Eva-Maria Kehrer: Klavierunterricht mit dementiell erkrankten Menschen
Rezensiert von Prof. Dr. Thomas Grosse, 12.12.2013
Eva-Maria Kehrer: Klavierunterricht mit dementiell erkrankten Menschen. Ein instrumentalgeragogisches Konzept für Anfänger.
Waxmann Verlag
(Münster/New York/München/Berlin) 2013.
223 Seiten.
ISBN 978-3-8309-2805-8.
D: 24,90 EUR,
A: 25,60 EUR,
CH: 35,50 sFr.
Reihe: Musikgeragogik - Band 2.
Thema
Die vorliegende Publikation beschäftigt sich mit der Frage, ob und in welcher Form ein Klavier-Anfangsunterricht für dementiell erkrankte Menschen gelingen kann und in wie weit dadurch ein Beitrag zur Bildungsarbeit mit Senioren und Seniorinnen geleistet wird, durch den Lebensqualität und kulturelle Teilhabe der Einzelnen gestärkt werden können. Um diesen Unterreicht erfolgreich zu erteilen, entwickelt die Autorin eine Konzeption zur „Instrumentalgeragogik“.
Autorin
Dr. Eva-Maria Kehrer (*1984), Studium der Musikpädagogik und Germanistik sowie Promotion an der Universität Vechta, mehrfach für wissenschaftlichen Leistungen ausgezeichnet (u. a. mit dem Wissenschaftspreis des Landes Niedersachsen). Lehrbeauftragte und Projektmitarbeiterin an der Universität Vechta, Referentin und Beraterin zu Musik und Demenz mit Schwerpunkt Instrumentalgeragogik, Lehrerin.
Entstehungshintergrund
Die sich deutlich wandelnde Altersstruktur der Bevölkerung führt seit Jahren zu der Forderung, dass sich die Gesellschaft für Angebote an Menschen im Seniorenalter öffnen muss, dies gilt auch für die Musikschulen in Deutschland. Welche Anforderungen sich daraus ergeben, wenn Instrumentallehrkräfte auf dementiell erkrankte Menschen treffen, ist Gegenstand dieser empirischen Untersuchung, die aufzeigt, dass „demenzerkrankte Anfänger das Musizieren am Klavier als ästhetisch bedeutsame und glückstiftende Betätigung erfahren und in ihren musikalischen Kompetenzen und Fähigkeiten so gefördert werden können, dass Vorspiele möglich sind“ (Klappentext).
Aufbau und Inhalt
In der vorliegenden Publikation werden zunächst grundsätzliche Überlegungen über die Rahmenbedingungen eines Instrumentalunterrichtes für demenzerkrankte Senior/innen angestellt. Nachdem Eva-Maria Kehrer Anforderungen an Musikschulen aufgezeigt und die Besonderheiten von Instrumentalunterricht und Demenz benannt hat, blickt sie auf die Rolle der Lehrenden, die sich zwischen Bildungsarbeit und Therapie zu bewegen scheint. Diesen Gedanken folgen Ausführungen zu einer „elementaren Instrumentalgeragogik“. Damit hat die Autorin die Grundlage geschaffen, um im Folgenden ihre Forschungsarbeit zu begründen und vorzustellen. Nach Ausführungen zum Forschungsdesign und der Diskussion ihrer Forschungsergebnisse schließt die Arbeit mit einem kurzen Fazit ab.
Zunächst widmet sich Eva-Maria Kehrer im 1. Kapitel der Frage, inwieweit Musikschulen dementiell erkrankte Senioren als potentielle Schülerinnen und Schüler anzusehen haben und benennt dafür zwei plausible Begründungen: Nach der 2007 verabschiedeten „Wiesbadener Erklärung“ des Deutschen Musikrates habe der Verband deutscher Musikschulen in der Folge Kooperationen mit Senioreneinrichtungen sowie entsprechende Angebote für diese Zielgruppe gefordert, um der demographischen Entwicklung Rechnung zu tragen. Zum anderen seien die Musikschulen auch in der Pflicht – soweit der Auffassung gefolgt werden würde, dass dementielle Erkrankungen als Behinderung anzusehen seien – aktuelle Inklusionsbestrebungen umzusetzen.
Das 2. Kapitel beleuchtet das Themenfeld „Instrumentalunterricht und Demenz“, wobei spezifische Auswertungen verschiedener Studien zu musikalischen Fähigkeiten Demenzerkrankter – also medizinisch-psychologische Perspektiven – im Mittelpunkt stehen. Es wird deutlich, dass Musik auch für den Alltag dementiell erkrankter Menschen eine Rolle spielt, diese erreicht und von ihnen wahrgenommen wird, gleichzeitig aber auch der Umgang dieser Personengruppe mit Musik durch die Erkrankung stark beeinflusst werden dürfte. Ein kurzer Exkurs zur allgemeinen Kommunikation mit Demenzerkrankten verdeutlicht die Ausführungen zusätzlich.
Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von therapeutischen Aufgaben und dem Bildungsauftrag der Instrumentalpädagogik behandelt Kapitel 3. Bezugnehmend auf Hartogh und Wickel wird die noch recht junge Disziplin „Musikgeragogik“ als Ausgangspunkt gewählt und beleuchtet, weshalb in den verschiedenen Überschneidungsbereichen von Musiktherapie und Musikgeragogik – gerade wegen der sich ähnelnden Arbeitsweisen – inhaltlich klare Positionen, Zielsetzungen und persönliche Haltungen formuliert werden sollten.
Im 4. Kapitel skizziert Eva-Maria Kehrer schließlich ihren Entwurf einer „elementaren Musikgeragogik“. Dabei weist sie zunächst darauf hin, dass die ästhetische Praxis, das Erfahren von Kunst eine hohe Professionalität seitens der Lehrenden erfordert, da sie solche Prozesse anregen und begleiten und dazu selbst über einen Fundus an entsprechenden Erfahrungen verfügen müssen. Diesen Anspruch auf Demenzerkrankte zu übertragen, führt im Sinne eines individualisierten Unterrichtsangebotes nach Spahn und im Abgleich mit dem VdM-Lehrplan Klavier zur Entwicklung einer eigenen Unterrichtskonzeption, die Lehrenden einen Einstieg in diese Arbeit ermöglichen soll. Zusammenfassend benennt die Autorin dafür folgende Punkte: „Elementare Instrumentalgeragogik soll als eine Disziplin gelten, in der
- Bildungsziel musikalisch-ästhetische Bildung ist,
- elementare Erfahrungen mit Musik am Instrument Zweck und Ziel aller unterrichtlicher Bemühungen sind,
- Konzepte personenorientiert entwickelt werden und
- didaktische Forschung als vielschichtige Reflexion von Unterricht verstanden wird.“ (S. 40).
Ein dieser Konzeption folgendes Unterrichtsmodell erprobt Eva-Maria Kehrer anschließend unter Einsatz eines in den 1990er Jahren entwickelten Forschungsansatz, der dazu geeignet ist, Innovationen im Bildungs- und Unterrichtsalltag nachhaltig zu fördern.
Im 5. Kapitel stellt die Autorin das von ihr erarbeitete Forschungsdesign vor. Dazu schildert sie zunächst die Grundzüge der von ihr ausgewählten Forschungsmethode Design-Based Research (DBR) und verdeutlicht, wie bei der zugrundeliegenden Fragestellung die Lernumgebung den zentralen Aspekt für gelingenden Klavierunterricht bildet. Anschließend werden die verschiedenen Erhebungsmethoden und Erhebungsinstrumente benannt. Diese Ausführungen sind entsprechend einer Dissertation detailliert und umfangreich, gerade in Bezug auf die nicht einfache Forschung im Bereich dementieller Erkrankungen ist die Begründung und Darstellung interessant und ergiebig.
Kapitel 6 stellt in einer sehr sorgfältigen und informativen Art und Weise die Forschungsergebnisse vor. Dabei folgt die Autorin ihrer Planungsstruktur und beginnt mit dem Design der Lernumgebung. Die Ausführungen verdeutlichen die Vielzahl von Aspekten und spezifischen Problemen beim Unterrichten dementiell Erkrankter und bilden eine Basis für das Verständnis für Designentwicklung. Anschließend widmet sich Eva-Maria Kehrer anhand von Fallanalysen den Lernenden. Dabei steht der Wunsch der Teilnehmenden, Klavier zu erlernen neben der Erwartung Angehöriger, die Demenzsymptomatik zu lindern. Beide Effekte lassen sich aus den praxisnahen Ausführungen herauslesen und werden auch durch die Auswertung bestätigt. Auch das damit ermöglichte ästhetische Erleben – für das Demenzerkrankte teilweise besonders sensibel sind – ist in der Studie nachweisbar geworden. Im letzten Teil der Auswertung wird anhand der Einschätzungen von beteiligten Klavierlehrkräften und hinzugezogenen Expert/innen die Praxistauglichkeit des Ansatzes eingeordnet und die Autorin gelangt zu dem Ergebnis, dass die entwickelte Unterrichtskonzeption den Erwartungen gerecht werden kann. Abschließend betont Eva-Maria Kehrer die Notwendigkeit einer angemessenen Haltung der Lehrkräfte, aus der sich in Verbindung mit Flexibilität und Offenheit eine Umsetzung der vorgestellten Instrumentalgeragogikkonzeption ergeben kann.
