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Orsolya Friedrich: Persönlichkeit im Zeitalter der Neurowissenschaften

Rezensiert von Dr. Thomas Damberger, 14.11.2013

Cover Orsolya Friedrich: Persönlichkeit im Zeitalter der Neurowissenschaften ISBN 978-3-8376-2307-9

Orsolya Friedrich: Persönlichkeit im Zeitalter der Neurowissenschaften. Eine kritische Analyse neurowissenschaftlicher Eingriffe in die Persönlichkeit. transcript (Bielefeld) 2013. 250 Seiten. ISBN 978-3-8376-2307-9. D: 29,80 EUR, A: 30,70 EUR, CH: 38,90 sFr.
Reihe: KörperKulturen.

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Thema

Das vorliegende Buch befasst sich mit der Frage, welche Aspekte der Persönlichkeit mithilfe neurowissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden verändert werden können. Dabei geht es auch um die Frage, wie diese Veränderungen zu bewerten sind. Ausgangspunkt der Arbeit ist die These, dass sowohl das Verständnis als auch der Umgang mit der Persönlichkeit und deren Störungen von wissenschaftlichen Denkstilen abhängen. Diese werden aufgezeigt, charakterisiert und einer ethischen Analyse unterzogen.

Autorin

Orsolya Friedrich ist promovierte Ärztin und promovierte Philosophin. Sie forscht und arbeitet derzeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Entstehungshintergrund

„Persönlichkeit im Zeitalter der Neurowissenschaften“ ist die überarbeitete Fassung einer 2010 der Fakultät für Philosophie der LMU München vorgelegen Dissertation.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist inklusive Einleitung in sechs Kapitel unterteilt.

Im Anschluss an die einleitenden Überlegungen rückt Orsolya Friedrich im zweiten Kapitel das Thema „Denkstil“ in den Fokus ihrer Überlegungen. Dabei geht sie von der These aus, dass das Verständnis von und der Umgang mit Persönlichkeit von wissenschaftlichen Denkstilen geprägt ist. In Anlehnung an Ludwik Fleck wird unter dem Begriff Denkstil ein „gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechenden gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen“ (15) verstanden. Charakteristisch für einen Denkstil sind gemeinsame Problemmerkmale, evidente Urteile, Methoden der Erkenntnis und ein bestimmter technischer Stil des Wissenssystems. Als denkstilcharakteristisch kann beispielsweise angesehen werden, dass philosophische Probleme, die das phänomenale Bewusstsein betreffen, als mit naturwissenschaftlichen Mitteln und Methoden lösbar erachtet werden. Das ist freilich eine Komplexitätsreduktion, die von der Auffassung getragen ist, dass sämtliche Eigenschaften, die nicht objektivierbar und damit aus der Dritten-Person-Perspektive nicht erkennbar sind, in den Hintergrund geraten.

Im dritten Kapitel thematisiert Friedrich den Bereich Persönlichkeit und Autonomie. Sie geht dabei systematisch vor, indem sie die Begriffe „Mensch“, „Person“ und „Persönlichkeit“ einzeln erläutert. Der Mensch wird dabei als ein ontologisches Fundament verstanden, das aus empirischen Daten nicht erschlossen werden kann, was allerdings nicht für seine biologischen Grundlagen gilt (22). Unter dem Begriff „Person“ fasst die Autorin das leibliche Dasein des Menschen in seiner aktiven Auseinandersetzung in und mit der Welt (23). „Persönlichkeit“ meint einerseits die persönliche Innenwelt und umfasst Eigenschaften, die ausschließlich der Ersten-Person-Perspektive zugeordnet werden können, z.B. Empfindungen, Bewusstsein und kognitive Prozesse. „Persönlichkeit“ betrifft aber auch den Umgang mit der Umwelt, hier spielen jene äußeren Tätigkeiten eine Rolle, die anderen Menschen helfen, die Persönlichkeit eines anderen Menschen zu bestimmen (28). Die Entwicklung der Persönlichkeit hängt eng mit der Autonomieentwicklung zusammen. Friedrich beleuchtet verschiedene Dimensionen der Autonomie, darunter zählt die Fähigkeit, zweckrational und ohne Zwang zu handeln. Für die Außenwelt und deren Fähigkeit, die Persönlichkeit eines Menschen einschätzen zu können, wird die authentische Autonomie als entscheidend markiert, authentisch meint dabei, dass kohärente Handlungen längerfristig an reflektierte Überzeugungen und Wünsche ausgerichtet werden (31).

