Georg Breidenstein, Stefan Hirschauer et al.: Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung
Rezensiert von Prof. Dr. Lilo Schmitz, 31.03.2014

Georg Breidenstein, Stefan Hirschauer, Herbert Kalthoff, Boris Nieswand: Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung. UVK Verlagsgesellschaft mbH (Konstanz) 2013. 250 Seiten. ISBN 978-3-8252-3979-4. D: 19,99 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 28,00 sFr.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-8252-4497-2 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Thema
Ethnografische Forschung ist nicht auf die Ethnologie beschränkt, sondern bietet für alle Sozial- und Kulturwissenschaften einen ganz speziellen und fruchtbaren Ansatz empirischer Sozialforschung. In diesem Band wollen die Autoren in Form eines gemeinsam verfassten Lehrbuchs methodologische Grundlagen und konkrete Forschungspraxis darstellen.
Autoren
Die vier Autoren des Buchs vertreten als Professoren unterschiedliche Disziplinen an unterschiedlichen Hochschulen: Georg Breidenstein ist Erziehungswissenschaftler und lehrt an der Universität Halle-Wittenberg. Stefan Hirschauer und Herbert Kalthoff sind als Soziologen an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz tätig. Boris Nieswand lehrt als Ethnologe und Soziologe an der Universität Tübingen. Die vier Autoren waren in den 90er Jahren gemeinsam mit anderen Wissenschaftler*innen Mitglieder einer Arbeitsgruppe zum Thema an der Universität Bielefeld.
Aufbau und Inhalt
In der Einleitung beschreiben die Autoren ihr Projekt: Ethnografische Forschung will auf eine ganz bestimmte Art fremde oder eigene kulturelle Praktiken beschreiben. Ihre theoretisch geleitete und forschungspraktisch disziplinierte Herangehensweise erzeugt ein anderes Wissen als das des interessierten Reisenden oder des kundigen Einheimischen.
Die Ethnografie stellt keine einheitliche Methode dar, sondern nähert sich ihrem Gegenstand mit einer für den Gegenstand und die Forscher*in angemessenen Vielfalt von Methoden und in der Haltung unvoreingenommener Neugier. Aber nicht nur die Spannung zwischen verschiedenen methodischen Ansätzen kennzeichnet das Feld ethnografischer Forschung. Da ist ebenso die vielfältig diskutierte Frage nach dem Umgang mit Naturalismus und Konstruktivismus: beschreibt die Ethnografie „natürlich“ existierende Gegenstände oder erzeugt sie diese erst durch ihre Beschreibung?
Im ersten Kapitel „Wozu Ethnografie“ beschreiben die Autoren zunächst die historischen Entwicklungslinien der Ethnografie mit ihren Ursprüngen in Ethnologie und Soziologie (und immer verknüpft mit dem Kolonialismus europäischer Staaten). Geschildert wird die Entwicklung von der Wissenschaft aus der Ferne („Lehnstuhl-Anthropologie“, z.B. Frazer) über frühe Expeditionsforscher*innen, die auf kürzeren Reisen ihre Informationen vor allem durch Mittelsleute bezogen (z.B. Boas, Rivers, Seligman) hin zum großen Feldforscher Malinowski, der das langfristige Leben in den untersuchten Gemeinschaften zum methodischen Postulat erhob. Malinowski forderte, die Ethnograf*innen sollten die einheimische Sprache sprechen, mindestens ein Jahr in den untersuchten Gemeinschaften leben und möglichst den Kontakt mit der eigenen Kultur abbrechen. Dadurch sollen sie die Binnenperspektive der erforschten Gemeinschaft erfahren und sich vertraut machen.
