Sarah Leavitt: Das große Durcheinander (Alzheimer, Graphic Novel)
Rezensiert von Dipl.-Soz.Arb./Soz.Päd. (FH) Oliver König, 10.12.2013

Sarah Leavitt: Das große Durcheinander. Alzheimer, meine Mutter und ich. Beltz Verlag (Weinheim, Basel) 2013. 127 Seiten. ISBN 978-3-407-85968-6. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 26,90 sFr.
Thema und Entstehungshintergrund
Miriam, die Mutter der Autorin, erhielt 1998 die Diagnose Alzheimer Demenz – nachdem sie bereits zwei Jahre zuvor, mit 52 Jahren erste Symptome der Krankheit zeigte. Ihre Tochter Sarah Leavitt hielt die Jahre der Krankheit und ihren Verlauf bis zum Tod der Mutter in Notizen und Zeichnungen fest, aus denen schließlich dieses Buch entstanden ist. Es ist die erste Graphic Novel zum Thema Alzheimer.
Eine Graphic Novel ist eine Bildergeschichte, eine Art „Comic für Erwachsene“, in der durchaus auch komplexe Themen und Abläufe, etwa aus Historie und Politik, mit Bildern und wenigen Textelementen anschaulich dargestellt werden. Exemplarisch seien hier die bekannten Werke „Maus-Die Geschichte eines Überlebenden“ von Art Spiegelman über den Holocaust und „Persepolis“ von Marjane Satrapi über ihre Jugend während und nach der islamischen Revolution im Iran genannt.
Autorin
Sarah Leavitt, Jahrgang 1969, ist eine kanadische Zeichnerin, Cartoonistin und Autorin. „Das große Durcheinander“ ist ihr erstes Buch.
Aufbau
Leavitt unterteilt ihr Buch in drei Kapitel, die sich im Wesentlichen am Verlauf der Krankheit orientieren.
- Teil 1 behandelt erste Auffälligkeiten der eigentlich sehr aktiven und präsenten Mutter sowie die Diagnose,
- in Teil 2 macht sich die Krankheit bereits deutlich bemerkbar, die Mutter ist kaum mehr in der Lage, ohne Betreuung zu leben, andererseits spürt sie selber sehr deutlich die zunehmenden Einschränkungen.
- Teil 3 schließlich beschreibt ihre Pflegebedürftigkeit und am Ende ihr Sterben.
Die einzelnen Kapitel sind in meist 2-4seitige Sequenzen unterteilt, die Begebenheiten und Themen in diesen Phasen behandeln. Immer wieder geben kurze Rückblicke Aufschluss über die Geschichte der Familie. Insgesamt ist das Buch biografisch-chronologisch aufgebaut.
Zu Teil 1
Teil 1 beschreibt das Aufwachsen der Mutter in einer liberal-jüdischen Akademikerfamilie im Norden der USA, den frühen Tod der Eltern, ihre Tätigkeit als Lehrerin, die enge Beziehung von Miriam zu ihren Schwestern und schließlich der Umzug nach Kanada.
Auch über die Autorin selbst erfährt man viel in diesem Kapitel. Nach dem Ende der Schule geht sie zum Studieren nach Montreal, wo sie sich vor allem frauenpolitisch engagiert und sich ihrer Homosexualität bewusst wird.
Währenddessen zeigen sich bei Miriam erste Vorzeichen der Erkrankung. Sie ist ihrer Arbeit als Lehrerin nicht mehr gewachsen und kündigt. In fremder Umgebung findet sie sich schlecht zurecht, manche Informationen hat sie nach kurzer Zeit wieder vergessen. Die einst wache und aktive Frau zieht sich zurück, wird schweigsam. Stress? Depression? Midlife-Crisis? Einen Arztbesuch lehnt sie kategorisch ab. Erst als die Ausfälle massiver werden, lässt sie sich auf einen Termin beim Neurologen ein, der schließlich eine Alzheimer Demenz als wahrscheinlichste Ursache der Ausfallerscheinungen Miriams diagnostiziert.
