mit „Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung“ (sogenannte Ein-Euro-Jobs), Ehrenamtliche mit und ohne „Aufwandsentschädigung“ würden alle profitieren, die traditionellen Träger von Einrichtungen und die neuen privaten Betreiber von Kliniken, wie Fresenius, Asklepios, Helios oder Rhönklinikum, nur nicht die dort Beschäftigten.
Bezugnehmend auf den aktuellen „Armuts- und Reichtumsbericht“ der Bundesregierung weist die Autorin im Kapitel „Miese und Millionen – Armut, Reichtum, Engagement“ darauf hin, dass die Deutschen immer reicher werden. Allerdings würden nicht alle in Deutschland lebenden Menschen reicher. Denn synchron mit der wunderbaren Geldvermehrung bei wenigen wachse die Zahl der Armen und von Armut Bedrohten. So verfügten nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zehn Prozent der Bevölkerung über zwei Drittel der Vermögenswerte. Gleichzeitig wachse parallel zum privaten Reichtum der Schuldenstand der öffentlichen Haushalte. „Sollte da etwa ein Zusammenhang mit der langjährigen Politik der Steuersenkungen bestehen?“ (S. 124). „Die Steuergesetzgebung der vergangenen Jahrzehnte hat die Reichen reicher gemacht, die Mittelschicht ausgedünnt und den Staat arm“ (S. 125). Dabei könnte man, so Claudia Pinl, die öffentliche Haushalte auf einen Schlag sanieren, wenn man nur ein Fünftel des Privatvermögens in Form eines „Lastenausgleichs“ einzöge. Wenn sich der Staat weiter arm spare, statt zum Wohle aller den Reichtum einiger höher zu besteuern, werde jedenfalls die Nachfrage nach Freiwilligen und Ehrenamtlichen weiter steigen, denn Bildungsetats sowie Kultur- und Sozialhaushalte würden weiter knapp gehalten, und ihre hauptamtliche Personaldecke dünn.
Indem der Staat auf „Sparmodus“ schaltet, generiere er, wie die Autorin im Kapitel „Spenden – Brot der Armen“ schreibt, einen hohen Bedarf an Freiwilligen, die Arbeit in Kultur, Bildung und Wohlfahrtseinrichtungen für lau erledigen. Weil der Staat die sozialen Netze kappe, die früher Armen, Alleinerziehenden, Arbeitslosen oder Kranken ein Leben in Würde ermöglichten, wachse im reichen Deutschland die Armut, und es entstünden weitere Betätigungsfelder für Freiwillige: Lebensmittel-Tafeln, Suppenküchen, Kleiderkammern, Sozialkaufhäuser. Mit kritischem Blick betrachtet Claudia Pinl hierbei beispielhaft die „Tafeln“ als das bekannteste „Geschäftsmodell der neuen Armutsökonomie“, weil sie ihres Erachtens dazu beitragen, „Armut als Normalzustand zu etablieren“, nach dem Motto: „Ungerechte Gesellschaft? Wieso, hier muss doch niemand hungern!“ (S. 133). Hier mischten nicht nur Rewe, Edeka, Lidl und Daimler-Benz – das Mercedes-Lieferwagen stellt – mit, sondern auch viele andere, die auf diese Weise gleichzeitig Steuern sparen und das Firmenimage aufpolieren.
Viele Menschen schaffen auf die eine oder andere Weise „soziales Kapital“, schreibt die Autorin in ihrem Schlusskapitel „Denn sie sollen wissen, was sie tun“. Sie arbeiteten ehrenamtlich in Vereinen und Bürgerinitiativen, kümmerten sich um Asylbewerber oder betreuten Behinderte. Ebenso stützten sich Kultur und Bildungswesen auf das bürgerschaftliche Engagement. Und sogar marode städtische Infrastruktur könne durch „Bürgersinn“ vor dem Kollaps bewahrt werden. Sich für das Allgemeinwohl einzusetzen, anderen zu helfen, sei etwas Schönes. Warum also, so Claudia Pinl, gegen etwas sein, was inzwischen selbstverständlich erscheint? Warum etwas kritisieren, das anscheinend funktioniert. Zumal Ehrenamt einen guten Ruf hat, einen sehr guten Ruf. Von daher fragt die Autorin selbstkritisch, ob man diesen schädigen darf? Oder ob das Rufmord sei? Darf man gegen das scheinbar Allerheiligste zu Felde ziehen, was diese Gesellschaft an werten zu bieten hat, gegen die Hilfsbereitschaft, die Politik der ausgestreckten Hand? Ihre klare Antwort: „Ja, darf man. Wenn Staat und Gesellschaft dulden, dass einige wenige sich auf Kosten vieler bereichern, dass öffentliche Infrastruktur und kulturelle Errungenschaften den Bach hinuntergehen, weil Multimillionäre den Hals nicht voll kriegen, wenn die politische Ebene sich von der Verantwortung verabschiedet, das gemeinsam Erwirtschaftete möglichst allen in der Gesellschaft zugutekommen zu lassen. Dann darf man, ja muss man davor warnen, dass gutgläubige, hilfsbereite Menschen für die Folgen politischer Fehlsteuerung den Ausputzer machen“ (S. 143).
