Arnulf Bojanowski, Martin Koch et al. (Hrsg.): Einführung in die Berufliche Förderpädagogik
Rezensiert von Dipl.-Hdl. Dr. phil. Klaus Halfpap, 24.10.2013
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Arnulf Bojanowski, Martin Koch, Günter Ratschinski, Ariane Steuber (Hrsg.): Einführung in die Berufliche Förderpädagogik. Pädagogische Basics zum Verständnis benachteiligter Jugendlicher.
Waxmann Verlag
(Münster/New York/München/Berlin) 2013.
288 Seiten.
ISBN 978-3-8309-2760-0.
D: 24,90 EUR,
A: 25,60 EUR,
CH: 35,50 sFr.
Reihe: Waxmann Studium.
Thema
Das Werk führt in das Verständnis benachteiligter Jugendlicher und deren pädagogische und berufliche Förderung ein. Zu dieser Thematik gibt es zwar zahlreiche Stellungnahmen und Veröffentlichungen. Es fehlt aber „an Leitlinien bzw. organisierenden Kategorien, die helfen, dieses Feld zu erschließen“ (so im Bucheinband zu lesen). Dies ist das Ziel dieses Buches, in dem erste Überlegungen zu einer Kollektiv- und Arbeitserziehung zu Beginn des 20. Jahrhunderts – von Makarenko vorgelegt – und zusammengeführt werden mit neuen Erkenntnissen der Sonderpädagogik, der Berufs- und Wirtschaftspädagogik, der Sozialpädagogik und der Schulpädagogik (251 ff.).
Herausgeber und Herausgeberin
und weitere AutorInnen sind neben den genannten Personen weitere Forscher und Forscherinnen vor allem an der Leibniz Universität Hannover, Institut für Berufspädagogik und Erwachsenenbildung. Verantwortlich ist Prof. Dr. Arnulf Bojanoswki.
Entstehungshintergrund
ist das von Bojanoswki 2005 vorgestellte „Drei-Waben-Modell“ zur Topologie der Beruflichen Förderpädagogik im (beruflichen) Übergangssystem von vorberuflicher und beruflicher Förderung vor allem benachteiligter Jugendlicher in Schulen (der Sekundarstufe I und II), Betrieben und Maßnahmen anderer Träger. Ziel ist der Wunsch, „die Benachteiligtenförderung auf ihrem derzeitigen Stand umfassend anschlussfähig darzustellen“ (13).
Aufbau
Auf der Grundlage der vier genannten „Hauptpädagogiken“ werden in jeweils sechs Kapiteln die Wabeneckpunkte erläutert, beispielhaft illustriert, theoretisch fundiert, als „Unser Credo“ zusammengefasst und praktische Anregungen zur Umsetzung gegeben.
In der Wabe I „Grundannahmen und Setzungen“:
1. Menschenbild und Pädagogische Individualisierung
2. Kompetenzfeststellung und Förderplanung
3. Curriculum und Didaktik
4. Professionalisierung des Fachpersonals
5. Pädagogische Organisation
6. Produktorientierung und Beruflichkeit
In Wabe II „Zentrale Debatten“:
7. Zielgruppen
8. Pädagogische Grundhaltungen und Leitideen
9. Übergangsverläufe und biographische Karrieremuster
10. Kooperation und Netzwerkbildung
11. Übergangssektor
12. Produktionsschule: Didaktisches Vorbild
In Wabe III „Gesellschaftliche Einbettungen“:
13. Exklusion und Desintegration
14. Rechtliche Rahmenbedingungen und administrative Steuerung
15. Zur Finanzierung der Benachteiligtenförderung
16. Milieu und Lebenswelt
17. Politischer Diskurs: Das Beispiel „Ausbildungsreife“
18. Zur Wissensentwicklung der Beruflichen Förderpädagogik
Mit einem umfangreichen Literaturverzeichnis wird das Werk leider ohne ein Sachregister und Angaben zu den Autoren/innen abgeschlossen.
