Débora Maehler, Ulrich Schmidt-Denter: Migrationsforschung in Deutschland
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Päd. Yalcin Yildiz, 18.12.2013

Débora Maehler, Ulrich Schmidt-Denter: Migrationsforschung in Deutschland. Leitfaden und Messinstrumente zur Erfassung psychologischer Konstrukte. Springer VS (Wiesbaden) 2013. 128 Seiten. ISBN 978-3-531-19244-4. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 25,00 sFr.
Thema
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Insbesondere mit der Arbeitsmigration waren seit den 1950er-Jahren Hunderttausende Arbeitskräfte aus dem südlichen Europa in die junge Bundesrepublik gekommen. Der mit dem Anwerbestopp einsetzende Familienzuzug in den 1970ern und 1980ern manifestierte endgültig das Bild von einem „multikulturellen Deutschland“.
Heute leben über 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Die Untersuchung dieser Menschen hat in den letzten Jahrzehnten erheblich an Bedeutung gewonnen. Zentral ist hierbei die unübersehbare Tatsache, dass das Zusammenleben alle Menschen in Deutschland beeinflusst. Die Grenzen zwischen den Kulturen sind perforiert. Menschen aus verschiedenen Herkunftsländern müssen mit multiplen Zugehörigkeiten umgehen und in einem weiteren Schritt integrieren können, wollen sie in einer neuen Gesellschaft zurechtkommen. Gerade diese psychologischen Konstrukte von MigrantInnen bieten zur Definition unserer globalisierten Welt wichtige Ansätze an. In den letzten Jahrzehnten sind hierzu viele neue Forschungsansätze entstanden. Es fehlen aber immer noch wichtige Evaluationsimpulse, die den dynamischen Lebenswelten gerecht werden können. Es bestehen auch heute noch vereinfachende Perspektiven, die von Marginalisierungsannahmen bis hin zu Assimilationsdiskursen reichen. Das Fehlen adäquater Messinstrumente hat mit dazu geführt, dass Identitäts- und Akkulturationsaspekte von MigrantInnen meist am Rande großer nationaler Untersuchungen behandelt wurden. Trotz Aktualität und Relevanz der Thematik in der internationalen Forschung wie auch Politik gibt es keine einheitlichen Begriffe und Methoden.
Autorin und Autor
Dr. Débora Maehler studierte Psychologie an der Universität Potsdam und arbeitete mehrere Jahre am Max-Planck-Institut in Berlin. Seit 2012 ist sie Senior Researcherin im nationalen PIAAC-Projekt (internationale Studie zur Untersuchung der Alltagsfertigkeiten Erwachsener) bei GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften in Mannheim. Davor war sie Mitarbeiterin am psychologischen Institut der Universität zu Köln, wo sie auch promovierte. Ihre Forschungsschwerpunkte sind insbesondere Identität und Identitätsentwicklung, Migrations- und Akkulturationsprozesse, psychometrisches Assessment, Konstruktion und Validierung von Testverfahren, politische Psychologie und frühkindliche Bildung.
Prof. Dr. Ulrich Schmidt-Denter war bis zu seiner Pensionierung Professor für Entwicklungs- und Erziehungspsychologie an der Universität zu Köln (von 1986 bis 2011). An derselben Hochschule legte er 1973 sein Diplom in Psychologie ab. Seine Promotion und Habilitation wurden 1977 bzw. 1983 an der Universität Düsseldorf angenommen. Er war (Mit-)Herausgeber der Zeitschrift „Psychologie in Erziehung und Unterricht“ (zwischen 1995 und 2002). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören insbesondere Identitätsentwicklung im interkulturellen Vergleich, soziale Entwicklung über die Lebensspanne, Familienpsychologie und Scheidungsforschung, vorschulische Erziehung und Förderung und Systemtheorie (nähere Informationen zur Biografie, zu Publikationen und Projekten finden sie auf der persönlichen Homepage http://schmidt-denter.de/).