„Ich hasse, was mit mir passiert.“
Zu Teil 2
In Teil 2 wird deutlich, dass Miriam nicht mehr ohne Betreuung sein kann. Während ihr Mann sich zur Erholung eine sechswöchige Auszeit nimmt, zieht Sarah Leavitt bei ihren Eltern ein, um bei ihrer Mutter zu sein. Miriams Ausfälle nehmen immer mehr zu, oft noch von ihr verzweifelt und zugleich hilflos bemerkt. Auch körperlich baut sie immer mehr ab, einfachste Dinge des Alltags wollen nicht mehr gelingen. Die Körperpflege gelingt zunehmend weniger selbständig, sie beginnt, einzukoten. Gleichzeitig hat sie immer wieder auch klare Momente, begeistert sich für die Familienkatze, ist wütend auf sich selber, sieht sich als Belastung für Mann und Tochter.
Großen Raum gibt die Autorin in diesem Teil der Beschreibung der Gefühle des Vaters, der Schwester, aber vor allem der eigenen. Hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu ihrer Mutter, der Angst und Verzweiflung über die Situation, aber auch der Überforderung und Wut, wenn das Verhalten der Mutter nicht mehr zu ertragen ist. Der Scham, wenn sich Miriam in der Öffentlichkeit auffällig verhält. Der Überwindung, teilweise auch dem Ekel bei der ungewohnten körperlichen Pflege der Mutter.
„Mama, wie geht es Dir?“ „Oh, ich glaube, es geht mir ziemlich traurig.“
Zu Teil 3
Teil 3 geht auf die Frage ein, wie lange die Betreuung und Pflege eines Menschen mit Demenz zu Hause zu leisten ist. Miriam erkennt ihre Töchter und ihren Mann immer seltener, ihre Persönlichkeit, also das, was sie einst ausmachte, geht immer mehr verloren.
Andererseits befindet sich Miriam nun in einer Phase der Erkrankung, in der ihr diese nicht mehr bewusst ist. Sie wird gelöster, fröhlicher. Die Beziehung zu Mann und Töchtern wird – auf eine ganz andere Art – noch einmal sehr innig und zärtlich. In diesem Kapitel wird noch einmal, bei aller Schwere, viel gelacht.
Schließlich ist die Betreuung zu Hause nicht mehr zu leisten. Miriam zieht in ein Pflegeheim, in dem sie sich offensichtlich wohl fühlt. Nach einer Infektion stirbt sie. Ihre Familie begleitet sie auch in diesen letzten Tagen.
Diskussion
Bücher mit Erfahrungsberichten von Kindern von an Demenz Erkrankten gibt es mittlerweile in großer Zahl, ebenso erste Dokumentarfilme wie zuletzt den großartigen und überaus erfolgreichen „Vergiss mein nicht“ von David Sieveking. Sarah Leavitt geht mit ihrem Buch einen ganz neuen, aber ebenso eindrücklichen Weg. Mit einfachen, aber umso intensiveren Zeichnungen und Texten gelingt es ihr, ausdrucksstark Gefühle und Stimmungen einzufangen, sehr realitätsnah die Situation betreuender und pflegender Angehöriger darzustellen – mit all ihren Ängsten, ihrer Verzweiflung und Überforderung, aber auch der schönen Momente. Genauso gekonnt wird die erkrankte Mutter gezeigt. Leavitt zeichnet den Weg der Erkrankung von den ersten Vorzeichen über das Leugnen und die Diagnose über die Phasen der Krankheit bis hin zum Ende wirklichkeitsnah, authentisch und fachlich korrekt nach. Auch wer sich mit dem Thema bislang nicht befasst hat, bekommt hier einen guten ersten Einblick, was Alzheimer mit den Erkrankten wie mit dem Umfeld macht. Flankiert wird das Hauptthema Alzheimer immer wieder von kurzen persönlichen Einblicken in Sarah Leavitts Leben, etwa ihre Auseinandersetzung mit ihrem jüdischen Glauben, ihrer bürgerlich-angepasst lebenden Schwester oder ihrer Homosexualität.
Zeichnerisch ist „Das große Durcheinander“ sicher nicht so ausgefeilt wie etwa die eingangs erwähnten Graphik Novels „Maus“ und „Persepolis“. Gerade diese Beschränkung auf weniger Mittel macht dieses Buch aber so intensiv.
Fazit
Eine ganz neue, gut zugängliche Herangehensweise an ein schweres Thema. Und bei aller Trauer, Angst und Verzweiflung immer auch voller zärtlicher, liebevoller und lustiger Momente. Ein rundum besonderes Buch!
Rezension von
Dipl.-Soz.Arb./Soz.Päd. (FH) Oliver König
Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg e.V.| Selbsthilfe Demenz
Website
Mailformular
Es gibt 8 Rezensionen von Oliver König.