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Andreas Knuf, Matthias Hammer (Hrsg.): Die Entdeckung der Achtsamkeit

Rezensiert von Prof. Kurt Fellöcker, 07.01.2014

Cover Andreas Knuf, Matthias Hammer (Hrsg.): Die Entdeckung der Achtsamkeit ISBN 978-3-88414-550-0

Andreas Knuf, Matthias Hammer (Hrsg.): Die Entdeckung der Achtsamkeit. In der Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2013. 300 Seiten. ISBN 978-3-88414-550-0. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 53,90 sFr.
Reihe: Fachwissen.

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Thema

Betrachtet man die Veröffentlichungen der letzten Jahre vor allem im Bereich der Verhaltenstherapie, kommt man kaum um den Begriff der Achtsamkeit herum. Sei es nun die Arbeit an der Verbesserung der Wirksamkeit dieser Therapieform, eine Reaktion auf die Ökonomisierung und Flexibilisierung der Gesellschaft oder einfach ein Modethema mit Wurzeln im Zen-Buddhismus, die Auseinandersetzung mit Achtsamkeit scheint zu boomen. Die beiden Herausgeber des vorliegenden Buches konstatieren, dass Meditation, Spiritualität und fernöstliche Weisheit noch bis vor wenigen Jahren im klinischen Bereich etwas Anrüchiges und Unprofessionelles hatten, was sich aber nun gründlich wandelt (S.11). Achtsamkeit als Konzept das innere Zufriedenheit, Lebensfreude und Wohlbefinden fokussiert und nebenbei hilft mit Symptomen einer Krankheit besser umgehen zu können, scheint sich als wichtige Ergänzung eines am Funktionieren orientierten Gesundheitssystems zu etablieren.

Herausgeber

Andreas Knuf arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in Konstanz. Matthias Hammer ist Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in Stuttgart. Beide Herausgeber haben langjährige Erfahrung mit psychiatrischen Erkrankungen und verfügen über eine jahrelange Praxis in Achtsamkeit und Meditation. Sie leiten Seminare und Fortbildungen und bieten die Zusatzqualifikation zur „Achtsamkeitsorientierten Beratung“ an. Im Buch kommen weitere 17 Autorinnen und Autoren, ausnahmslos mit profundem professionellen Hintergrund, zu Wort.

Entstehungshintergrund

Die Veröffentlichung eines weiteren Buchs zum Thema Achtsamkeit wäre den Herausgebern zufolge wahrscheinlich entbehrlich, aber das vorliegende Werk ist das erste deutschsprachige Buch, das sich mit der Anwendung des Achtsamkeitskonzepts speziell für den psychiatrischen und sozialpsychiatrischen Kontext und die Arbeit mit Menschen mit psychiatrischen Krankheitsbildern beschäftigt. Obwohl im Buch dann auch konkrete psychotherapeutische Einsatzmöglichkeiten des Achtsamkeitskonzepts beschrieben werden, ist die Zielgruppe viel weiter. Es geht um die Frage wie eine achtsamkeitsorientierte Arbeitsweise für alle Berufsgruppen, die mit psychisch kranken Menschen arbeiten aussehen könnte. Als konstitutiv für diese Arbeitsweise wird die Etablierung einer Grundhaltung gesehen, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ermöglicht ihre eigene Achtsamkeit zu fördern und kleinere Achtsamkeitsübungen in den sozialpsychiatrischen Alltag integriert.

Aufbau und Inhalt

Noch in der Einleitung wird darauf verweisen, dass Achtsamkeit bedeutet: Vor jedem Verändern kommt das Annehmen. Zielorientierung und Symptomfokussierung der Psychiatrie wird im Achtsamkeitsansatz kritisch hinterfragt, denn die Genesung wird oft nicht allein durch ein Symptom verhindert, sondern ganz wesentlich dadurch, wie der Betroffene damit umgeht (S.14).

