Wolfgang Hoops: Pflege als Performance
Rezensiert von Dr. Magnus Treiber, 14.05.2014

Wolfgang Hoops: Pflege als Performance. Zum Darstellungsproblem des Pflegerischen.
transcript
(Bielefeld) 2013.
276 Seiten.
ISBN 978-3-8376-2265-2.
D: 35,80 EUR,
A: 36,80 EUR,
CH: 45,50 sFr.
Reihe: Kultur- und Medientheorie.
Thema
„Pflege als Performance“ zielt darauf ab, das Pflegerische als Darstellung zu fassen, resultierende Probleme zu diskutieren und Konsequenzen für die Entwicklung von Pflegewissenschaft, Pflege(aus)bildung und -praxis zu formulieren.
Autor
Wolfgang Hoops lehrt Pflegewissenschaft und Pflegedidaktik an der TU Dresden und leitet die Berufsfachschule für Altenpflege WBS Training in Dresden.
Entstehungshintergrund
Beim Buch handelt es sich um die Veröffentlichung der Dissertation des Autoren.
Aufbau
Dem einleitendem Problemaufriss folgen eine Kritik konventioneller Pflegetheorien, ein historische Betrachtung des pflegedidaktischen und -wissenschaftlichen Diskurses im deutschen Kontext sowie die Vorstellung der eigentlichen Forschungsfragen. Pflege als Performanz verstehend, schlagen das zweite und dritte Kapitel Bildanalyse und das Konzept des Tableaus als Zugänge zum Pflegerischen vor. Am Mythos Florence Nightingales und seiner bildlichen Ausgestaltung diskutiert der Autor dann die konzeptionelle Krise der Pflegewissenschaft. Zu einer Antwort auf das Darstellungsproblem des Pflegerischen erörtert er schließlich Adornos Überlegungen zur Mimesis und schließt mit Desideraten zur Neukonzipierung des Pflegerischen in Wissenschaft, Ausbildung und Praxis.
Inhalt
„Pflege als Performance“ verfolgt und vereint ein wissenschafts- und ausbildungspolitisches Argument – Pflegewissenschaft und -ausbildung bedürfen einer grundlegenden konzeptionellen Neuausrichtung – mit dem Versuch, hierzu ausgewählte geisteswissenschaftliche Ansätze und Traditionen anzusprechen und zu erschließen. Pflege hat, so könnte man wohl zusammenfassen, im Wortsinne ein Imageproblem. Sie orientiert sich, Hoops zufolge, nach wie vor an überholter Theorie, die von objektiver Wirklichkeit – lediglich aus der professionellen Perspektive der Pflegenden erfasst – und pflegerischem Spiegelstrich- und Textbuch-Wissen ausgeht. Zugrunde liegen Allgemeingültigkeit beanspruchende Bedürfnistheorien alter Schule, die – so viel kann ich als Ethnologe beitragen – über normative Behauptungen kaum hinausgehen. Begründet wird dies in einer kenntnisreichen Nachzeichnung der spezifisch bundesdeutschen Entstehung und Entwicklung von Pflegewissenschaft und -didaktik.
Zu Recht wird hier Positivismuskritik geübt, die Wahrnehmung der unterschiedlichen Akteursperspektiven (Pflegende, Schüler_innen und Pflegebedürftige) eingefordert und zu intellektueller Emanzipation und bildungspolitischer Fortentwicklung aufgerufen. Hoops zielt von Beginn an auf den ihm zentralen Begriff der Darstellung ab und verfolgt einen konstellativen Ansatz, der „das Pflegerische“ über „Verflochtenheit und Beziehung“ (68) zu ergründen sucht. Hier kann eine Pflegetheorie, die Pflege als bloße Ersatzhandlung verstehen will und deshalb von einer prinzipiellen, pflegetechnisch herstellbaren Identität von Pflegenden und Pflegebedürftigen ausgehen muss, kaum differenzierte Antworten bieten. Mit Bezug auf neuere pflegewissenschaftliche Arbeiten und Debatten bezieht Hoops Position und stellt das in der Pflegewissenschaft lange vernachlässigte Moment der Differenz zwischen den Akteuren heraus, das er im fünften Kapitel mit Adornos Verständnis von Identität und Nicht-Identität unterlegt.