Ähnlich wichtig wie Malinowskis Umwälzung der Feldforschung war für die Ethnografie die in den 80er Jahren entstandene „Writing Culture-Debatte“ (Clifford/Marcus), die Frage nach der ethnografischen Repräsentation (Sprechen für Andere?) und neuen Formen der Darstellung, die einer postkolonialen Realität gerecht werden könnte. Aus der Sicht von bekannten Protagonist*innen dieser kritischen Strömung wie beispielsweise Edward Said (z.B. in seinem Grundlagenwerk „Orientalismus“) wurde Fremdheit oft überzeichnet. Nicht die Vereinnahmung („Nostrifizierung“), sondern die klischeehafte Projektion („othering“) sei dir Gefahr.
Dann stellen Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff und Nieswand einen weiteren Strang der Geschichte der Ethnografie dar: die Anwendung der ethnografischen Verfahren und Perspektiven auf die eigene Gesellschaft, wie sie von den Stadtforschern der Chicago School betrieben wurde. Städte betrachteten die journalistisch und soziologisch ausgebildeten Stadtforscher*innen der Chicago School als Zentrum der Einwanderung und des Kulturkontakts, als soziales Laboratorium, das Traditionen zerstört, neue Szenen und Subkulturen hervorbringt. Und genau diese städtischen kulturellen Szenen und Subkulturen wurden Forschungsgegenstand der Chicago School. Durch die Chicago School etablierte sich bis heute eine Forschungsorientierung, die bis heute gut zu Individualisierung und Diversifikation von Lebensstilen passt und ermöglicht, auch Szenen in der eigenen kulturellen Nachbarschaft zu untersuchen.
Methodisch lehrten die Forscher*innen der Chicago-School weniger den strengen, sondern den einfallsreichen Zugang zum Feld, das Umherschweifen, die teilnehmende Beobachtung, Tagebücher zu führen und Landkarten zu zeichnen.
Unter dem Stichwort „Alltagssoziologie“ fassen Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff und Nieswand weitere Quellen der ethnografischen Erforschung der eigenen Gesellschaft zusammen. Hierhin passen Goffmans Arbeiten und Garfinkels ethnomethodologische Studien ebenso wie Alfred Schütz´ Entdeckung des Alltagswissens in der Soziologie.
Gemeinsames Merkmal ethnografischer Forschung in der eigenen Gesellschaft ist: Es reicht nicht, Insider*innen-Wissen spezieller Szenen zu sammeln oder selbst als Insider*in sein/ihr Wissen darzustellen, sondern spezielle distanzierende und „befremdende“ Methoden sind wichtig, um ethnografisches Wissen zu erzeugen, das genuin anders ist als das „einheimische“ Wissen.
Was aber macht dieses ethnografische Wissen aus? Hier nennen Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff und Nieswand „vier Markenzeichen der Ethnografie“:
- Als Gegenstand von Ethnografie bezeichnen Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff und Nieswand „soziale Praktiken“ in „Situationen, Szenen, Milieus – Einheiten, die über eine eigene Ordnung und Logik verfügen.“ (32)
- Diese sozialen Praktiken werden durch Feldforschung erschlossen, die gekennzeichnet ist durch „die sinnliche Unmittelbarkeit der gesuchten Forschungserfahrung“ und eine „Dauerhaftigkeit dieses Realitätskontakts“ (33).
- Die Methoden sollen vielfältig sein, um verschiedene Perspektiven aufs Feld zu erzeugen. Ihre Auswahl diktiert das Feld, es herrscht ein „feldspezifischer Opportunismus“ (34).
- Die Ethnografie erforscht implizites Wissen, das, was Menschen einfach tun, ohne es erklären zu können, was ihnen selbstverständlich ist oder sich nur in materiellen Objekten ausdrückt.(35f.)