Inhalt
Im Vorwort (7 ff.) erfolgt eine Einführung in das Thema des Buches mit einer Vorstellung des „Drei-Waben-Modells“, das inhaltlich dieser Einführung zugrunde liegt (s. o.).
Im Verständnis der pädagogischen Anthropologie wird das optimistische humanistische Menschenbild skizziert, zu dessen „Menschwerdung“ Sozialisation und Erziehung notwendig sind (17 ff.). „Unsere Leitidee, ein individualisierter Unterricht, ist geprägt von der Erkenntnis, dass jeder Mensch, insbesondere Heranwachsende, ein Recht auf eine ihm angemessene Förderung hat“ (18). Insofern ist diese Leitidee zur „Bewusstmachung des eigenen Menschenbildes“ (19) für alle Pädagogen prägend, die dieser Erkenntnis folgen, und bezieht sich nicht nur auf die Erziehung und Bildung benachteiligter Jugendlicher, was diesem Buch grundsätzliche Bedeutung zukommen lässt. Pädagogische Individualisierung wird in den direkten Zusammenhang mit dem aktuellen Thema der Heterogenität gestellt (25 f.).
Die Themenaspekte des 2. Kapitels (Titel s. o.) werden differenziert entfaltet (31 ff.) und auch sozialisationsbedingte geschlechtsspezifische Unterschiede in den Kompetenzen sowie Forschungsdefizite bei der Kompetenzfeststellung hervorgehoben (39 f.).
„Curriculum und Didaktik“ (43 ff.) werden für die Berufliche Förderpädagogik akzentuiert und mit einem anschaulichen Beispiel aus der Praxis zur Förderung von selbstgesteuertem Lernen konkretisiert (45 ff.). „Anregende didaktische Ansätze“ führen dazu, dass auch hier Handlungsorientierung leitend ist (51).
Im 4. Kapitel (57 ff.) werden die in diesem Bereich Tätigen ins Zentrum der Betrachtung gestellt: „im Schnittfeld von Jugendberufshilfe, Berufsausbildung und Ausbildungsvorbereitung“. Diesen Mitarbeitern ist häufig eines gemeinsam: „Sie wurden in ihren Berufsausbildungen i. d. R. nicht auf die Arbeit mit der heterogenen Gruppe der benachteiligten und häufig verhaltensauffälligen Jugendlichen vorbereitet“ (61). Deren Professionalisierung muss vorangetrieben werden; wie, wird skizziert (65 f.).
Im 5. Kapitel werden Qualitätsentwicklung und interne Kooperation thematisiert (69 ff.), da in diesen pädagogische Organisationen den jungen Menschen ein orientierender Rahmen gegeben werden soll. Die dazu notwendige Organisationskultur wird ausführlich erläutert und in Merkpunkten für deren Entwicklung zusammengefasst (79 f.); in Praxistipps können sie übend vertieft werden.
„Kompetenzbetonung statt Defizitausgleich“ ist ein entscheidendes Prinzip für die Themenschwerpunkte vom 6. Kapitel (Titel s. o.); hier geht es um „Konkretes“ (83 ff.) auch unter Berücksichtigung der starken Veränderungen im Berufsleben.
Im 7. Kapitel werden die „Zielgruppen“ (97 ff.) in der Terminologie seit 1980 (also nicht mehr Ungelernte, Jungarbeiter oder Randgruppen) klassifiziert, die besonderen Förderbedarf haben, wobei individuelle und soziale Faktoren in ständiger Wechselwirkung stehen (99). Fünf Gruppen „Benachteiligter“ werden charakterisiert und problematisiert hinsichtlich ihrer adressatenorientierten Förderungsmöglichkeiten (101 ff.).
In einem Einzelbeitrag als Kapitel 8 (Titel s. o.) erfolgt von Bojanoswki die theoretische Fundierung dieses Ansatzes der Beruflichen Förderpädagogik (111 ff.). Dazu bezieht er sich auf die beiden Vorbilder Maria Montessori und Anton S. Makarenko sowie das sonderpädagogische Konzept „Teilkarrieren“ und „Alltagsbegleitung“ und das sozialpädagogische Konzept „Lebens- und Alltagsorientierung“. Weiterhin knüpft er an die bildungspolitische Leitnorm „Ausbildung für alle“ an sowie die sozialpädagogisch orientierte Berufsausbildung der 1980er Jahre und führt auf dem Weg zur Beruflichen Förderpädagogik dann zur Herausarbeitung der Bedeutung des „Tätigkeitsbezugs“ (121) auf der Grundlage der Tätigkeitstheorie der „kulturhistorischen Schule (Leontjew, Wygotski).