Im ersten Teil des Buches wird der Achtsamkeitsbegriff definiert und ein kurzer Überblick über die psychotherapeutischen und psychiatrischen Ansätze gegeben, die sich mit Achtsamkeit auseinandersetzen. Die Definition erfolgt mit Rückgriff auf Jon Kabat-Zinn, der Achtsamkeit als besondere Form der Aufmerksamkeit sieht, die 1. auf das bewusste Erleben des aktuellen Augenblicks gerichtet, 2. absichtsvoll sowie 3. nichtwertend ist. Nach kurzen historischen Betrachtungen wird die Bedeutung von Achtsamkeit in anderen Therapierichtungen diskutiert, wobei nicht verschwiegen wird, dass z.B. Sigmund Freud eine recht kritische Einstellung zu meditativen Verfahren hatte. Es folgen kurze Vorstellungen von unterschiedlichen verhaltenstherapeutischen Programmen, die schon zielgruppenorientiert bwz. störungsspezifisch konzipiert sind, wobei einige der Programme von der dringenden Notwendigkeit einer Verankerung der Therapeutin/ des Therapeuten im Zen-Buddhismus (Vipassana Meditation) ausgehen, andere kurze Workshops als ausreichend für die Anwendung bezeichnen. Das Kapitel „Basiskonzepte und Wirkmechanismen achtsamkeitsorientierter Verfahren“ (S. 30) hat für das Verständnis des Konzepts eine zentrale Bedeutung. Die Grundlagen: Bewusste Aufmerksamkeitslenkung statt Autopilotmodus, Innerer Beobachter, Akzeptanz und Achtsamkeit und die Entwicklung von Selbstmitgefühl, Achtsamkeit und die Entwicklung von Selbstmitgefühl und Erfahrungsorientierung und Erfahrungsvermeidung seien an dieser Stelle ohne weitere Erklärungen genannt. Der Grundsatz: „sich vom Denkprozess distanzieren zu können“ wird beschrieben als das Erlernen von „kognitiver Defusion“ eine dem Rezensenten eher unbekannte Wortschöpfung, die aber ev. ihre Entsprechung in der Rede von der Verwechslung von Speisekarte und Essen in der systemischen Therapie, bzw. dem Unterschied zwischen Inszenierung und Wirklichkeit in der Psychodramatherapie findet und damit gut anschlussfähig ist.

Es folgt ein Kapitel von Andreas Knuf zur achtsamen Haltung psychiatrisch Tätiger, die als Elemente einer solchen Haltung fünf Aspekte beschreibt: gegenwärtig sein oder präsent sein, „annehmend“ sein, Mitgefühl aufbringen, einen Sein-Modus wählen und Offenheit oder „Anfängergeist“, wobei der Sein-Modus in Abgrenzung zum Tun-Modus dargestellt wird und helfen soll wahrzunehmen und nicht sofort zu verändern. Der Autor akzentuiert, dass eine achtsame Haltung nicht institutionell eingefordert werden kann, sondern sich aus der Entscheidung der Fachpersonen für eine persönliche Achtsamkeitspraxis ergeben kann (S. 58). Noch sind die Angebote an Achtsamkeitsunterweisungen in Studienrichtungen eher selten und Fachpersonen lernen Achtsamkeit oft in privaten Zusammenhängen, wie verschiedene Meditationsformen, Yoga-Übungspraxis, Thai Chi oder sogar in längeren Achtsamkeitsretreats. Schließlich folgen Gedanken zur Implementierung und zur Wirkung einer achtsamen Haltung, denen nicht zu widersprechen ist, nicht zuletzt, weil sich viele dieser Haltungen mit ethischen Standards der in der Psychiatrie tätigen Fachleute wohl überschneiden.

Das dritte und letzte Kapitel des ersten Teils wurde von beiden Herausgebern verfasst und widmet sich der achtsamkeitsorientierten Arbeit mit Sinnesreizen, Gedanken und Gefühlen. Hier werden konkrete Übungen in den genannten Bereichen sehr nachvollziehbar dargestellt und zur Arbeit mit Menschen mit psychischen Krisen anempfohlen.