Entstehungshintergrund
Die vorliegende Arbeit stützt sich auf die Forschungsarbeiten der beiden WissenschaftlerInnen. Hier seien vor allem „Akkulturation und Identifikation bei eingebürgerten Migranten in Deutschland“ von Débora Maehler (www.waxmann.com) und „Die Deutschen und ihre Migranten – Ergebnisse der europäischen Identitätsstudie“ von Ulrich Schmidt-Denter (Rezension: www.socialnet.de/rezensionen/12676.php) genannt.
Die Arbeit ist aus einem realen Mangel an einheitlicher Migrationsforschung im nationalen wie auch im internationalen Bereich entstanden. Als explizites Handbuch und Leitfaden für die psychologische Migrationsforschung möchte sie hier eine große Lücke schließen. Die AutorInnen geben dabei nicht nur einen allgemeinen Überblick über methodisch-theoretische Aspekte des komplexen Forschungsgebietes. Ihr Hauptanliegen ist insbesondere die kritische (!) Weiterentwicklung des Forschungsfelds in Deutschland. Dabei begnügen sie sich nicht mit einem rein theoretischen Resümee, sondern sie bauen auch eine Brücke zur statistischen und damit praktischen Anwendbarkeit (durch Validierung).
Es werden konkrete Messinstrumente, die einer statistischen Evaluation unterzogen wurden und somit für die Anwendung in Studien mit MigrantInnenstichproben in Deutschland geeignet sind, präsentiert. Hierfür wurden Personen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, die seit Jahren in Deutschland leben, untersucht (siehe hierzu Kapitel 8).
In der Arbeit stehen zum ersten Mal auch Aspekte der Skalenqualität (wie z.B. Konstruktionsäquivalenz) im Fokus. Durch eine analoge Erfassung von Konstrukten soll eine Basis für kommende Forschungsarbeiten in diesem Bereich geboten werden, um Vergleiche und Metaanalysen zu ermöglichen. Einen besonderen Raum nehmen im vorliegenden Werk Operationalisierungen des kulturellen Hintergrundes in interkulturellen Studien ein. Hierzu erfolgt eine Analyse der Bildung von Typologien in der Migrations- bzw. Akkulturationsforschung. Dabei wird ein Überblick über die bisher im internationalen Raum verwendeten theoretischen Modelle und Messmethoden angestrebt, um auch Besonderheiten darzustellen. Bedeutsam ist auch die Einordnung und kritische Auseinandersetzung mit den Typologienstudien über MigrantInnen, die in Deutschland realisiert wurden. Es wird auch skizziert, wie die methodische Qualität berücksichtigt werden soll, indem die statistische Äquivalenz der überprüften Konstrukte sichergestellt wird. Dafür werden die Vor- und Nachteile ausgewählter Erhebungsmethoden, die der Datenerhebung bei einer MigrantInnenstichprobe dienen, dargestellt. Zudem wird die Erfassung soziodemografischer Merkmale bei Personen mit Migrationshintergrund behandelt, da diese als Moderatorvariable im Akkulturationsprozess fungieren können. Abschließend werden im exemplarischen Abschnitt Messverfahren zur Erfassung individueller Dispositionen, des Akkulturationsausmaßes, der Identität, der Wertvorstellungen, der kulturellen Distanz, der Auswanderungs- sowie der Einbürgerungsmotive bei MigrantInnen beschrieben.
Die Stichprobengewinnung/Skalengewinnung und die gesamte Projektrealisierung ist in Teamarbeit entstanden.
Aufbau
Die Arbeit besteht aus insgesamt neun Kapiteln.
Zum ersten Kapitel
Im ersten Kapitel „Einleitung“ (S. 13-14) wird in das Forschungsfeld theoretisch eingeführt. Hier findet eine erste Auseinandersetzung mit den beiden Konzepten Kultur und Akkulturation statt. Dabei wird ein psychologischer Schwerpunkt angestrebt, da die Messverfahren psychologische Einstellungen erfassen sollen.