„In keinem anderen Bildungsbereich wird so willkürlich und verschwenderisch mit Ressourcen und Kompetenzen junger Menschen umgegangen wie im Benachteiligtenbereich“ konstatieren die Autoren von Kapitel 9 (125 ff.). Denn die haben die „Betroffenen“. Das wird ausführlich dargelegt (und kann der Rezensent aus eigener Erfahrung mit der Arbeit mit Jungarbeiter/innen in den 1970er Jahren bestätigen).
Die unabdingbare „Kooperation und Netzwerkbildung im Praxisfeld der Förderpädagogik wird im 10. Kapitel thematisiert (137 ff.); denn „benachteiligte Jugendliche brauchen zusammenhängende Förderangebote … auf allen Ebenen“ (138). Konkurrenzsituationen und unproduktive Maßnahmenverdoppelungen sollten vermieden werden (146).
„Ein Puffer zwischen Schule und Beruf“ ist der Übergangssektor, dem sich Kapitel 11 widmet (149 ff.). Er „hat erst in den letzten 30 Jahren Konturen gewonnen“ und hat fünf Wurzeln (153 ff.): die Produktionsschule (Berufspädagogik), die Jugendwohlfahrtspflege (Sozialpädagogik) – angestoßen von der Jugendsozialarbeit der 1950er Jahre –, die Arbeitsförderung durch die Arbeitsverwaltung, Benachteiligtenprogramme von Europa, Bund, Ländern und Kommunen sowie die Berufsbildungswerke.
Die Produktionsschule wird als didaktisches Vorbild besonders im nächsten Kapitel ausführlich bearbeitet (165 ff.) – leider nur entsprechend ihrer Entwicklung aus dem gewerblich-technischen Arbeitsbereich und der Weiterentwicklung in Dänemark ohne auch die lange Tradition des Lernbüros (vormals Übungskontor) an kaufmännischen – inzwischen auch an allgemeinbildenden – Schulen als Arbeits- und Lernstätten (wenn auch „nur“ im „Schonraum“, aber sehr realitätsbezogen,) der Schulen in Modellbetrieben einzubeziehen. Auf die kulturelle, weniger die kommunikationsfördernde Bedeutung der Raumgestaltung wird kurz eingegangen (174).
Im 13. Kapitel (183 ff.) werden gesellschaftliche Wirkfaktoren diskutiert, „die sich auf die reale Ausschließung junger Menschen aus dem Bildungswesen und dem Arbeitsmarkt ergeben.“ Diese sehr differenzierte aufschlussreiche Analyse führt u. a. konsequent zum abschließenden „Praxistipp“, sich stärker mit dem Thema Inklusion zu beschäftigen (194).
Im 14. Kapitel (Titel s. o.) wird in das diffizile Gebiet der rechtlichen Grundlagen eingeführt, die die gesamte Benachteiligtenförderung steuern und „auch erheblichen Anteil an der Konstruktion benachteiligter Zielgruppen“ haben sowie die Übergänge und Förderperspektiven formatieren (195 ff.). Die müssen „mit individuellen Wünschen, Fähigkeiten und Perspektiven abgestimmt werden“ (205)!
15. wird zur „Finanzierung der Benachteiligtenförderung“ Stellung bezogen (207 ff.): fast ausschließlich als „öffentliche Aufgabe“ (207) und in den letzten 40 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland völlig naturwüchsig entstanden“ (220).
Ausführlich und interessant werden 16. „Milieu und Lebenswelt“ der Jugendlichen entfaltet (223 ff.). Es gilt, die Sichtweise der Jugendlichen zu berücksichtigen, wie umgekehrt auch die Lehrer und Sozialpädagogen „von ihrem Milieu und ihrer Lebenswelt geprägt“ sind (232). Anschauliche Praxisbeispiele führen zur Vertiefung (234 f.).