Der zweite Teil des Buches widmet sich störungsspezifischen Ansätzen und besonderen Arbeitsfeldern und der erste Beitrag von Georg H. Eifert fokussiert die Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) bei Angststörungen. Die ACT geht von einem der Angststörung vorangehenden Vermeidungsverhalten aus, dem mit Akzeptanz zu begegnen ist, das aber auch anhand der Wertvorstellungen der Betroffenen verändert werden kann. Die Behandlung verläuft in gut beschriebenen, fast schon manualisierten Phasen (S. 87), die durchaus ungewöhnliche und kreative Techniken enthalten (Therapeut spielt Angst-Monster, S. 93), die in der Verhaltenstherapie in der Regel wohl nicht erwartet werden. Auch der schon oben erwähnte Begriff der „kognitiven Defusion“ spielt eine zentrale Rolle im ACT-Verfahren. Obwohl der Autor sich über die Frage, inwieweit es für TherapeutInnen und Therapeuten notwendig ist „“Fertigkeiten wie Achtsamkeit und kognitive Fusion (sic!) selbst zu erlernen“ (S. 104) letztlich nicht äußert, wird festgestellt, dass viele ACT-Therapeuten an Selbsterfahrungsworkshops teilnehmen.

Achtsamkeitsprozesse und Werteorientierung in der Behandlung von traumatisierten Menschen von Herbert Assaloni ist der nächste Artikel im vorliegenden Buch und stellt zunächst die bekannten Standards in der Behandlung von traumatisierten Menschen dar. Schließlich wird der Wert von Achtsamkeitsübungen für diese Zielgruppe diskutiert und gleichzeitig darauf hingewiesen, dass darauf zu achten ist, dass der Patient durch die Aufmerksamkeitsfokussierung nach innen nicht überflutet wird (S.111). Schließlich wird die ACT als geeignetes Verfahren für die Behandlung traumatisierter Menschen dargestellt, wobei das Ziel der Traumaexposition allerdings aufrecht erhalten bleibt, was dem Rezensenten auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint, weil damit unklar bleibt, ob ACT ein eigener Behandlungsansatz ist oder nur die Vorbereitung auf die Exposition. Am Ende des Kapitels wird zu Gunsten der Prävention von Sekundärtraumatisierungen für eine ausführliche Achtsamkeitspraxis der Therapeutin / des Therapeuten plädiert.

Der nächste Beitrag der Autorinnen Katherine Newman Taylor und Nicola Abba behandelt die Achtsamkeitsorientierung bei Psychosen, deren Beitrag zur Behandlung derzeit noch kontrovers diskutiert wird. Anhand einer Fallgeschichte argumentieren die Autorinnen den Nutzen der Achtsamkeit für dieses Störungsbild, stellen aber auch mögliche Vorbehalte dar und versuchen in der Folge einige Anpassungen vor allem in der zeitlichen Dauer der Meditationen. Die Autorinnen sprechen sich schließlich für eine regelmäßige persönliche Meditationspraxis der Therpeutinnen und Therapeuten aus.

