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Susanne Moritz: Staatliche Schutzpflichten gegenüber pflegebedürftigen Menschen

Rezensiert von Dr. iur. Marcus Kreutz, 03.10.2014

Cover Susanne Moritz: Staatliche Schutzpflichten gegenüber pflegebedürftigen Menschen ISBN 978-3-8487-0722-5

Susanne Moritz: Staatliche Schutzpflichten gegenüber pflegebedürftigen Menschen. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2013. 253 Seiten. ISBN 978-3-8487-0722-5. D: 59,00 EUR, A: 60,70 EUR, CH: 83,90 sFr.

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Eine Dissertation, die hohe Wellen schlägt

Es ist selten, dass eine juristische Dissertation in der breiteren (Fach-)Öffentlichkeit diskutiert wird. Dies ist der Materie geschuldet, mit der sich Rechtswissenschaftler beschäftigen. Denn obzwar jeder Bürger Deutschlands mit Recht tagtäglich in Kontakt gerät (z.B. Straßenverkehr [StVO], Arbeitgeber [Dienstrecht des BGB], Familie [Erziehung seiner Kinder] usw.), ist er sich dessen in den wenigsten Fällen bewusst. Recht ist insofern ein unsichtbares, obgleich ubiquitäres Phänomen. Nicht unsichtbar sind hingegen die Verhältnisse, unter denen pflegebedürftige Menschen in stationären Einrichtungen leben. Angehörige und Freunde besuchen diese Menschen und können bei diesen Besuchen (vermeintlich) beobachten, wie ungenügend die Versorgung und Pflege der Pflegebedürftigen ist. Moritz beschäftigt sich mit der Pflegesituation unter verfassungsrechtlichen Vorzeichen und stellt die Frage, ob die Grundrechte in ihrer Eigenschaft als Schutzpflichten den Staat verpflichten, ein höheres Schutzniveau für die Pflegebedürftigen qua legislativer Aktivitäten zu erhöhen. Diese Dissertation, die im Sommersemester 2013 von der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Regensburg angenommen und von Professor Dr. Alexander Graser betreut wurde, wurde in der (Fach-)Öffentlichkeit breit diskutiert (siehe z.B. Rasch, NDV 2014, 145 ff.; Wingenfeld, NDV 2014, 200 ff.; Opolony, NJW 2014, 526). Die Arbeit wurde – trotz der vehementen Kritik, die an ihr geäußert wurde – von der Gesellschaft für Recht und Politik im Gesundheitswesen mit dem 18. Wissenschaftspreis ausgezeichnet. Bevor inhaltlich auf die Arbeit eingegangen werden soll, soll zunächst Inhalt und Struktur kurz referiert werden.

Aufbau

Das Buch ist insgesamt in drei große Kapitel gegliedert, die zusätzlich – wie es bei juristischen Dissertationen üblich ist – weiter sehr stark gegliederte Unterpunkte, die hier der Einfachheit halber nicht dargestellt werden, aufweist:

A. Einleitende Thesen

B. Begründung

  1. Missstände in den Pflegeheimen
  2. Ursachen der Missstände
  3. Staatliche Schutzpflichten
  4. Vorgehen vor dem Bundesverfassungsgericht

C. Schlussbemerkung

Ein Literaturverzeichnis, welches die verwendete Literatur lückenlos auflistet, schließt das Buch ab.

Die von Moritz vertretene Position

Der Kritik an der Arbeit ist zunächst zuzugestehen, dass die Autorin sehr meinungsstark auftritt (so auch Opolony, NJW 2014, 526). Moritz führt aus, dass die Situation der Pflegebedürftigen in den stationären Einrichtungen „augenscheinlich menschenunwürdig“ sei (S. 191). Um zu diesem Verdikt zu kommen, muss man sich entsprechend auch mit der Menschenwürdeproblematik gebührend auseinandersetzen. Die Verfasserin unternimmt es zwar, Art. 1 Abs. 1 GG einer Analyse zu unterziehen und führt insofern auch zu Recht aus, dass sich das Schutzgut der Menschenwürde einer greifbaren Definition entzieht und daher jeweils situationsgebunden und auf den Einzelfall bezogen beurteilt werden muss (S. 125). Moritz weist sodann auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hin, wonach das Menschenwürdegebot dann verletzt sei, wenn über die Rechtsstellung des Einzelnen eine unbeschränkte Verfügungsmacht bestehe, welche der Staat sich oder einem Dritten einräume. Den Pflegebedürftigen müsste demnach im Heim eine „verächtliche Behandlung“ widerfahren (S. 127). Moritz sieht nun schon in den Lebensbedingungen der Pflegebedürftigen, denen sie sich in vielen stationären Einrichtungen ausgesetzt sähen, ein Verstoß gegen die Menschenwürde (S. 127). Ein solches Beispiel für eine Verletzung des Menschenwürdegebots sieht sie u.a. darin, dass selbst kontinenten Heimbewohnern, die sich nicht selbstständig zur Toilette bewegen können, Windeln angelegt werden, da ein rechtzeitiges Aufsuchen des Hilfesuchenden und die benötigte Hilfeleistung oftmals nicht gewährleistet werden können (S. 127).