Zur methodologischen Begründung der Ethnografie als „methodenplurale kontextbezogene Forschungsstrategie“ (39) sprechen die Autoren von einer „Selbststrukturierung des Gegenstands“ (38): „Kulturelle Felder verfügen über eine Eigenlogik, eine eigene Ordnung, die auch einen Beobachter, der sich treiben lässt, an die Hand nimmt und führt.“ (38) Nicht die Wissenschaft, sondern der Gegenstand bestimmt also über die Methode. Von einer breiten Fülle von Anfangsmethoden leitet der Gegenstand zu spezifisch geeigneten Methoden. Wichtig ist, dass die Forscher*in durch ihre Methodenwahl immer wieder dafür sorgt, dass sie vom Feld überrascht wird – ethnografische Feldforschung ist „überraschungsoffen“ (39). „Wenn das Überraschende, Unerwartete einmal ausbleibt – also alles ist so, wie man es erwartet hat – so würde dies nur anzeigen, dass es der teilnehmenden Beobachtung misslungen ist, sich in ihren Vorannahmen verunsichern zu lassen.“ (39)
Grundsätzlich gilt aber für die Methoden der Primat von Teilnahme, Beobachtung und Gleichzeitigkeit, die Vorrang hat vor der Aufnahme von Berichten, Erzählungen und Dokumentenstudium – „Kopräsenz“ also als „synchrone Begleitung lokaler Praktiken“ (41).
Im Feld selbst wird sich die Forscherin in der teilnehmenden Beobachtung immer wieder der einheimischen Sichtweise nähern (going native) und sich von dieser wieder distanzieren (coming home), um analytisch interessante Schilderungen zu erzeugen.
Diese ständig neu produzierte Distanzierung gelingt durch „vier Distanzierungsmaßnahmen“:
- disziplinäre Sozialisation
- die vom Feld akzeptierte Beobachterrolle
- die permanente Verschriftlichung des Beobachteten
- die reflexive analytische Durchdringung des Beobachteten im Rückzug vom Feld
Das zweite Kapitel beschreibt, wie Ethnograf*innen ihr Feld auswählen und begrenzen, wie sie Kontakt aufnehmen, Zugang organisieren und Rapport gestalten.
Da ethnografische Forschung sich nicht in einem linearen, sondern rekursiven Forschungsdesign bewegt, ähnlich einer Spirale, nicht unähnlich dem hermeneutischen Zirkel, wechseln sich Datenanalyse und Datengewinnung mehrfach ab. Das Forschungsfeld selbst und die Forschungsfrage bestimmt dabei über den methodischen Zugang.
Als Forscherin Zugang zu einem Feld zu bekommen ist eine weitere wichtige Frage. Es geht um „die Sicherung und Gestaltung eines sozialen Kontextes der Forschung, um Kredit- und Vertrauenswürdigkeit“. Jede Art von Kontakt und Zugang zum Feld ermöglicht der Forscherin bestimmte Informationen und verbaut dafür andere. Dies betrifft auch Schlüsselrollen im Feld, die laut Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff und Nieswand „unverzichtbares Personal für eine ethnografische Studie“ (55) darstellen:
- Gatekeeper: „Gatekeeper sind Schlüsselpersonal einer Einrichtung, von denen Ethnografen (offizielle) Erlaubnisse zum Aufenthalt erhalten oder verweigert bekommen können.“ (52)
- Sponsoren oder Schlüsselinformanten: „Förderer eines Forschungsprojekts, die aus den unterschiedlichsten Interessen heraus mit dem Forschungsinteresse des Ethnografen sympathisieren…“ (53)
- Patrone, die „das Vertrauen und die Achtung der Feldteilnehmer besitzen“. (53f.)
Gatekeeper, Schlüsselinformanten und Patrone erleichtern zum einen den Feldzugang, beschränken ihn aber auch. Eine wichtige Zugangsmöglichkeit besteht auch in der Fremdheit der Ethnografin: Schon in Simmels Soziologie des Fremden lesen die Autoren, dass Fremde eine größere soziale Beweglichkeit und Freiheit in der Kontaktaufnahme haben.