Zeno Kupper betitelt seinen Beitrag: Die Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie der Depression und bezieht sich auf ein Gruppenprogramm zur Rückfallprophylaxe bei rezidivierenden Depressionen, der Mindfulness-Based Cognitive Therapy (MBCT). Das Programm orientiert sich stark am schon erwähnten Ansatz von Jon Kabat-Zindel, richtet sich aber nun auf depressive Störungen. Psychologische Risikofaktoren, die für den Rückfall verantwortlich gemacht werden, wie der Autopilot-Modus (automatisiertes Verhalten) und die kognitive Reaktivität (Reaktivierung depressiver Denkmuster mit der Tendenz diese Gedanken für die Realität zu halten) sollen beeinflusst werden. Interessant dabei ist der gravierende Unterschied zwischen MBCT und bisherigen kognitiv-verhaltenstherapeutischen Ansätzen (S. 164), während in der KVT die Inhalte von Gedanken bearbeitet werden, sieht die MBCT den Schwerpunkt in der achtsamen Begegnung der gegenwärtigen Gefühle, Gedanken, Körperempfindungen und allen weiteren Erfahrungen. Diese Unterschiede erklären ev. auch, warum im MBCT Programm der Achtsamkeit ein weitaus größerer Raum als den spärlich integrierten KVT-Übungen eingeräumt wird. Die acht Sitzungen des MBCT Programms werden gut detailliert beschrieben und orientieren sich an den schon oben erwähnten Grundlagen. Auf die Notwendigkeit des Übens zwischen den Sitzungen (täglich rund eine Stunde) wird hingewiesen, für depressive Menschen sicher eine große Herausforderung und nur bei entsprechender Strukturierung und Selbstdisziplin erfüllbar. Auch die Grenzen des Verfahrens werden diskutiert: MBCT Gruppen können keine Zeit zur Besprechung von aktuellen Problemlagen bieten und Interaktion in der Gruppe kann kein Thema sein. Für Personen mit ausgeprägten interpersonellen Problemen ist MBCT daher je nach Ausmaß der Schwierigkeiten nicht geeignet (S. 170), was den Kreis der potentiellen Teilnehmerinnen und Teilnehmer m.E. doch relativ einengen wird. Der spannende Beitrag wird mit einer langen Liste von persönlichen Erfahrungen von Fachleuten fortgesetzt und mit Anregungen für die Umsetzung in der sozialpsychiatrischen Alltagspraxis abgeschlossen.

Es folgt ein Beitrag zur Achtsamkeitsbasierten Therapie bei Substanzabhängigkeit von Oliver Kreh, das eigentlich ein Rückfallpräventionsprogramm nach stationärer Entwöhnungstherapie darstellt. Das Programm geht auf G. Alan Marlatt zurück, der sein Mindfulness-Based Relapse Prevention (MBRP) Programm in starker Anlehnung an das schon erwähnte Programm von Jon Kabat-Zinn entwickelte. Im Beitrag werden typische Übungen vorgestellt, ein Vergleich mit dem 12-Schritte Programm der Anonymen Alkoholiker versucht und mögliche Anpassungen für den Einsatz künftiger MBRP-Programme im deutschsprachigen Raum reflektiert.

Hans Gunia, Corinna Gonzalez Pochanke und Franz Schmidt stellen in ihrem Beitrag zu Achtsamkeitsgruppen in der psychiatrischen Versorgung von Borderlinepatienten die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) nach Marsha M. Linehan in den Mittelpunkt. Die DBT versteht sich als störungsspezifische Therapie, die auf der Basis der Verhaltenstherapie entwickelt wurde, in manualisierter Form vorliegt und die Verhaltenstherapie ergänzt durch Elemente aus humanistischer Therapie und Hypnotherapie. Die Therapie wird von einer Lebenseinstellung getragen, die dem Zen-Buddhismus entlehnt ist (S.207). Schließlich werden Achtsamkeitsgruppen innerhalb und außerhalb von DBT-Stationen mit konkreten Übungsfeldern diskutiert und der Beitrag endet mit der Befürchtung, dass Patientinnen und Patienten durch solche Gruppen „geschleust“ werden könnten ohne sich freiwillig dafür zu entscheiden und profund in das Konzept eingeführt zu werden.

„Die Implementierung von Achtsamkeit im Team einer Psychotherapiestation“ von Christoph Fuhrhans, reflektiert die Entwicklung einer Achtsamkeitskultur in einer Schweizer Privatklinik nach dem Muster: 1. Mache Achtsamkeit mit dir selbst, 2. Mache Achtsamkeit mit deinem Team, 3. Mache Achtsamkeit mit deinen Patienten (S.224). Die Einführung von DBT (s.o.) in der Klinik führte zu einer starken Anlehnung an Achtsamkeitskonzepte und Zen-Buddhismus und es zeigte sich, dass auch nach Einführung anderer Therapiekonzepte und organisatorischen Veränderungen die einmal erworbene Achtsamkeitshaltung des Teams zum Abbau von Verunsicherungen und für eine gemeinsame Identität genützt werden konnte. Als Konsequenz einer achtsamen Haltung wird vom Autor die Praxis des „tätigen Mitgefühls“ (wie es in der Mahyana- oder der Vipassana Tradition gelehrt wird) genannt. Die Implementierung verlangt vor allem ein Einverständnis aller Teammitglieder und dann natürlich entsprechende Workshops und Trainings, gewidmete Teamklausuren und adäquat gestaltete Teammeetings.