Die nachfolgenden beiden Kapitel sind quantitativ deutlich umfangreicher und stellen gewissermaßen das Kernstück der Arbeit dar. Kapitel IV befasst sich mit der denkstilabhängigen Bestimmung von Persönlichkeit. Friedrich leitet dabei ihre Überlegungen mit der philosophischen Debatte über personale Identität ein und führt Bernard Williams als Verfechter eines materialistischen Kriteriums personaler Identität in Feld. Für Williams gilt der Körper als notwendiges Kriterium für personale Identität. Daraus ergeben sich höchst bedeutsame Fragen. Gibt es beispielsweise Teile des Körpers oder des Gehirns, die unabdingbar für die Aufrechterhaltung der personalen Identität sind? Neben Williams werden auch Michael Quantes, Sydney Shoemakers und Derek Parfits Positionen durchdacht. Quante macht ein biologisches Kriterium der personalen Identität stark, das sich auf den menschlichen Organismus bezieht (39ff.). Für Shoemaker ist der menschliche Körper epistemisch gesehen eine notwendige Bedingung für personale Identität, zugleich ist für ihn aber auch eine nicht verkörperte Person ontologisch möglich (57). Für Vertreter des Trans- und Posthumanismus dürfte sich eine solche Auffassung als höchst interessant erweisen. Das gilt auch für die Theorie von Derek Parfit. Parfit spricht anstatt von Identität von „Überleben“. Hierfür wird durch „psychologische Kontinuität“ und „psychologische Verbundenheit“ eine „Relation R“ definiert. Träger der Relation R muss dabei keineswegs zwingend das Gehirn sein (59f.). Wird nun aber das Material tatsächlich irrelevant, verliert auch die Debatte um die künstliche Veränderung des Materials an Bedeutung. Technischen (auch neuropharamkologischen) Eingriffen auf das menschliche Gehirn sind dabei im Grunde genommen Tür und Tor geöffnet.

Friedrich geht im Folgenden auf das Verhältnis von Neurowissenschaften und Psychologie bzw. Psychiatrie ein. Sie befasst sich dabei mit verschiedenen psychiatrische Definitionen von Persönlichkeit (anlehnend an Fiedler und Engels), um anschließend das mit diesen Definitionen einhergehende Problem klar zu benennen: die nicht nach außen kommunizierbare Innenperspektive wird vernachlässigt (74). Insgesamt stellt es sich als ausgesprochen schwierig heraus, die Persönlichkeit eines Menschen mit objektiven Mitteln zu erfassen, da solche Mittel die für die Persönlichkeit gleichsam relevante Erste-Person-Perspektive ebenfalls objektivieren müsste. Sowohl im neurowissenschaftlichen als auch im psychologischen Diskurs werden bei der Definition von Persönlichkeit die nicht-kommunizierbaren Momente der Ersten-Person-Perspektive nicht hinreichend bedacht. Friedrich interpretiert dies als Ausdruck einer bereits ausgeprägten spezifischen Denkstilcharakteristik (83). Sie plädiert daher für eine Beschreibung von Persönlichkeit, die sowohl kommunizierbare, für Außenstehende erfassbare als auch nicht reduzierbare mentale Zustände einer Person berücksichtigt. Dies ist vor allem deswegen wichtig, um bei Eingriffen in die Persönlichkeit beurteilen zu können, ob und inwiefern diese Eingriffe die Persönlichkeit tatsächlich verändern.

Nun werden kommunizierbare Persönlichkeitseigenschaften mittels unterschiedlicher Methoden erfasst. Die hier eingesetzten Methoden sind ebenfalls von Denkstilen beeinflusst. Der Denkstil prägt die Methode, mit der Daten gesammelt werden, die der Persönlichkeitsbestimmung dann wiederum zugrunde liegen (86). Als weiteres Denkstilcharakteristikum gilt, so Friedrich, das Ausblenden von technischen und theoretischen Problemen bei der wissenschaftlichen Erfassung von Eigenschaften der Persönlichkeit, die in der Philosophie des Geistes bereits vielfältig diskutiert wurden. Der gerade in den Neurowissenschaften populäre Versuch, Zusammenhänge zwischen biologischen Funktionen und der Persönlichkeit sichtbar zu machen, prägt die Vorstellung von Persönlichkeit und ist Ausdruck eines vorherrschenden Denkstils (109).

Der Autorin geht es im Anschluss darum, Kriterien zur Feststellung von Persönlichkeitsstörungen zu bestimmen. Dabei werden sowohl historische als auch diagnostische Entwicklungen dargestellt. Ziel ist es, ein möglichst objektives Bild der Pathologie einer Persönlichkeit zu gewinnen und darüber hinaus die Komplexität von Symptomen zu identifizieren. Wenn nun der zugrundeliegende Denkstil von einer objektiven Vorstellung von Krankheit ausgeht, so wirkt das auf Therapiemaßnahmen zurück, die eine Veränderung der Persönlichkeit bewirken sollen. Das bedeutet, dass der Denkstil die Pathologie der Persönlichkeit (vermeintlich) objektiv fasst und davon ausgehend die Auswirkungen von Eingriffen auf die Persönlichkeit beeinflusst (122ff.).