Demnach gilt es Differenz und Relation theoretisch auszuleuchten, um einer konventionellen Pflegetheorie aus ihrer intellektuellen Sackgasse zu verhelfen und so auch „Pflegebildung“ und Pflegepraxis zu neuen und nach Hoops überfälligen Impulsen zu verhelfen. Nicht zuletzt hat die ganz berufspraktische Frage, was Pflege denn nun eigentlich tut, selbstverständliche Antworten eingebüßt. „Das Pflegerische“ nämlich lässt sich – mit dem Verlust positivistischer Eindeutigkeit – nicht länger klar konturiert darstellen. Bild und versuchtes Abbild gehen – durch Prozesscharakter, differente Perspektiven und die Spannung intimer, doch inkongruenter Beziehungen – immer über sich hinaus, wie Hoops in der Analyse ausgewählter Bilder zeigt, die unser kulturelles Verständnis von Pflege gleichermaßen begründen wie ausdrücken. Zur beispielhaften Bildinterpretation zieht der Autor Verdis ‚La Traviata‘ und Picassos ‚Cienca y caridad‘ (1897) ebenso heran wie Bildmaterial aus der Zeitung oder dem Werbeprospekt einer Pflegeeinrichtung. Das Bild von Pflege bleibt notwendig unscharf, weil es nicht abzuschließen ist. Dies scheint – wenn ich das aus einer eher randständigen Perspektive richtig verstehe – auch zu einer Verunsicherung des Pflegepersonals, insbesondere der Schüler_innen zu führen. Eine – auch durch zahlreiche Abbildungen – ins Mythische überhöhte Berufs-Heroin wie Florence Nightingale, hilft über diese Verunsicherung nicht länger hinweg.
Mit Verweis auf Foucault und Lacan, Horkheimer und Adorno sucht Hoops im Tableau und der Mimesis nach bereichernden Konzepten. Das Tableau lässt eine Konstellation der Beteiligten und ihrer Position und Beziehung erkennen. Seine nur scheinbare Zeitlosigkeit bleibt als Konstruktion erkennbar, ein Innehalten in dynamischer Spannung. Mimesis hingegen verweist auf den Doppelcharakter von Identität und Nichtidentität in Praxis und Beziehung. Beide Konzepte sind unscharf im Sinne der Postmoderne-Debatte; gerade in ihrer Beschränkung und Ambivalenz aber laden sie ein, Möglichkeiten der Darstellung zu diskutieren.
Im Schluss wird noch einmal die wissenschafts- und ausbildungspolitische Dimension des Buches deutlich. Vier Desiderate stellt Hoops einer geisteswissenschaftlich informierten und inspirierten Pflegewissenschaft und -didaktik anheim: eine relationale Pflegedidaktik, die Prüfung weiterer Wahrnehmungsmöglichkeiten über das Visuelle hinaus, Kooperation mit Kunstschaffenden und die Erforschung des pflegerischen Übertragungsverhältnisses in der Pflege selbst.