Der letzte Beitrag im zweiten Teil des Buches stammt von Thomas Heidenreich und Marion Laging und titelt mit: Achtsamkeit in der Sozialen Arbeit: Ansatzpunkte und Potenziale. Zuerst wird Soziale Arbeit in den psychiatrischen Arbeitsfeldern dargestellt, bevor Implementierungen auf den verschiedenen Ebenen angedacht werden. Vier unterschiedliche Modi der Integration von Achtsamkeit in die Soziale Arbeit werden erkannt: 1. Durchführung standardisierter Programme (Mindfulness-Based Stress Reduction und MBRP), 2. achtsamkeitsinformierte Beratung und Behandlung, 3 achtsame Haltung bzw. Achtsamkeit für die Gestaltung der therapeutischen Beziehung, 4. Achtsamkeit im Rahmen der Selbstfürsorge. Die Autorin und der Autor sind überzeugt, dass die derzeit noch eher minimalistische Rezeption im deutschen Raum von der Dissemination aus dem angloamerikanischen Raum profitieren wird.

Der dritte Teil des Buches widmet sich den Forschungsergebnissen zur Wirksamkeit. Der erste Beitrag endet mit einer „optimistischen Warnung“, die sich darauf begründet, dass achtsamkeitsbasierte Ansätze bei manchen psychischen Störungen und bei der Bewältigung schwerer körperlicher Erkrankungen wirken können, eine generalisierte Aussage über den Einsatz bei schweren psychiatrischen Störungsbildern aber nicht möglich ist. Eine Warnung ergibt sich auch aus der Befürchtung, dass die zunehmende Verbreitung achtsamkeitsbasierter Interventionen dazu führen kann, dass der Einsatz unkritisch und wenig professionell vonstatten geht. Daran schließt ein Beitrag „Mechanismen der Achtsamkeit: eine Betrachtung aus konzeptueller und neuronaler Perspektive von Britta K. Hölzel, Tim Gard und Ulrich Ott an, der die Komponenten der Achtsamkeit einzeln vorstellt, die empirische Datenlage zusammenfasst und die möglichen neuronalen Komponenten beschreibt. Das letzte Kapitel ist ein Interview mit den beiden Herausgebern unter dem Titel: Achtsamkeit: eine Vision für den psychiatrischen Alltag, das besonders eiligen LeserInnen und Lesern als Einstieg und Kurzfassung der Grundideen des Buches empfohlen werden kann.

Eine Vorstellung der Autorinnen und Autoren und ein Literaturverzeichnis beenden das Buch

