Olaf Schnur (Hrsg.): Migrationsort Quartier
Rezensiert von Dr. Rainer Neef, 16.10.2013

Olaf Schnur (Hrsg.): Migrationsort Quartier. Zwischen Segregation, Integration und Interkultur.
Springer VS
(Wiesbaden) 2013.
228 Seiten.
ISBN 978-3-658-01047-8.
D: 39,95 EUR,
A: 41,07 EUR,
CH: 50,00 sFr.
Reihe: Quartiersforschung. Research.
Thema
Die Migrationsforschung expandierte in Deutschland besonders, seit durch die Entdeckung des „Migrationshintergrunds“ ein Fünftel der Bevölkerung als wenig erforschte Gruppe erschien. Lange stand die von der Soziologie inspirierte quantitative Forschungsrichtung mit großen Datensätzen auf nationaler oder international vergleichender Ebene im Vordergrund. Sie konnte der kulturellen Vielfalt der Migranten nicht gerecht werden und ging über ihre alltäglichen Lebensbedingungen und Beziehungen hinweg. Diese können besser mit qualitativen Ansätzen und kleinteiligen Erhebungen erfasst werden. Die meisten Texte des vorliegenden Buches basieren auf qualitativen Erhebungen in einzelnen von MigrantInnen geprägten Quartieren und erfassen damit das Zentrum ihrer Lebenswelt.
Herausgeber
- Olaf Schnur ist Professor für Stadt- und Quartiersforschung am Geographischen Institut der Universität Tübingen und arbeitet hauptsächlich über lokales Sozialkapital und üver Quartiersentwicklung und soziale Stadtentwicklung in Großstädten;
- Philipp Zakrzewski ist wiss. Mitarbeiter am Institut für Raumordnung und Entwicklungsplanung der Universität Stuttgart und arbeitet empirisch vor allem über Raumordnung und Raumentwicklung, Wohnstandorte und demographischen Wandel, und Reurbanisierung;
- Matthias Drilling ist Professor am Institut für Sozialplanung und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit in Basel und arbeitet im Bereich Stadtforschung, insbesondere Sozialplanung, und besonders mit Bezug auf Schulen und Jugendliche.
Inhalt
Eine Vielzahl konkreter Untersuchungen nutzt überwiegend qualitative Instrumente (von Interviews bis zu Diskursanalysen) zur Analyse von Einzelfragen der Situation und Differenzierung von Migrantengruppen in Quartieren deutscher Großstädte, oft wird dabei von neueren Theorien (etwa nach Foucault oder Bourdieu) ausgegangen. Den Rahmen bilden vier Beiträge, die die Diversität der Migrantenbevölkerung sowie Fragen der Integration und der darauf bezogenen Politik begrifflich fassen und auf aktuelle Theorie-Diskussionen beziehen.
Einleitend diskutieren Olaf Schnur, Philipp Zakrzewski und Matthias Drilling zentrale Begriffe, die im Band sehr unterschiedlich verwendet werden. Zu ‚Integration’ ist zwischen ‚Multikulturalität’ und ‚Assimilation’ keine Übereinkunft möglich, und das Verständnis von Assimilation, auch nach Esser (z.B. 2004), ist nur national denkbar und unter globalen Bedingungen überholt. Beide Sichtweisen implizieren kulturelle Grenzlinien zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten; sie seien irreführend, da MigrantInnen nur Teil einer wachsenden Diversität moderner Gesellschaften seien. Das Quartier der Migranten lässt „vielen Identitäten Raum“, es kann den Einstieg in die Einwanderergesellschaft erleichtern oder behindern je nach Offenheit der Gesellschaft und Verhalten der Migranten. Hierauf bezogene nationale Programme definieren heute zwar viele Probleme und Handlungsfelder (etwa lokale Ökonomie oder Wohnen), aber nehmen nur wenige ernst, am ehesten noch Bildung.
Dirk Gebhardt bietet einen knappen und gelungenen Überblick über quartiersbezogene Integrationsprogramme europäischer Länder. Alle tendieren zu mehr Kontrolle der Migranten, ihre zeitlich und räumlich begrenzten Maßnahmen werden deren Vielfalt nicht gerecht (Negativbeispiel: Deutschland). Vonnöten sind eine Verstetigung und ein Einbezug in soziale Regelversorgung (Positivbeispiel: Kopenhagen).
Ingeborg Beer plädiert für ein Verständnis und eine Programmatik, die nicht auf ‚Integration’, ‚Migrationshintergrund’ u.ä., sondern auf städtische Vielfalt zielen.
Florian Weber analysiert mit kategoriellem und diskurstheoretischem Aufwand Planungsmaterial aus drei „Soziale Stadt„-Quartieren mit dem etwas kargen Ergebnis, die zentrale Bedeutung von ‚Integration’ in Darmstadt verfestige ethnische und soziale Zuschreibungen, in Frankfurt ( Gallus) dominiere hingegen die soziale Problematik.
Anke Breitung fasst die Nürnberger Südstadt als „Heterotopie“ (Foucault); ihre durch Definitionen sorgfältig gerahmte Diskursanalyse von Zeitungsberichterstattung und mental maps (zweier Bewohner) bringt nur verkürzte Einsichten in Verschiedenheiten und Änderungen im Zeitablauf.
Mit weniger Theorieaufwand zeigt Mareike Boller lebensnah und systematisch, wie das verrufene Köln-Mülheim seinen Bewohnern aus vielen Herkunftsländern ein attraktives (migrantisches) Geschäftsleben und günstige Wohn- und Lebensbedingungen bietet; eine „Normalität“, die von punktuellen Aufwertungen (noch?) nicht beeinträchtigt ist.
