Vera King, Burkhard Müller (Hrsg.): Lebensgeschichten junger Frauen und Männer mit Migrationshintergrund [...]
Rezensiert von Prof. Simone Gretler Heusser, 12.08.2014
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Vera King, Burkhard Müller (Hrsg.): Lebensgeschichten junger Frauen und Männer mit Migrationshintergrund in Deutschland und Frankreich. Interkulturelle Analysen eines deutsch-französischen Jugendforschungsprojekts.
Waxmann Verlag
(Münster/New York/München/Berlin) 2013.
208 Seiten.
ISBN 978-3-8309-2831-7.
D: 24,90 EUR,
A: 25,60 EUR,
CH: 35,50 sFr.
Reihe: Dialoge – dialogues - 3.
Thema
Thema des Buches sind die Lebensgeschichten junger Frauen und Männer mit Migrationshintergrund, welche in Deutschland resp. in Frankreich aufgewachsen sind.
Herausgeberin und Herausgeber
Herausgeber_in sind Vera King und Burkhard Müller, welche den deutschen Part der Forschungsteamleitung repräsentieren. Zur Erschütterung aller am Buch Beteiligten ist Burkhard Müller im Mai 2013, kurz nach den letzten Korrekturen am vorliegenden Buch, mitten aus seinem Leben gerissen worden.
Entstehungshintergrund
Das Buch ist das Ergebnis eines Forschungs- und Qualifikationsprojektes, welches die Herausgeber gemeinsam mit Lucette Colin und Anna Terzian von der Universität Paris VIII geleitet haben. Junge Forscher_innen haben die Interviews, welche den Analysen in diesem Buch zugrunde liegen, geführt und waren auch an der Auswertung beteiligt. Einige von ihnen haben auch einen Beitrag zum Buch beigesteuert.
Aufbau und Inhalt
Dem Buch liegen insgesamt 20 ausführliche narrative Interviews zu Grunde, zehn aus Deutschland, zehn aus Frankreich. Das Interviewmaterial wurde, dem Ansatz rekonstruktiver Sozialforschung entsprechend, auf die Fragen des Forschungsprojektes hin (siehe unten) abgefragt; jedoch wurde auch die Eigenlogik der biographischen Erzählungen herausgearbeitet.
In den einzelnen Kapiteln des Buches werden aufschlussreiche Kontrastfälle einander gegenübergestellt. Folgende Fragestellungen waren für das Buch erkenntnisleitend:
- Wie beschreiben junge Männer und Frauen mit Migrationshintergrund sich selbst, ihr Leben, ihre Entwicklung und ihre Wahrnehmung des Blicks der Anderen in Deutschland und Frankreich?
- Welche Verknüpfungen zeigen sich zwischen Geschlecht und Migrationshintergrund?
- Wie können Transformationsprozesse vom Kind zum Erwachsenen beschrieben werden? In ihrem Verhältnis zum familiären Umfeld und in Bezug auf gesellschaftliche Rollen?
- Welches sind dabei „significant others“, bedeutsame Andere? Welche bedeutsamen Erlebnisse oder Schlüsselereignisse beschreiben die Interviewten?
- Welche Möglichkeitsräume für die eigene Lebensgestaltung zeigen sich für die Jugendlichen/jungen Erwachsenen und welche Hindernisse, die eigenen Lebensentwürfe zu realisieren, werden erkennbar?
- Welche Erfahrungen haben sie mit Menschen, die anders sind? Welche interkulturellen Kompetenzen schreiben sie sich zu?
- Welche Lebensentwürfe und Zukunftsperspektiven sind damit verbunden?
Das erste Kapitel befasst sich mit dem – spezifischen – Integrationsverständnis in Deutschland und in Frankreich. Das zweite Kapitel behandelt die Lernorte der Interviewten – sowohl die Schule als auch die „Strasse“. Im Kapitel drei geht es um die adoleszente Selbstpositionierung, welche im Spannungsfeld der „doppelten Transformationsanforderung“ (vom Kind zum Erwachsenen und vom/von der „Ausländer_in“ zum/zur „Integrierten“). Im folgenden, vierten Kapiteln werden zwei Fallstudien zu Anerkennung in der Adoleszenz im Kontext von Migrationserfahrung dargestellt. Das Kapitel fünf schliesslich befasst sich mit methodischen Fragen, insbesondere zum Forschen im binationalen und interkulturellen Team.
Diskussion und Fazit
Die gemeinsame Betrachtung von Lebensgeschichten junger Menschen mit Migrationshintergrund aus Frankreich und aus Deutschland hat mich im ersten Moment etwas irritiert: Warum gerade Deutschland und Frankreich? Was ist die Definition von „Migrationshintergrund“? Wo liegt der spezifische Gewinn einer solchen interkulturellen und binationalen Zusammenarbeit? Bei der Lektüre des Buches haben sich diese Zweifel gelegt. Sicher, viele Erkenntnisse könnte man auch aus biographisch-narrativen Interviews ziehen, in welchen der Migrationshintergrund weniger offensichtlich wäre. Die Unterschiede im deutschen und französischen Integrationsverständnis sind zwar bekannt und spiegeln sich erstaunlich klar in den subjektiven Lebensentwürfen der interviewten jungen Menschen wider – allerdings sprechen weder die Autor_innen noch sonst jemand von der Integration, geschweige den von der deutschen oder der französischen Integration. Der einzige Punkt, den ich gerne gerade im ansonsten sehr erhellenden Methodenteil noch detaillierter gelesen hätte, wäre der Umgang mit Interkulturalität resp. Migrationserfahrung im Forschungsteam selber – sowie eventuelle Unterschiede diesbezüglich bei den Lehrenden/Leitenden resp. den jungen Forschenden.
Dieses wunderschön zu lesende und auch in vielen Beiträgen sehr anrührende Buch ist eine ganz spezifische Annäherung und – es fällt mir kein besseres Wort ein – eine Würdigung der Leistung von jungen Menschen um Anerkennung. Ich möchte die Rezension mit einem Zitat aus dem Buch abschliessen, welches die Vielschichtigkeit des Buches vielleicht antönen kann. Es geht dabei um Mostafa, der aus Marokko stammt und zuerst die Eintrittsprüfung in die Elite-Uni hart erarbeiten muss. Dann macht ihm der „11. September“ einen brutalen Strich durch seine Rechnung (er wollte Flugzeugingenieur werden) und schliesslich erklärt er das Scheitern seiner Ehe mit interkulturellen Differenzen: „Ich bekam immer die schwierigsten Aufgaben. Und jedes Mal sagte der Lehrer ‚oppp, eine schwierige Aufgabe für Mostafa!!!‘ Am Ende hat mir das wirklich gefallen (lacht). Lasst mich die Dinge sagen, wie sie sind: er hat mich gebildet, mit seinem Rassismus hat er mich gebildet. Und daher kann ich ihm Danke sagen (sehr breites Lächeln).“
Rezension von
Prof. Simone Gretler Heusser
Dozentin an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
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