Diskussion

Die Herausgeber legen ein vielschichtiges Werk zum Thema der Anwendung von Achtsamkeit in der Arbeit mit psychisch kranken Menschen vor. Ausgehend von einem Verständnis der Achtsamkeit im Zen-Buddhismus (Vipassana Meditation) wird mit Aspekten einer Säkularisierung Achtsamkeit als Therapieform und Achtsamkeit als Lebensführung konstruiert und für bestimmte Aufgaben (Trainings, Weiterbildungen) doch wieder die spirituelle Form eingefordert. Die von US-amerikanischen Autorinnen und Autoren übernommenen, zum größten Teil manualisierten Mindfullness-Based Programme werden nachvollziehbar dargestellt und zum Teil störungsspezifisch zugeordnet. Aufmerksamkeitshinlenkung auf das unmittelbare Erleben im Hier und Jetzt, aber auch die Auseinandersetzung mit scheinbar automatisch ablaufenden Verhaltensmustern (im Buch „Autopilot“ genannt) und „kognitive Defusion“ (die Unterscheidung von Vorstellung und Wirklichkeit) sind schließlich auch Teile vieler anderer Therapierichtungen und bewährte Konzepte. Eine theoretische Verankerung der Programme in der Verhaltenstherapie kann nur im Ansatz erkannt werden, weshalb der Eindruck entsteht, dass die Verhaltenstherapie hier auf ein methodenfremdes Konzept zurückgreift. Manche der Programme (z.B. ganz ausdrücklich die dialektisch-behaviorale Therapie) greifen aber auch auf humanistische Therapierichtungen und auf die Hypnotherapie zurück, was für erfahrene Fachpersonen ev. kein großes Problem darstellt, wahrscheinlich aber nicht ganz einfach erlernbar ist. Das vorliegende Buch möchte aber noch mehr, nämlich Achtsamkeit als professionsübergreifende Haltung in der psychiatrischen und sozialpsychiatrischen Arbeit vorschlagen. Die Vorteile liegen auf der Hand: die involvierten Professionen hätten eine gemeinsame Grundeinstellung, eine gemeinsame Sprache, im Team auch eine gemeinsame Lebenskunst und z.T. auch eine gemeinsame Spiritualität. Es wird jedoch auch nicht verschwiegen, was die Anforderungen dafür sind: eine klare Entscheidung jedes Einzelnen für ein bestimmtes Weltbild, für das nicht gerade unaufwändige Erlernen von Meditationstechniken mit täglichen Übungen bis hin zur Bedienung von Klangschalen in Teamsitzungen (S.235). Kennt man jedoch den Alltag in psychiatrischen Kliniken, ist eine Verbesserung der Achtsamkeit im Umgang mit den Patientinnen und Patienten eine naheliegende Vision und könnte das, was andere Therapierichtungen „Empathiefähigkeit“ oder „Einladung zur Begegnung“ nennen, für die Verhaltenstherapie realisieren. Als weiterer Zugang zu Achtsamkeit wird zwar Yoga erwähnt, nicht aber andere typische und ev. leichter erlernbare Techniken, wie Qigong oder Thai Chi, wofür im Bereich der körperlichen Gesundheit schon positive Forschungsergebnisse vorliegen würden.

Bei den im Buch angeführten Forschungsergebnissen muss die Durchführung vieler Studien positiv erwähnt werden. Allerdings ist die Darstellung nicht sonderlich präzise (die erforderliche Kontrolle von Störvariablen wird nicht erwähnt) und zumeist wurden inaktive Kontrollgruppen (Warteliste) untersucht. Hier müssen zwar noch Anstrengungen erfolgen, allerdings schließt sich der Rezensent den AutorInnen an: man darf hier wirklich optimistisch sein.

Fazit

Die Herausgeber legen ein vielschichtiges Werk zum Thema der Anwendung von Achtsamkeit in der Arbeit mit psychisch kranken Menschen vor. Die klar strukturierten Übungen und die manualisierten Therapieprogramme laden zur sofortigen Umsetzung ein und stellen auf den ersten Blick eine leicht erlernbare Therapiemethode dar. Nicht alle, aber doch die meisten Autorinnen und Autoren empfehlen zwar eine eigene langjährige und tägliche Meditationspraxis der psychiatrischen Fachpersonen, allerdings ist die Gefahr einer Überschätzung der eigenen manualgestützten Achtsamkeitskompetenz der Anwenderinnen und Anwender nicht zu übersehen. Auf die Notwendigkeit von klinischer Erfahrung wird durchgängig hingewiesen. Der geforderten Achtsamkeit als professionsübergreifende Haltung in der psychiatrischen und sozialpsychiatrischen Arbeit ist eine Umsetzung in die Praxis im Sinne der Patientinnen und Patienten nur zu wünschen, allerdings bleibt abzuwarten, ob sich die psychiatrischen Fachpersonen für den damit verbundenen hohen Aufwand entscheiden können, die im Buch erwähnte Gefahr einer Verwässerung und halbherzigen Durchführung besteht jedenfalls. Eine theoretische Fundierung der Achtsamkeit in der Verhaltenstherapie wäre noch wünschenswert und konkretere Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit müssen noch abgewartet werden.

Rezension von
Prof. Kurt Fellöcker
MA, MSc, DSA, Psychotherapeut (PD), Fachhochschule St. Pölten
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ISSN 2190-9245