Diskussion
Eva-Maria Kehrer hat mit ihrer Studie einen Beitrag sowohl für die Instrumentalpädagogik als auch für den Bereich der Musik in sozialen Arbeitsfeldern geleistet. Dabei ist zunächst hervorzuheben, dass allein die Grundidee, dementiell erkrankten Menschen Klavierunterricht anzubieten, überraschend genug ist. In der Verbindung mit einer Forschungsmethode, die optimal ausgewählt und ebenso sorgfältig umgesetzt wurde, entstand ein Buch, das gleichermaßen originell und klug ist. Beeindruckend ist nicht zuletzt die Tatsache, dass hier tatsächlich eine neue Sichtweise geschaffen wird und sich unmittelbare Handlungsoptionen für die Instrumentalpädagogik – von der Ausbildung bis hinein in die Musikschulen – ergeben. Gleichzeitig wird auch der (Kultur-)Geragogik eine Option aufgezeigt, welche Angebotsformen noch denkbar wären, diese Ausführungen können eine Nachfrage erzeugen.
Sehr wohltuend ist dabei die gebotene Distanz bei der Bewertung der Untersuchungsergebnisse. Die Verfasserin erliegt nicht der andernorts mitunter zu beobachtenden Versuchung, positive Ergebnisse quasi „hochzurechnen“. Instrumentalgeragogik wird nicht als ein wirksames Mittel gegen dementielle Erkrankungen positioniert, sondern ist eine große Chance, daran interessierten Menschen einen würdevollen und erfüllten Alltag auch in fortgeschrittenen Stadien der „Krankheit des Vergessens“ zu ermöglichen. Diese Erkenntnis ist bemerkenswert genug!
Fazit
„Klavierunterricht mit dementiell erkrankten Menschen“ ist ein höchst lesenswertes Buch. Das entwickelte instrumentalgeragogische Konzept für Anfänger stellt einen bemerkenswerten Fortschritt innerhalb der musikpädagogischen bzw. -geragogischen Landschaft dar. Eva-Maria Kehrer gelingt es, die Begleitung von dementiell erkrankten Menschen bei einem selbstständigen, erfüllten Musizieren nachzuvollziehen und nicht nur dazu zu ermutigen, sondern geradezu das Bedürfnis zu wecken, diese Arbeit zu erleben und zu fördern. Die seit langer Zeit von Politik und Verbänden geforderte kulturelle Teilhabe von Senioren, die in der Praxis noch eher bekundet als gelebt wird, wird mit dieser höchst praxisrelevanten Handreichung nun ein deutliches Stück greifbarer. Eva-Maria Kehrers Ausführungen sind gleichzeitig eine Aufforderung an die Akteure der Instrumentalpädagogik, konkrete Angebote zu schaffen und den Anforderungen des demografischen Wandels an kulturelle Teilhabe gerecht zu werden. Darüber hinaus zeigt sie eine Perspektive auf, wie die von ihr gewählte Forschungsmethode eine Entwicklung von gelingenden Unterrichtsangeboten an verschiedenste Zielgruppen ermöglicht, insofern ist „Klavierunterricht mit dementiell erkrankten Menschen“ trotz der im Titel enthaltenen Eingrenzung ein auch die allgemeinen Grundlagen der Instrumentalpädagogik erweiterndes Buch. Aus Sicht der Sozialen Arbeit wiederum ist zu hoffen, dass die lebendige Schilderung des Unterrichtes entsprechenden Bedarf weckt und durch Nachfrage auch ein dauerhaftes instrumentalgeragogisches Angebot entsteht.
Rezension von
Prof. Dr. Thomas Grosse
Professor für Ästhetische Kommunikation mit Schwerpunkt Musik in der Sozialen Arbeit, Rektor der Hochschule für Musik Detmold
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Es gibt 8 Rezensionen von Thomas Grosse.
Zitiervorschlag
Thomas Grosse. Rezension vom 12.12.2013 zu:
Eva-Maria Kehrer: Klavierunterricht mit dementiell erkrankten Menschen. Ein instrumentalgeragogisches Konzept für Anfänger. Waxmann Verlag
(Münster/New York/München/Berlin) 2013.
ISBN 978-3-8309-2805-8.
Reihe: Musikgeragogik - Band 2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15492.php, Datum des Zugriffs 02.11.2024.
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