Zum zweiten Kapitel
Im 2. Kapitel „Einführung: Kultur und Akkulturation“ (S. 15-19) geht es um eine nähere psychologische Definition der Begriffe Kultur und Akkulturation. Im Sinne der psychologischen Kulturforschung wird der „Einfluss auf das Erleben, Verhalten und Handeln des Menschen“ fokussiert (S. 15). Maehler und Schmidt-Denter konstatieren Probleme bei der Konzeptualisierung des Begriffs Kultur in der Psychologie und allgemeinen sozialwissenschaftlichen Forschung, denn Kultur wird hier als ein vielseitiger Begriff beschrieben, dem kein einheitliches Konzept zugrunde liegt. Als vielseitiger Begriff umfasst es verschiedene Dimensionen (wie deskriptive, historische, normative, psychologische, strukturalistische und genetische Ebenen).
Hier wird auch ein besonderes Problem innerhalb der Migrationsforschung angesprochen: Obwohl Kultur die zentrale Causa der Migrationswissenschaften ist, wird sie nicht als eigenes Konstrukt verstanden, sondern vielmehr inhaltlich instrumentalisiert, d.h. mit Ethnizität bzw. Nationalität gleichgesetzt. Insbesondere frühere Forschungskonzepte nehmen eine Konstanz und Unvereinbarkeit von Kulturen an. Das Definitionsproblem, also die Annahme eines statischen Kulturbegriffs, hat negative Auswirkungen auf die methodologische und methodische Umsetzung in der empirischen Forschungspraxis. Dasselbe konstatieren sie auch für das Folgethema Akkulturation als Aneignung mindestens einer zweiten Kultur. Akkulturationsprozesse fanden in der psychologischen Forschung erst spät Berücksichtigung, obwohl die Anfänge dieses Phänomens bereits in der Antike betrachtet wurden. In der Migrationsforschung wurde Akkulturation meist anthropologisch definiert, also nur der kulturelle Wandel per se und nicht die individuellen Veränderungen innerhalb der verschiedenen Kulturen.
Die WissenschaftlerInnen operieren daher mit einem modernen, globalen Kulturbegriff, in dem Individuen mehreren Kulturen simultan angehören können. In diesem Zusammenhang fragen sie, „ob Kultur heute noch als Konglomerat von objektiv definierbaren und operationalisierbaren Variablen, die theoretisch als Bedingung psychischer Phänomene wirken, betrachtet werden kann. Betreibt man Migrationsforschung in Deutschland, dann besteht das Ziel darin, das Akkulturationsverhalten von Individuen zu analysieren, die in der deutschen Kultur leben oder sogar hier sozialisiert wurden und gleichzeitig einem oder mehreren weiteren kulturellen Settings angehören. Relevant ist in diesem Zusammenhang, inwiefern der nicht gemeinsame kulturelle Hintergrund dieser Individuen in Deutschland (gemeinsamer kultureller Raum) einen Einfluss auf die betrachteten Konstrukte (z.B. Identität) hat. Praktisch geht es also darum, sicherzustellen, ob von einer Konstruktäquivalenz der im Mittelpunkt stehenden Variablen ausgegangen werden kann (…), um einen verdeckten Effekt des kulturellen Hintergrundes auszuschließen“ (S. 17).
Zu diesem Zweck soll das Kulturkonzept anhand eines Aspekts (hier Wertedimensionen) operationalisiert werden (im folgenden Kapitel). Daneben wird in einem weiteren Schritt der Frage nachgegangen, welche Prozesse bei einem Wechsel des kulturellen Settings entstehen. Sie verfolgen hier eine psychologisch-pädagogische Forschungsrichtung, die den Prozessen des kulturellen Lernens folgt.
Zum dritten Kapitel
In Kapitel 3 „Operationalisierung von Kultur“ (S. 21-36) geht es um die Praxisfrage, wie das Kulturkonzept in der psychologischen Forschung anhand von Wertvorstellungen operationalisiert und in Abhängigkeit von der Stichprobe und dem Untersuchungsvorhaben eingesetzt werden kann. Maehler und Schmidt-Denter knüpfen an ihre Grundannahme, dass Kultur ein komplexes, mehrdimensionales und mehrstufiges Konstrukt ist, das kaum in einem einzigen Modell zu erfassen ist. Dazu werden drei Klassifikationsmöglichkeiten (im Sinne kultureller Dimensionen) exemplarisch erörtert.
a.) Kategorisierung nach Hofstede (1983).