Trotz aller Bemühungen bleibt ein Feld jedoch manchmal geschlossen. In wie weit hier eine versteckte Beobachtung möglich, nützlich und aus forschungsethischer Sicht zu rechtfertigen ist, muss im Einzelfall entschieden und begründet werden. Offenheit im Forschungsfeld ist die bessere Alternative, wobei aus Sicht der Autoren eine zu detaillierte Offenlegung des Forschungsinteresses die Teilnehmer*innen einer Szene eher lähmt und verwirrt.
Die Grenzen eines Feldes legen sich im Laufe des Forschungsprozesses auf drei Arten fest:
- „Selbstkonstitution“: „Ein Feld konstituiert sich durch eine selbstorganisierte Grenzbildung,…“
- „Analytische Konstitution“: „Ein Feld wird durch analytische Entscheidung konstituiert, es so oder so zuzuschneiden.“
- „Prozesskonstitution“: „(…) im Prozess des Zugangs selbst, nämlich durch Reaktionsbildung auf den Neuling und seine Forschungsaktivitäten.“ (59f.)
Rapport im Feld herzustellen bedeutet unermüdliche vertrauensbildende Arbeit und eine Anpassung ans Milieu in einer irgendwie passenden Rolle, wobei die Forscherin von den Untersuchten genauso erforscht wird wie umgekehrt.
Hat die Feldforscherin eine Position gefunden, die ihr eine Teilnahme an der Situation erlaubt, ist ein Wechsel zwischen starker und schwacher Teilnahme günstig, weil bei starker Teilnahme fast keine Aufzeichnungen möglich sind, bei schwacher Teilnahme der Gehalt der Situation eventuell verschlossen bleibt. So ist die Forscherin „(…) durchaus Teil einer Gruppe, aber an deren Rand, zugleich innen und außen.“ (68). Hier gilt es gerade bei längerem Aufenthalt im Feld immer wieder auszutarieren, wie und ob aus Forschungsbeziehungen Freundschaften entstehen, wie Informant*innen vor Ausbeutung von Informationen geschützt werden können und wie Reziprozität im Forschungsfeld hergestellt werden kann („Was kann die Ethnografin selbst geben?“) (69).
Das dritte Kapitel widmet sich der Generierung, Erfassung und Dokumentation von Daten, die alltägliche Routinen, Wissen und Können explizieren sollen.
Die teilnehmende Beobachtung, die eventuell unsystematisch beginnt, lässt sich durch vier Strategien fokussieren und intensivieren: „
- Wiederholung von Beobachtungen: Schnitte setzen, Zeitpunkte variieren.
- Mobilisierung des Beobachters: Positionen wechseln, Akteuren folgen.
- Fokussierungen: thematisch, zeitlich, personell zuspitzen.
- Seitenwechsel: verschiedene Perspektiven einnehmen.“ (79f.)
Interviews in Form von informellen Gesprächen als auch von expliziten Interviews begleiten die ethnografische Forschung. Sie sind einerseits nützlich als Korrektiv und Kontrolle der eigenen Interpretationen, andererseits aber auch begrenzt in ihrem Aussagewert, weil die Äußerungen nicht spontan und speziell für die Forscherin getan werden und nur die Position eines speziellen Teilnehmers erfassen.
Bei jeder Feldforschung stellt sich die Frage, was wie dokumentiert werden muss und kann. Das möglichst zeitnahe Führen von Feldnotizen unterstreicht die Fremdheit der Forschungsrolle, gilt aber auch für Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff und Nieswand als unverzichtbares Handwerkszeug der ethnografischen Forschung. Ton- und Bildmitschnitte erleichtern das Festhalten von Tätigkeiten und Äußerungen der beteiligten Personen, produzieren aber oft Mengen an (oft aufwändig transkribiertem) Material, das immer wieder auf seine Nützlichkeit befragt werden sollte. Nützlich sind auch Textartefakte des Feldes wir amtliche Dokumente, Publikationen aller Art, Berichte und Akten, die eine spezielle Perspektive auf das Feld eröffnen.