Matthias Klückmann bestimmt klar und unkompliziert ‚Zuhause’ als sinnlich-körperliche Erfahrungen und Handlungsroutinen. Seine drei Bewohnerportraits aus dem Stuttgarter Nordbahnhofsviertel thematisieren vor allem Verlustempfinden, Erfahrungen und Routinen markiert er (zu Unrecht) als Forschungsdefizit.
Knapp und anschaulich charakterisiert Esther Baumgärtner die Entwicklung eines Mannheimer Gründerzeitviertels; von einem Quartier der sozial Schwachen wurde es durch neue Zuwanderung „kreativer Milieus“ und südosteuropäischer Armutsgruppen zu einem sehr heterogenen Lebensraum. Hinweise auf materielle Lagen und von Diskursen aus zwei Bewohnerversammlungen bleiben zu beschränkt, um „Machtgefälle“ zu verdeutlichen.
Johanna Klatt zeigt, dass die Förderung „zivilgesellschaftlichen Engagements“ – wohlfeil in Zeiten sozialstaatlichen Rückzugs – an MigrantInnen vorbeigeht, da bei diesen informelles Engagement vorherrscht (das leider nur angedeutet wird).
Konkret und systematisch stellt Malte Bergmann drei Typen von Migrantengewerbe in Berlin-Neukölln vor – ihre Gemeinsamkeiten: informelle Kapitalbeschaffung und on-the-job-Qualifizierung, und ihre Unterschiede vom lokalen Nischen-Kleinbetrieb bis zum transnational vernetzten innovativen Kleinunternehmen.
In einer Pionier-Untersuchung zum Wohneigentum von Migranten – in Duisburg immerhin 29% der türkischstämmigen Haushalte – zeigt Heike Hanhörster, dass auch bei sozialen Aufsteigern Ausgrenzungserfahrungen virulent bleiben. Die Mehrheit verbleibt im bisherigen Quartier, im vollem Bewusstsein seiner Nachteile, aus Furcht vor Abweisung in ‚deutschen’ Quartieren und um Nah-Beziehungen zu den Eltern zu wahren; die in ‚bessere’ Quartiere Weggezogenen manifestieren gesellschaftlichen Auf- und Einstieg, bleiben aber in räumlicher Nähe zu den Eltern; Kontakte am neuen Ort fanden nur Familien mit Kindern.
Kristin Müller weist nach, dass der Kauf von Berliner Siedlungen mit hohen Migrantenanteilen durch zwei Genossenschaften die Wohnqualität und das interethnische Zusammenleben (also die Integration?) entscheidend verbesserten.
Christina Wests Konzept verbindet „strukturelle Integration“ als Teilhabe an gesellschaftlichen Funktionssystemen mit kulturell-kognitiver Integration v.a. durch Sprachfähigkeiten. Scharfsinnig kritisiert sie den „Nationalen Integrationsplan“ von 2007: Seinen changierenden (Herderschen) Kulturbegriff; eine neoliberale Politik des ‚Förderns und Forderns’, die nur osteuropäischen Zuwanderern Potentiale zuspricht; eine Verengung auf Sprach- und Bildungsförderung; ein altbackenes Konzept sozialer Mischung im Quartier. Sie votiert für die Anerkennung vielfältiger Identitäten; den kommunalen Integrationspolitiken einer Multi- oder Interkulturalität wirft sie ein essentialistisches Kulturverständnis vor, das soziale Chancengleichheit ignoriere; nach Weber (s.o.) stimmt dies für die (wegweisende) Politik der Multikulturalität in Frankfurt/M. nicht.
Fazit
Den Herausgebern ist hoch anzurechnen, dass sie fast nur jüngere ForscherInnen zur Sprache brachten; und diesen, dass sie tatsächlich einige neue Perspektiven öffneten: Auf die Vielfalt konkreter Lebenssituationen, auf Aufstiegswege und fortdauernde Ausgrenzungserfahrungen, auf Ressourcen und Beziehungspotentiale in migrantengeprägten Quartieren, auf Innovativität und Verbesserungsmöglichkeiten – an denen die Politik achtlos vorbeigeht. Nicht immer genügt die inhaltliche Reichweite der Empirie den vorweg dargestellten neueren theoretischen Ansätzen, die manchmal nur referiert werden. Diese fassen die soziale und kulturelle Heterogenität von MigrantInnen als Bestandteil der wachsenden sozialen Diversität moderner Gesellschaften. Das Problem solcher (z.B. „poststruktureller“) Ansätze ist, dass die strukturelle ökonomische und politische Benachteiligung von MigrantInnen in den Hintergrund tritt. – Viele Texte leiden unter Verkürzungen, 10-12 Seiten Text reichen nicht, um theoretische Ansätze und (qualitative) Empirie zu entfalten; weniger und dafür ausführlichere Beiträge wären hier mehr gewesen!
Literatur
- Esser, Hartmut (2004): Welche Alternativen zur ‚Assimilation’ gibt es eigentlich? In: Bade. Klaus J.; Bommes, Michael (Hrsg.): Themenheft Migration – Integration – Bildung. Grundfragen und Problembereiche. Osnabrück (IMIS-Beiträge Heft 23), S. 41-59
Rezension von
Dr. Rainer Neef
bis 2010 akad. Oberrat für Stadt- und Regionalsoziologie am Institut für Soziologie der Universität Göttingen
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