Der Ansatz fundiert auf einer konzerninternen Untersuchung (IBM) mit 116.000 MitarbeiterInnen. Ziel war es, den Zusammenhang zwischen nationalen Kulturen und Unternehmenskulturen herauszuarbeiten. Entstanden sind dabei fünf Kulturdimensionen:
- Machtdistanz
- Unsicherheitsvermeidung
- Individualismus vs. Kollektivismus
- Maskulinität vs. Feminität
- lang- vs. kurzzeitige Ausrichtung.
Mit der Übertragung auf MigrantInnen sollen individuell wahrgenommene Ähnlichkeiten zwischen Herkunfts- und Aufnahmekultur überprüft werden. Dabei ist die Analyse der Beziehung zwischen Werten und Verhalten von Bedeutung. Die Operationalisierung von Kultur anhand der beschriebenen kulturellen Dimensionen eignet sich nur für MigrantInnenstichproben, die nicht in Deutschland geboren wurden oder als Kind eingewandert sind, da sonst Informationen zu den Lebensumständen und Normen der Herkunftskultur für einen Vergleich fehlen würden. Zudem könnten auch bei Personen mit längerem Auslandsaufenthalt und wenigem Kontakt zur Herkunftsgesellschaft die kulturellen Unterschiede zwischen Herkunfts- und Aufnahmekultur verschwimmen.
b.) Kategorisierung nach Schwartz (1999)
Dieses Modell definiert Kultur als Wertekomplex (hierzu zählen Meinungen, Einstellungen, Praktiken, Symbole, Normen). Die Wertetheorie basiert auf den empirischen Analysen des Schwartz Value Survey (SVS). Sie wurde konzipiert, um individuelle Wertetypen über verschiedene Kulturen hinweg zu untersuchen (hier: bei LehrerInnen- und StudentInnenstichproben). Es wurden Wertorientierungen sowohl auf individueller Ebene (persönliche Erfahrungen) als auch auf nationaler Ebene (normativ kulturelle Einflüsse) analysiert. Individuelle Werte sind als motivationale Ziele zu zehn Gruppen zusammengefasst (Wertesystem): Tradition, Konformität, Sicherheit, Macht, Leistung, Hedonismus, Stimulation, Selbstbestimmung, Universalismus, Benevolenz. Durch Werte auf nationaler Ebene (gesellschaftlicher common sense der Ideale) sollen Gesellschaften vergleichbar bzw. voneinander unterscheidbar werden.
Hier wurde eine systematische Theorie der Inhalte und Organisation individueller Werte entwickelt, die mit Hilfe kulturvergleichender Studien empirisch belegt ist. Dabei wurde die Theorie der individuellen Werte um die nationale Dimension erweitert. Mit den beiden Wertetheorien können so sowohl Personen innerhalb einer Gesellschaft als auch verschiedene Länder miteinander verglichen werden.
Der Ansatz von Schwartz eignet sich im Vergleich zum Ansatz von Hofstede auch zur Erfassung der individuellen Wertorientierung bzw. des kulturellen Hintergrundes bei Personen mit Migrationshintergrund, unabhängig davon, ob die Befragten der ersten (im Ausland geboren) oder zweiten Generation (im Inland geboren) angehören. Dieser Ansatz hebt aber im Vergleich zu dem vorangegangenen und nachfolgenden Ansatz eher den normativen Aspekt von Kultur hervor. Die Wertorientierungen sollen die Art und Weise erfassen, wie Individuen denken, fühlen und handeln, um ein gesellschaftliches Zusammenleben zu ermöglichen. Auch hier ist die Analyse der Beziehung zwischen Werten und Verhalten von Bedeutung. Unberücksichtigt beleibt aber die Tatsache, dass Nationen bzw. Gesellschaften aus verschiedenen Kulturen bestehen.