Wie soll nun die Ethnografin mit dem erhobenen Material umgehen und es systematisieren? Hier sind zunächst einmal Leistungen der Versprachlichung gefragt, denn während Gesprächs-Material und Dokumente bereits in sprachlicher Form vorliegen, müssen Beobachtungen und materielle Zeugnisse erst in Sprache gefasst werden. Dies ist kein reines Speichern von Prozessen, sondern hier werden Prozesse durch die Art der Darstellung auch expliziert, d.h. analytisch in Form gebracht.
Aus Feldnotizen werden Protokolle – in der Regel in zwei Phasen: In der ersten Phase wird möglichst schnell und hastig alles niedergeschrieben – die Feldforscherin schreibt für sich selbst verständlich. In einer zweiten Phase beschreibt sie strukturiert und geordnet, so dass auch eine andere Leserin sich in ihrem Text zurechtfinden könnte. Die Protokolle fassen Einzelheiten zu kohärenten Einheiten zusammen, sie bestehen z.B. aus Skizzen, die ein Setting sprachlich oder auch grafisch erfassen und Episoden, kurzen Ereignis- oder Handlungssequenzen.
Protokolle münden sie in komplexere und ordnende Narrative. Da Alltagsszenen anders strukturiert sind als dramatische Geschichten, ähneln ethnografische Narrative weniger Romanen, sondern haben „eher die Form lose verkoppelter Episoden, die Platz für abweichende Handlungsstränge lassen, scheinbar irrelevante Details enthalten und deren Ende oft im Sand verläuft. Dies hat den Vorteil, dass Lücken im Handlungsgefüge auch Spielräume für abweichende Interpretationen offen halten.“ (101f.)
Ergänzt werden die Protokolle durch „analytical notes“, die Interpretationsideen, aber auch Gefühle und persönliche Notizen der Forscherin enthalten können.
In jedem Fall fordern Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff und Nieswand eine besondere Art des ethnografischen Schreibens: „Ein Vorgehen, das auf einen starkem Empiriebegriff setzt, muss sich deshalb in Texten repräsentieren, die auf die Sinne (und nicht nur den Verstand) der Leser zugreifen.“ (105). und: „(…)die textuelle Verdichtung (…) bildet nicht Beobachtungen ab, sie überbietet sie eher, indem sie Protokollnotizen, Sinneseindrücke und situative Assoziationen zusammenkomponiert. Das ist eher ein Unterfangen der Simulation von Erfahrungsqualitäten.“ (105)
Das Vertexten ist insgesamt ein Prozess, der aus Erfahrung Daten macht und durch Verschriftlichung diese Erfahrung verändert, so dass der analytische Prozess bereits ins Schreiben hineinragt.
Das vierte Kapitel widmet sich den Möglichkeiten der Analyse der Daten und des Kodierens. Zahlreiche Anregungen, beispielsweise aus der Grounded Theory und der intensiven und extensiven Fallanalyse sollen den fruchtbaren Umgang mit den eigenen Daten erleichtern.
Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff und Nieswand regen an, dass die für den Feldaufenthalt geplante Zeit mindestens einmal durch eine Analysephase unterbrochen wird, da ein qualitatives Forschungsdesign nach beständigem Wechsel von Datengewinnung und -analyse verlangt.