Im gesellschaftlichen Kontext wird am Beispiel der Ausbildungsreife ein politischer Diskurs geführt: Kapitel 17 (237 ff.). Dabei haben die Betriebspraktika besondere Bedeutung; denn: „der Königsweg zum Erwerb von Selbstwirksamkeit ist die eigene Erfahrung“ (zitiert ohne Hervorhebung; 245).
In die zukünftig notwendige Weiterentwicklung der Förderpädagogik auf wissenschaftlicher Ebene führt Kapitel 18 (251 ff.). „Vernetzung der wissenschaftlichen Disziplinen und Symbiose von Theorie und Praxis“ ist „unser Credo“ – konstatieren die Autoren abschließend (261).
Diskussion
- „Im Gegensatz zur Berufspädagogik versuchen unsere Bestimmungen darauf aufmerksam zu machen, dass nicht allein der Beruf, sondern auch die Annäherung an den Erwerbsarbeitsmarkt sinnvoll ist …“ (91). Wie beurteilen Sie diese Position der Autoren in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Wirklichkeit?
- Sollte der Begriff „Produktionsschule“ in der heutigen Wirtschaftsstruktur der BRD für die Stätte der Kombination von Arbeiten und Lernen zum Zweck der Vorbereitung auf das zukünftige Leben der Jugendlichen, wozu sie qualifiziert werden sollen, nicht besser durch „Modellunternehmen“ (oder: „Modellbetrieb“) mit stärkerer Betonung auch der kaufmännisch-verwaltenden Tätigkeiten ersetzt werden? Ist der traditionelle Begriff der „Produktionsorientierung“ in Werkstätten (83 ff.) noch zeitgemäß?
- Berufsorientierende Bildungsangebote sollten „bereits im Kindesalter ansetzen und auf der Basis handlungs- und erfahrungsbezogener Ansätze als Kooperation zwischen Schule, außerschulischer Jugendbildung und Betrieben an die Themen Berufsorientierung und Berufswahl heranführen“ (134). Stimmen Sie dieser Forderung zu?
Fazit
Das Werk ist ein Lehrbuch für Studierende der Pädagogik, das ihnen die Bedeutung der hier thematisierten inhaltlichen und strukturellen komplexen Sachverhalte veranschaulicht und bewusst macht. Es fordert gleichsam zu einem (notwendigen) vertiefenden „Nach“-Studium heraus. Sicherlich wird auch mancher „gestandene“ Theoretiker und Praktiker erstaunt sein über die perspektivreiche Erweiterung seines Wissens und die Anregung zum Reflektieren eigenen Tuns. Dies vor allem auch, weil sich grundsätzliche Darstellungen nicht nur auf die Berufliche Förderpädagogik beziehen, sondern wesentlich für den Bereich der Bildung und Erziehung im Allgemeinen sind, dies gilt z. B. für die handlungstheoretischen Didaktikkonsequenzen, die sich aus der Bezugnahme auf die kulturhistorische Schule beziehen (vgl. Kapitel 8). Das Buch ist klar, verständlich und anschaulich geschrieben, lesefördernd drucktechnisch gestaltet und regt zum Nach-Denken und Nach-Arbeiten an.
Rezension von
Dipl.-Hdl. Dr. phil. Klaus Halfpap
Ltd. Regierungsschuldirektor a. D.
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Zitiervorschlag
Klaus Halfpap. Rezension vom 24.10.2013 zu:
Arnulf Bojanowski, Martin Koch, Günter Ratschinski, Ariane Steuber (Hrsg.): Einführung in die Berufliche Förderpädagogik. Pädagogische Basics zum Verständnis benachteiligter Jugendlicher. Waxmann Verlag
(Münster/New York/München/Berlin) 2013.
ISBN 978-3-8309-2760-0.
Reihe: Waxmann Studium.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15504.php, Datum des Zugriffs 16.01.2025.
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