c.) Kategorisierung nach Inglehart und Welzel (1997)
Dieser weltweit validierte Ansatz ist eine weitere Option, das Konzept Kultur zu operationalisieren. Kulturen werden anhand der beiden relevanten Wertedimensionen traditionelle vs. säkular-rationale Werte und Existenzsicherungs- vs. Selbstentfaltungswerte kategorisiert. Diese beiden Dimensionen wurden bei der relativ umfassenden Untersuchung von Personen aus unterschiedlichen Ländern im Rahmen des WVS (World Values Survey) zwischen 1981 und 2007 faktorenanalytisch ermittelt (104 teilnehmende Länder mit rund 257.000 TeilnehmerInnen).
Im Konzeptmittelpunkt steht hier die gesellschaftliche Struktur. Es wird von der Stabilität von Wertedimensionen und der Abgrenzbarkeit kultureller Gruppen bezüglich ihrer Werthaltungen ausgegangen. Es stellt sich heraus, dass die Position jeder Gesellschaft anhand der obengenannten Dimensionen zweidimensional visualisiert und in kulturellen Regionen (orthodoxe Länder, Südasien, Afrika, Lateinamerika, katholisches Europa, protestantisches Europa, konfuzianische und englischsprachige Länder) verortet werden kann. Maßgeblich für die Gruppierung sind die religiöse Tradition, die koloniale Geschichte und das politische Erbe einer Gesellschaft.
Durch diesen Ansatz können Personen bestimmten Kulturen post hoc zugeordnet werden, auch wenn das Konstrukt Werte in einer Untersuchung selbst nicht direkt erhoben wurde, sondern nur das Herkunftsland der ProbandInnen. In der vermeintlichen Stärke liegt aber auch die signifikante Schwäche dieses Modells: Die Grenzen zwischen den Ländern und die umfassenden kulturellen Regionen sind subjektive, ideologische und politische Konstrukte. Zudem sind die gewählten Bezeichnungen nicht homogen (geografische Lage, Religion, Landessprache).
Abschließend konstatieren Maehler und Schmidt-Denter, dass ein Vergleich der drei Ansätze sehr schwierig ist. Die Modelle weisen strukturelle Unterschiede hinsichtlich ihrer Dimensionen (quantitativ und qualitativ) und ihrer Generalisierbarkeit auf. Zudem hinterfragen sie die Repräsentativität und Vergleichbarkeit der jeweiligen Ansätze, da diese anhand unterschiedlicher Stichproben validiert wurden und zum Teil auch zeitlich auseinanderliegen (genannt sei der Wertewandel). Dennoch stellen sie fest, dass alle drei Modelle fruchtbar sind, um nationale Kulturen abzubilden und sozial bedeutsame Phänomene zu erklären. Trotz der Unterschiede hinsichtlich bestimmter Merkmale (z.B. Konstrukt, Messmethode, Stichprobe) können sehr ähnliche Ländercluster abgebildet werden. Die allen Ansätzen zugrundeliegende Idee, dass Länder kulturelle Einheiten darstellen, wird bestätigt.
Die Bevorzugung einer der Ansätze ist abhängig davon, ob die gesellschaftliche Struktur (Inglehart und Welzel) oder die Analyse der Beziehungen zwischen Werten und Verhalten (Schwartz) im Mittelpunkt stehen bzw. die Erfassung des kulturellen Hintergrundes der Zielgruppe während (Schwartz) oder nach der Untersuchung (Inglehart und Welzel) geschehen soll.
Zum vierten Kapitel
Kapitel 4 „Typologien in der Akkulturationsforschung“ (S. 37-45) handelt von der Operationalisierung der Akkulturationsorientierung von Menschen mit Migrationshintergrund, d.h. um die Interaktion der beiden Dimensionen Herkunftskultur und Aufnahmegesellschaft. Neuere, aber auch ältere Modelle und Methoden zur Typologienableitung aus dem deutschsprachigen Raum werden einem inhaltlich-konzeptionellen Vergleich unterzogen und bezüglich ihrer Vor- und Nachteile ausdiskutiert.