Diskussion
Zweifellos ist der Autor ein belesener Mensch und die Dissertation mit Fug und Recht erfolgreich abgeschlossen. Nichtsdestotrotz gehören zu einem guten Buch – auch in der Wissenschaft – ein thematischer Fokus und eine erkennbare Argumentationslinie. Ein strenges Lektorat wäre wünschenswert gewesen. Gerade der Versuch, Pflegewissenschaft umfassend neu zu konzipieren und den eingeforderten geisteswissenschaftlichen Blick zu legitimieren, scheint nicht nur zur Anrufung der gesamten Heiligenwelt der abendländischen Geistesgeschichte, sondern auch zu einer weit aus- und abschweifenden Adorno-Exegese genötigt zu haben. Hier hätte eine Entscheidung getroffen werden müssen, sich entweder der detaillierten Diskussion einer Mimesis-Theorie oder einer forschungs- und ausbildungsstrategischen Neuausrichtung der Pflegewissenschaft und -didaktik zu widmen. Sollte man Klassiker nicht ohnehin lieber im Original lesen und erst im zweiten Schritt thematisch ausgewiesene Fachliteratur heranziehen? Als solche aber ist „Pflege als Performance“ nach außen hin – bei aller demonstrierten Sachkenntnis und manch interessanter Einsicht in der Adorno-Auslegung – nicht erkennbar. Auf siebzig Seiten „systematische Untersuchung“ in Kapitel fünf, die auf das Pflegerische nur stellenweise und sehr vermittelt Bezug nimmt, folgen lediglich zehn Seiten mit klarem Themenbezug, die dann aber nur fragmentarisch Desiderate ausflaggen – statt diese in der Arbeit selbst anzulegen und zu entwickeln. Vielleicht beruht dieser Überschwang auf der erkannten Theoriearmut herkömmlicher Pflegewissenschaft und -ausbildung, die der Text letztlich zu überwinden antritt. Darüber aber sollte der Fokus auf das eigene Fach nicht verloren gehen. Kurz gesagt, weniger wäre mehr gewesen, hätte das Buch lesbarer und das Argument klarer gemacht – das mir selbst, ehrlich gesagt, erst ganz zum Schluss nachvollziehbar wurde.
Auch der theoretische Entwurf selbst scheint mir indes nicht durchgehend schlüssig. Werden im Schlüsselbegriff der Darstellung nicht Dimensionen vermengt, die besser zu trennen wären? Warum muss die Pflegehandlung als Darstellung im Sinne einer Realisierung begriffen werden? Steht tatsächlich die performative Aufführung im Mittelpunkt? Wenn ja, wo ist das dazu notwendige Publikum? Ist es nicht so, dass gerade durch das weitgehende Fehlen von Publikum in der konkreten Pflegesituation das Darstellungsproblem überhaupt entsteht? Die thematisierte Perspektive der Schüler_innen ersetzt diese ja nicht. Reduziert ein Blick, der Pflege in erster Linie als Performanz versteht, nicht Pflege als Praxis? Geht es nicht zumindest auch um das handfeste Kümmern (‚care work‘ vgl. etwa Liebelt 2011) – selbst in Wiederholung und Nachahmung? Könnte da nicht eine handlungstheoretische Betrachtung helfen, die längerfristige Prozesse der Krankheit und des Sterbens ebenso im Blick hat wie alltägliche Mikroprozesse und Interaktionen in der Pflege? Zum konstruktivistischen Charakter von Lernen und Wissen, auch professionellem Wissen, hätten vielleicht auch die noch immer frischen Traditionen der Phänomenologie und Wissenssoziologie bzw. das Konzept der ‚communities of practice‘ (Lave & Wenger) gewinnbringend befragt werden können.
Könnte es über den bildfokussierten Ansatz hinaus vielleicht sogar eine Falle sein, sich allzu sehr auf eine imaginierende, aber auch imaginierte Außenperspektive zu verlassen, anstatt empirisch in der Pflege selbst anzusetzen? Schließlich kommt auch ein grundlegender Neuentwurf der Pflegewissenschaft, der in der Geisteswissenschaft nach theoretischer Inspiration sucht, ohne Vertrauen in die eigene Disziplin und ihren Gegenstand nicht aus.
Fazit
Ein innovatives und kluges Buch, das interessante Einsichten birgt und zum Weiterdenken einlädt. Seine ausladende Weitschweifigkeit macht es für eine eher undisziplinierte Nachttischlektüre allerdings ungeeignet.
Literatur
- Lave, Jean; Wenger, Etienne (1991): Situated Learning. Legitimate Peripheral Participation. Cambridge.
- Liebelt, Claudia (2011): Caring for the ‚Holy Land‘. Filipina Domestic Workers in Israel. Oxford.
Rezension von
Dr. Magnus Treiber
Fachgruppe Ethnologie
Universität Bayreuth
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