Verantwortung zu übernehmen, nicht nur für sich selbst, sondern auch für das Umfeld, in dem man lebt, schaffe Zufriedenheit; anderen zu helfen, mache froh und bereichere. Engagement sei eine Ressource, ohne die es keine Demokratie gäbe. Aber diese Ressource sei in Gefahr, weil sie als Lückenbüßerin für eine verfehlte Politik missbraucht wird. Wörtlich schreibt sie hierzu: „Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe dienen heute als Kitt einer auf Egoismus und sozialer Kälte basierenden ‚Leistungsgesellschaft‘“ (S. 144).
Eine rund ums „bürgerschaftliche Engagement“ entstandene Bewusstseinsindustrie wolle uns außerdem weismachen, es gehe um Partizipation, um Mitbestimmung, um den „mündigen Bürger“. Eine „Aktive Bürgergesellschaft“ aber kann nach Ansicht von Claudia Pinl heute nur heißen, „sich aktiv einzusetzen für eine andere Politik, die den Reichtum in Deutschland umverteilt und die Almosengesellschaft verabschiedet“ (S. 144).
Diskussion
Bürgergesellschaft, Zivilgesellschaft, Bürgerarbeit, Bürgerengagement oder auch bürgerschaftliches Engagement, zivile Bürgergesellschaft – diese und ähnliche Begriffe haben Konjunktur. Dabei arbeiten rund 23 Millionen Ehrenamtliche in Deutschland, in Kleiderkammern, in Kitas und in Schulen. Sie betreuen etwa, um nur ein paar Beispiele zu nennen, alte, kranke und behinderte Menschen, sitzen an Kassen von Theatern und Schwimmbädern, kümmern sich um die kommunalen Grünflächen und steuern den „Bürgerbus“ – alles unbezahlt, alles fürs Gemeinwohl.
Spätestens seit der großen historischen Wende des Jahres 1989 steht die ehrenamtliche Arbeit, also das freiwillige, nicht auf finanzielle Vorteile gerichtete, das Gemeinwohl fördernde Engagement von Bürgern zur Erreichung gemeinsamer Ziele auch in der Politik – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des demographischen Wandels unserer Gesellschaft und den damit einhergehenden sozialen und ökonomischen Problemen – hoch im Kurs. Im Frühjahr 2000 wurde die „zivile Bürgergesellschaft“ von Bundeskanzler Gerhard Schröder zum gesellschaftspolitischen Programm erklärt. Gleichzeitig veröffentlichte der Deutsche Bundestag (2002) unter der Überschrift „Bürgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft“ den Bericht der Enquête-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“. In der Folgezeit finanzierte die Bundesregierung Modellprojekte und veröffentlichte Berichte und Surveys, während Tage und Wochen des Ehrenamts ausgerufen und genutzt wurden, um verstärkt Engagement einzufordern.
Unter dem Motto „Nichts erfüllt mehr, als gebraucht zu werden“, wurde der Bundesfreiwilligendienst (BFD) von der Bundesregierung als Reaktion auf die Aussetzung der Wehrpflicht und damit auch des Zivildienstes zum 1. Juli 2011 eingeführt. Er versteht sich als ein Angebot an Frauen und Männer jeden Alters, sich außerhalb von Beruf und Schule für das Allgemeinwohl zu engagieren – im sozialen, ökologischen und kulturellen Bereich oder im Bereich des Sports, der Integration sowie im Zivil- und Katastrophenschutz. Die Initiative zur freiwilligen, gemeinnützigen und unentgeltlichen Arbeit möchte dabei die bestehenden Freiwilligendienste, insbesondere das „Freiwillige Soziales Jahr“ (FSJ) und das „Freiwillige Ökologisches Jahr“ (FÖJ), ergänzen und das bürgerschaftliche Engagement fördern.
Um die Bedeutung der geschätzten 100 Millionen Freiwilligen in Europa in der Gesellschaft herauszustellen, erklärte die Europäische Union das Jahr 2011 zum Europäischen Jahr des Ehrenamtes.
„Soziales Engagement beflügelt“, lautet der Titel einer vom Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (www.bafza.de) im Dezember 2012 veröffentlichten Broschüre, die über die Aufgaben der Behörde beziehungsweise verschiedene Freiwilligendienste informiert. Nach Ansicht der Politik ist dabei freiwilliges Engagement ein Ausdruck von gegenseitiger Verantwortung und ein wesentlicher Beitrag für faire Chancen in unserer Gesellschaft. Ehrenamtlich tätige Menschen bereichern demnach das soziale Miteinander und vermitteln Erfolgserlebnisse, die prägend sein können für das ganze Leben (vgl. www.bmfsfj.de/BMFSFJ/freiwilliges-engagement).