Ebenso wie bei den Methoden der Datenerhebung sollte der Umgang mit Methoden der Datenauswertung aus Sicht der Autoren grundsätzlich offen und gegenstandsangemessen sein. Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff und Nieswand stellen dennoch einige Grundzüge zusammen: Um bei der systematischen Auswertung des Materials Kategorien und Themen zu finden, die zu dem eigenen Datenmaterial passen, gibt es unterschiedliche erprobte und auch neu zu entwickelnde Analysemethoden. Gemeinsamkeiten sind: Die Ethnografin behandelt ihre Daten wie objektive Zeugnisse und vergisst, dass bereits die Herstellung der Daten eine Interpretationsleistung ist. Die gefundenen Kategorien werden ständig „eingeführt, reformiert, rekonfiguriert, erweitert, beschnitten und verworfen.“ (117)
Das Idealbild, dass Themen und Kategorien aus dem Material und nicht aus leitenden Theorien entwickelt werden, unterliegt in der Praxis klaren Einschränkungen: Die Kategorien sollen ja auch für den wissenschaftlichen Diskurs anschlussfähig sein. Auch war ja bereits die Auswahl von Forschungsfeld und Fokus oft theoriegeleitet. Forschung wird begleitet von theoretischen Reflexionen, Lektüre von anderen Ethnografien, so dass neben Kategorien aus dem Material auch immer analytische Kategorien gebildet werden.
Charakteristisch für die ethnografische Datenanalyse ist die Forderung von Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff und Nieswand: „Überraschungen organisieren“ (121): die Ethnorafin soll ihr Material so organisieren und analysieren, dass sie sich immer wieder davon überraschen lässt. Dafür schlagen die Autoren unterschiedliche Methoden vor:
- Einnahme eines „exotisierenden“ oder „befremdenden“ Blickwinkels aufs eigene Material
- Durchsuchung des Materials nach unvorhergesehenen Ereignissen, kleinen Krisen und unerwarteten Reaktionen, die Normalitätserwartungen deutlich machen.
- Das Material an sozialwissenschaftlichen Theorien zu messen und die Umstände zu bennenen, die dazu führen, dass sich Menschen entsprechend oder nicht entsprechend dieser Theorien verhalten.
- Formulierung eigener überspitzter Hypothesen und Vergleich der Daten mit diesen.
Wie sortiert und ordnet die Ethnografin nun ihr Material handwerklich? Ein von Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff und Nieswand favorisiertes Verfahren ist das Kodieren nach den Grundsätzen der Grounded Theory: „Codieren ist die Kategorisierungstätigkeit eines Lesers, der aus einem zufällig und chronologisch angewachsenen Datenkorpus allmählich mittels Schlagwörtern und Begriffshierarchien eine thematisch-analytische Ordung entwickelt und mit ihrer Hilfe eben diesen Korpus umstrukturiert.“ (138)
Das Material wird zunächst vollständig gelesen, danach in einem zweiten Lesen offen kodiert. Die chronologische Ordnung des Textes wird dabei zerstört. Ordnung entsteht eher durch Leitfragen wie:„Was geht in dieser Szene vor? Wie bewerkstelligen die Leute das? Was beschäftigt sie dabei? Welche Teilnehmer sind beteiligt, wer tut was (nicht), wann geschieht dis? und vor allem: Warum habe ich das Beobachtete, das ich in meinem Protokoll festgehalten habe, eigentlich wichtig gefunden?“ (126)
Die Codes oder Kategorien können aus dem Material stammen (emische Kategorien) oder aus der Sprache der eigenen Disziplin. Sie sollen nicht zu allgemein, aber auch nicht zu speziell sein, sondern danach eine sinnvolle Bildung von Code-Klassen oder Familien ermöglichen. Wie sie sich dieses Verfahren konkret vorstellen, verdeutlichen Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff und Nieswand anhand von Beispielen aus ihren eigenen ethnografischen Forschungen.
Die gefundenen Kategorien, die in eine Form gebracht werden, die sie mit dem Datenmaterial verbindet (z.B. computergestützt), führen zu einer neuen Form der Materialrepräsentation, einer thematischen Datensammlung, die die weiterführende Analyse erleichtert. Die Autoren empfehlen in Anlehnung an Spradley, die Kategorien nach Ober- und Unterbegriffen zu ordnen, thematische Familien und Hypothesen zu bilden. Das führt zur Phase des axialen Codierens, in der das Datenmaterial noch einmal gesamt auf bestimmte Themen und Codes hin durchsucht wird.