Im fünften Kapitel werden die ethischen Überlegungen zu Denkstilen der Persönlichkeit bedeutsam. Dabei rücken unterschiedliche Rechtfertigungsstrategien für Eingriffe mit dem Ziel der Veränderung von Persönlichkeitseigenschaften in den Mittelpunkt. Interessant ist dabei, dass bei Eingriffen, die eine körperliche Veränderung zur Folge haben, höhere Maßstäbe angesetzt werden, „um die Integrität der Persönlichkeit zu wahren“ (161). Die Person muss hier im Vorfeld über die möglichen Konsequenzen und Nebenwirkungen des Eingriffs aufgeklärt werden. Im Falle von Eingriffen, die auf die Psyche des Menschen abzielen, ist das häufig gar nicht möglich. Mit Blick auf die Rechtfertigung von Eingriffen auf die Persönlichkeit bietet die Vier-Prinzipien-Ethik eine Abwägungsmöglichkeit, die in der Medizinethik gerne als Methode verwendet wird, um Entscheidungen bei moralisch schwierigen Fragen treffen zu können. Friedrich erläutert und analysiert dabei explizit die Prinzipien Autonomie, Nichtschaden, Benefizienz und Gerechtigkeit.

Hochphilosophisch leitet Friedrich mit ihrem deontologischen Versuch das Ende des 5. Kapitels ein. Hier geht es der Autorin um die Frage, wann und wie ein Eingriff zur Veränderung der Persönlichkeit mit neurowissenschaftlichen Mitteln geboten oder verboten erscheint (202). Friedrich führt dabei Kants Position an, derzufolge es eine vollkommende Pflicht ist, eine materiale „Verstümmelung“ zu unterlassen. Nimmt man diese Pflicht ernst, sind medizinische Eingriffe in das Gehirn abzulehnen. Aber „Wie so oft bei moralischen Entscheidungen ist die Betrachtung aber nicht so einfach, da der vollkommenen Pflicht gegen sich selbst, sich nicht zu verstümmeln, die Pflicht gegen sich selbst […], sich um den ‚Anbau […] seine Naturkräfte‘ zu bemühen, gegenüberstehen kann.“ (207). Die Persönlichkeit, der die Eingriffe gelten, hat überdies immer auch eine Stellvertreterfunktion einzunehmen, soll heißen: ihre aus der vollkommenden Pflicht abgeleitete Ablehnung der körperlichen „Verstümmelung“ hat sie stellvertretend für alle Menschen zu treffen, sofern sie denn gewillt ist, dieser Pflicht gemäß zu handeln (213). In diesem Zusammenhang müssen auch Reflexionen über mögliche Täuschungen und Manipulationsversuche angestellt werden, die gewissermaßen als Resultat von Denkstilen und gesellschaftlichen Verbesserungsvorstellungen auftreten. Daran anknüpfend fokussiert Friedrich in Anlehnung an Foucault, von welchem Macht-Wissens-Verhältnissen die Gewinnung und die Bewertung des Wissens über den Gegenstand Persönlichkeit abhängig sind.

Im kurz gehaltenen VI. Kapitel – überschrieben mit „Pflicht zur Aufklärung über Denkstile der Neurowissenschaften“ fasst Friedrich ihre bisherigen Überlegungen noch einmal prägnant zusammen.

Diskussion und Fazit

Orsolya Friedrich legt mit „Persönlichkeit im Zeitalter der Neurowissenschaften“ eine Arbeit vor, die sich mit einem sehr brisanten Thema befasst. Was bedeutet es für die Persönlichkeit eines Menschen, wenn auf sein Gehirn technisch zugegriffen wird? Das Besondere an Friedrichs Überlegungen zeichnet sich nicht durch eine Antwort auf diese Frage aus (eine Antwort wird der Leser vergebens suchen). Der Autorin geht es vielmehr um das Denken, genauer: um den Denkstil, der mit den Überlegungen zur Frage nach neurowissenschaftlichen Eingriffen einhergeht. Dieser Denkstil engt die Frage ein, aber auch die Methoden, Folgen und Ziele, die mir derartigen Eingriffen verbunden sind. Sich den zugrundeliegenden Denkstil analytisch vorzunehmen, kann als das Ziel der Arbeit bezeichnet werden. Die Arbeit beantwortet also nichts, sie zeigt ein Problem auf, das bedacht werden will. Dieses zu bedenken lohnt sich allerdings, um insbesondere denjenigen etwas entgegensetzen zu können, die allzu technikoptimistisch darauf abzielen, sich selbst und andere möglichst vollständig gestalten zu können. Wünschenswert wäre es gewesen, wenn die fundamentontologische Perspektive Heideggers, die in der Arbeit lediglich erwähnt wird, stärker hervorgehoben worden wäre. Dies hätte die Bedeutung der Ersten-Person-Perspektive, die dem neurotechnischen Zugriff notwendig entzogen bleiben muss, noch einmal in einer anderen, vielleicht deutlicheren Weise hervorgehoben. Friedrichs Gedankenführung ist stringent, differenziert. Für interessierte Laien eine schwere Kost, dürfte die Arbeit insbesondere für philosophisch interessierte Mediziner interessant sein.

Rezension von
Dr. Thomas Damberger
Professur für Bildungs- und Erziehungswissenschaften im Kontext der Digitalisierung an der Freien Hochschule Stuttgart
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Es gibt 19 Rezensionen von Thomas Damberger.

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ISSN 2190-9245