Schön, wenn Menschen sich für andere engagieren. Denn es hilft auch den Helfenden, macht zufrieden, vermittelt neue Einsichten und Kontakte – und, so die These von Claudia Pinl in ihrem Buch „Freiwillig zu Diensten?“, verschleiert den Blick. Vor lauter Begeisterung über „bürgerschaftliches Engagement“ würden wir nicht mehr sehen, woher die vielen Armen im Lande kommen. Ebenso wenig würden wir den Zusammenhang nicht wahrnehmen zwischen kaputt gesparten Kommunen, Einschnitten im sozialen Netz, der Konzentration des Reichtums bei wenigen und den Dauer-Appellen an uns alle, bitte mit auszuhelfen.
Vor diesem Hintergrund fragt sie danach, warum die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland immer weiter wächst, bei gleichzeitig zunehmender Überschuldung der öffentlichen Haushalte. Und welche Politik es tatsächlich brauche, damit Kommunen wieder ihre Schulen, Schwimmbäder und Kultureinrichtungen finanzieren können, die menschenwürdige Pflege von Kranken und Alten gewährleistet wird und auch weniger qualifizierte Erwerbstätige zukünftig von ihrer Arbeit leben können. Für Ehrenamtliches Engagement, so die Autorin, sei dann immer noch Platz. Aber nicht mehr für die Verplanung der gesellschaftlich Engagierten als billige Alternative zu bezahltem Personal.
Nach Ansicht von Claudia Pinl halten die Freiwilligen mit ihrer Gratisarbeit nicht nur den Betrieb in Pflegeheimen, in Kitas und Schwimmbädern aufrecht, sondern tragen auch dazu bei, den Niedriglohn-Sektor auszudehnen und die Arbeit von Hauptamtlichen zu dequalifizieren. Von daher versucht sie das hehre Bild des „bürgerschaftlichen Engagements“, wie es nicht zuletzt von Seiten der Politik gerne präsentiert wird, zu zerstören. Gleichzeitig appelliert sie an die Freiwilligen, nicht länger „den Ausputzer für politische Fehlentscheidungen“ zu machen. Und an die Politik, öffentliche Aufgaben im Sozialen, in der Bildung und im Kommunalen wieder öffentlich finanzierbar zu machen.
Nun, was ist von dem Buch „Freiwillig zu Diensten?“ zu halten? Fakt ist, dass sich die Bürgerinnen und Bürger längst in die Pflicht genommen fühlen, wobei die politischen Parteien nahezu unisono Eigenverantwortung, Subsidiarität und ehrenamtliches Engagement als Tugenden einer anbrechenden Bürgergesellschaft preisen. Wohl kaum jemand wird bezweifeln, dass der Gerechtigkeit und Emanzipation verheißende deutsche Wohlfahrtsstaat, der lange Zeit den legitimitätsgarantierenden Kern der deutschen Demokratie bildete, an seine Grenzen gestoßen ist. Nach jahrzehntelangem Reformstillstand und der Ausdehnung der sozialen Sicherungssysteme auf das Gebiet der untergegangenen DDR traten seine Fehlentwicklungen offen zutage. Und angesichts der dramatischen demographischen Entwicklung sind Reformen dringend notwendig.
Claudia Pinl bestreitet in ihrer kurzweilig zu lesenden Darstellung keinesfalls, dass mit den Freiwilligendiensten, gleichermaßen für den Einzelnen wie die Gesellschaft, vielfältige positive Aspekte verbundenen sind. Sie möchte aber vielmehr – entgegen den landläufigen Berichterstattungen – über die Kehrseite der Medaille, also „über die Ausbeutung von Ehrenamt und Gratisarbeit“, informieren und auf gesellschaftspolitische Fehlentwicklungen hinweisen. Im gewählten Buchtitel „Freiwillig zu Diensten?“ bringt sie dies bereits zum Ausdruck. Eine nach allen Seiten ausgewogenes Buch, wie es bei einer wissenschaftlichen Studie der Fall sein sollte, darf die Leserschaft von daher nicht erwarten. Stattdessen vertritt die Autorin engagiert und zuweilen (im positiven Sinne) provozierend ihre Anliegen und Sichtweisen, die sie mit einer Fülle von Zahlen, Daten und Fakten untermauert. Von daher dürfte ihr Buch, in dem sie Missstände aufzeigt beziehungsweise ihre Finger in gesellschaftspolitische Wunden legt, vor allem in der Politik und bei den Betroffenen selbst nicht immer auf breite Zustimmung stoßen – lesenswert ist es aber allemal. Schließlich spricht es für eine gute demokratische Gesellschaft, dass es pluralistische Sichtweisen gibt, diese auch Gehör finden und somit letztlich zu einem fruchtbaren Diskurs zum Wohle aller beitragen.
Fazit
Dem Buch „Freiwillig zu Diensten?“, das sich kritisch mit dem „Ehrenamt“ auseinandersetzt, ist trotz seiner zuweilen einseitigen Darstellung des Themas im Hinblick auf die weiteren gesellschafts- und sozialpolitischen Entwicklungen in Deutschland, die im demokratischen Prozess von möglichst vielen Menschen mitgetragen werden sollten, eine große Leserschaft zu wünschen.
Rezension von
Dr. phil. Hubert Kolling
Krankenpfleger, Diplom-Pädagoge und Diplom-Politologe
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