Nur eines kurzen Blickes würdigt die Verfasserin die Heimgesetze der Länder, obgleich hier reiches Material vorhanden ist, um sich mit einzelnen Aspekten zu beschäftigen, die nach Ansicht der Autorin für den Gegenstand ihrer Arbeit von Bedeutung sind. So legt Moritz ihr Hauptaugenmerk lediglich auf den Schutzzweck der Landesheimgesetze, die in der Tat nahezu identisch mit dem Schutzzweck des Bundesheimgesetzes sind (S. 153 f.). Allerdings hätte es nahe gelegen, zahlreiche weitere Normen der jeweiligen Landesheimgesetze zu beleuchten. Dies wäre z.B. mit Blick auf das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit fruchtbar gewesen (S. 129), zumal sich die Autorin mit der Thematik Gewalt in der Pflege ausführlich beschäftigt (S. 22 ff.).

Diskussion

Hinsichtlich der Menschenwürde und deren Verletzung hätte es der Autorin gut angestanden, etwas vorsichtiger zu formulieren. Richtig ist zunächst der Ausgangspunkt, wonach die Menschenwürde terminologisch nur sehr schwer in den Begriff zu bekommen ist und daher jeweils eine Entscheidung im Einzelfall erfolgen muss. Daher generell in einigen Phänomenen des Heimlebens einen Verstoß gegen die Menschenwürde zu erblicken, ist mutig und muss in dieser pauschalen Form geradezu Kritik hervorrufen. So verwundert es auch nicht, wenn der EGMR mit seinem Judiz vom 20.05.2014 (Az.: 4241/12) entschieden hat, dass es keinen Menschenwürdeverstoß darstellt, wenn pflegebedürftige aber kontinente Personen auf Inkontinenzunterlagen verwiesen werden, wenn aus Gründen der mangelnden ökonomischen Leistungsfähigkeit des Staates keine nächtliche Assistenz für den Gang zur Toilette zur Verfügung gestellt wird. Zwar kann man auch über diese Entscheidung unter dem Aspekt der Menschenwürde trefflich streiten. Gleichwohl sollte diese Entscheidung bei weiteren Diskussionen hinsichtlich der Menschenwürde in stationären Einrichtungen Berücksichtigung finden.

Was die geringe Berücksichtigung der Landesheimgesetze durch Moritz anbelangt, so ist gerade mit Blick auf das Thema Gewalt daran erinnern, dass zahlreiche Landesheimgesetze diesem Aspekt besondere Aufmerksamkeit geschenkt haben. So sieht z.B. § 4 des schleswig-holsteinischen Landesheimgesetzes (Selbstbestimmungsstärkungsgesetz) vor, dass bei akutem Beratungsbedarf, bei Belastungssituationen oder bei Gewalt in der Pflege oder Betreuung ein landesweites Krisentelefon vorgehalten wird. Darüber hinaus ist zu konstatieren, dass die Landesheimgesetze auch durchgehend die Institutionalisierung eines Beschwerdemanagements verlangen. Die Ausführungen Moritz´ zu Landesheimgesetzen kann daher leider nur als unzureichend bezeichnet werden. Dies erstaunt umso mehr, da sie selbst in ihrem Vorwort ausführt, dass Literatur und Rechtsprechung bis Mitte Juni 2013 berücksichtigt worden seien (S. 7), bis zu diesem Zeitpunkt aber in allen Bundesländern (mit Ausnahme von Thüringen) Landesheimgesetze verabschiedet waren.

Fazit

Als Fazit lässt sich festhalten, dass die Arbeit – um es positiv zu formulieren – meinungsstark ist, bei der rechtlichen Subsumtion der empirischen Daten unter die jeweilige Grundrechtsnorm jedoch an vielen Stellen zu vorschnell agiert. Leider wurden auch die Landesheimgesetze mit ihrem reichhaltigen Normenmaterial fast gar nicht berücksichtigt. Positiv hervorzuheben sind allerdings die erhellenden und erschöpfenden Ausführungen zu den verschiedenen Erscheinungsformen der Gewalt in stationären Einrichtungen (S. 22 ff.) sowie zu der Option des Vorgehens gegen die derzeitige Pflegesituation vor dem Bundesverfassungsgericht (S. 163 ff.).

Rezension von
Dr. iur. Marcus Kreutz
LL.M., Rechtsanwalt. Justiziar des Bundesverbandes Arbeiter-Samariter-Bund Deutschland e.V. in Köln
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Zitiervorschlag
Marcus Kreutz. Rezension vom 03.10.2014 zu: Susanne Moritz: Staatliche Schutzpflichten gegenüber pflegebedürftigen Menschen. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2013. ISBN 978-3-8487-0722-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15482.php, Datum des Zugriffs 03.06.2023.


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