Eine weitere Möglichkeit der Ordnung und Bearbeitung des Material besteht in der Fallanalyse. Aus der Fülle des Materials werden exemplarische (typische) oder besondere (irritierende) Fälle ausgewählt, die das Forschungsfeld gut beleuchten. Typische Fälle zeigen Regelhaftigkeit, besondere Fälle verdeutlichen Normalitätserwartungen.
Mit Hilfe der geschilderten Techniken wird die Analyse des Materials immer komplexer und aussagekräftiger, Hypothesen zu möglichen Bedeutungen werden gebildet. Handlungsmuster werden (z.B. nach den Grundsätzen der Sequenzanalyse) in den Blick genommen. Wichtig ist, dass die Ethnografin ihren Blick auch vom Fallportrait lösen und den gesellschaftlichen Kontext mit ins größere Bild nehmen kann. Eine solche „extended case study“ (155ff.) benennt typische Akteur*innen und ihre mögliche Rolle im größeren sozialen System.
Am Ende jeder ethnografischen Analyse sollte laut Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff und Nieswand eine Gesamtschau stehen, die Schlüsselthemen benennt und die Forschung in den Kontext anderer Forschungen und Theorien zum gleichen Thema stellt. Diese analytischen Theorien werden eigentlich bereits während des ganzen Forschungsprozesses produziert und praktischerweise in Memos und „analytical notes“ niedergelegt. Am Ende steht der größere Zusammenhang der Disziplin, in den die eigene Forschung eingeordnet wird und die Arbeit an Theorien.
Das fünfte Kapitel und letzte Kapitel widmet sich dem ethnografischen Schreiben, der Umsetzung einer ethnografischen Forschung in eine ethnografische Studie. Hier hat die Ethnografin vielfältige Möglichkeiten der klassischen oder innovativen, der bestätigenden oder irritierenden Form der Darstellung, die alle spezielle Botschaften über ethnografisches Wissen transportieren und implizit Statements zu Expert*innenschaft und Autor*innenschaft beinhalten.
In einem allerletzten Unter-Kapitel wenden sich Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff und Nieswand möglichen Gütekriterien ethnografischer Forschung zu: Für die Autoren gibt es zwei wichtige Gütekriterien. Da ist einmal die empirische Angemessenheit der Reproduktion von Insider-Wissen, aber andererseits auch die Differenz dieser Beschreibung zum Teilnehmerwissen. Ziel der Ethnografie ist es nicht, Teilnehmer*innen-Wissen zu rekonstruieren, sondern mit dem Blick der Fremdheit zu hinterfragen und zu interpretieren: „Kurz: ein Kenner des Feldes muss nach dem Lesen der Ethnografie sagen können: ‚Ja, das stimmt – aber so habe ich das noch nie gesehen!‘“ (184)
Diskussion und Fazit
Mit diesem Band legen Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff und Nieswand eine praktisch und theoretisch ungeheuer informatives Lehrbuch vor, das ethnografisches Forschen in unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen anleiten und begleiten kann. Dabei beschränkt sich der Band auf analytische Ethnografie und klammert den Bereich der angewandten Ethnografie und Aktionsforschung aus.
Der Band ist geeignet, eine ethnografische Studie vom Beginn bis zum Ende zu begleiten. Die Sprache ist gleichzeitig anspruchsvoll und verständlich, was das Buch für Studierende wie Fachkolleg*innen nützlich und interessant macht. Wer sich spezieller mit bestimmten methodologischen Aspekten beschäftigen will, wird durch eine Fülle von Literaturverweisen angeregt, sich weitere Quellen zu erschließen.
Ein theoretisch anspruchsvolles, praktisch gut umsetzbares gut gelungenes Ausnahmewerk. Dieser Band sollte in keiner Lehrbuchsammlung sozialwissenschaftlicher Richtung fehlen.
Rezension von
Prof. Dr. Lilo Schmitz
Hochschule Düsseldorf (Ruhestand) und ILBB - Institut für Beratung Brühl
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