Es zeigt sich, dass sich Akkulturationsforschung im letzten Jahrzehnt stark ausdifferenziert hat und neue Akkulturationstypologien ohne inhaltliche Standards bzw. statistische Validität entstanden sind. Diese Arbeiten sind aufgrund methodischer und theoretischer Unterschiede nicht vergleichbar und können daher kaum praktisch-politische Implikationen generieren.
In der bisherigen empirischen Forschung dominieren unidimensionale und bidimensionale Modelle. Unidimensionale Modelle gehen davon aus, dass sich Individuen im Akkulturationsprozess zwischen den Polen Beibehaltung der Herkunftskultur und Anpassung an die neue Kultur bewegen. Akkulturation vollzieht sich hier als Assimilation, da eine Person bei der Übernahme neuer Kulturmuster die bestehende Herkunftskultur aufgibt. Demgegenüber sehen bidimensionale Modelle die beiden Dimensionen „Beibehaltung der Herkunftskultur“ und „Anpassung an die neue Kultur“ als voneinander unabhängig an. Sie erkennen verschiedene Strategien der Akkulturation an, und Assimilation wäre nur eine von mehreren Optionen.
Im Mittelpunkt steht hier insbesondere das bekannteste bidimensionale Modell (von Berry 1997). Akkulturation wird hier als Prozess der kulturellen und psychologischen Veränderungen (als Folge von Interaktion zwischen zwei unterschiedlichen Gruppen) definiert. Dabei gibt es unterschiedliche Richtungen, wie z.B. gleichzeitige Bindung an die Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft (Integration), Anpassung an die Mehrheitskultur (Assimilation), Reduktion auf die eigene Gruppe (Segregation) und keine erkennbare Identifikation (Marginalisierung).
Für unidimensionale und bidimensionale Modelle sind unterschiedliche Methoden und Verfahren zwecks Bildung von Typologien vorhanden. Für unidimensionale Modelle ist das bipolare Verfahren des One-statement-measurement klassisch. Der Vorteil liegt in der verkürzten Durchführung, Auswertung und Darstellung der Akkulturationsevaluation. Die idealisierte Annahme einer negativen Korrelation zwischen Annahme der Aufnahmekultur und Beibehaltung der Herkunftskultur ist fraglich.
Dagegen operieren bidimensionale Modelle mit Two-oder Four-statement-measurement Methoden. Der Vorteil liegt in dem differenzierten Ausgang, da die ProbandInnen eigene Werte bezüglich ihrer Akkulturationsorientierung haben. Das Modell ist aber sehr komplex und mehrdeutig. Vor allem die Four-statement-Methode erfordert lange Erhebungsinstrumente und komplexe Itemkomplexe. Im direkten Vergleich der Erhebungsmethoden zeigt die One-statement-Methode zwar kurze Instrumente und einfache Interpretierbarkeit, die Two-statement-measurement-Methode kategorisiert aber besser. Die Two-statement-Methode löst die Probleme der beiden anderen Methoden auf, da ein Methodeneffekt unwahrscheinlich ist und zudem Beziehung zwischen beiden Kulturen erfasst werden.
Nach einem kritischen chronologischen Überblick über die bisherige psychologische Akkulturationsforschung in Deutschland stellen die AutorInnen fest, dass bisher meist von einem bidimensionalen Modell ausgegangen worden ist. Sie schlagen nach Durchsicht der bisherigen Forschung abschließend vor, die Akkulturationsorientierung auf individueller Ebene am besten mit einem bidimensionalen Ansatz erfasst und mit Hilfe einer Clusteranalyse (mit anschließender Diskriminanzanalyse) ausgewertet werden sollte.
Zum fünften Kapitel
Im fünften Kapitel „Äquivalenz interkultureller Messungen“ (S. 47-53) werden die theoretischen Ideen und Modelle der themenbezogenen Kultur-, Identitäts- und Migrationsforschung reflektierend analysiert. Die Überprüfung der Äquivalenz der verwendeten Messinstrumente (neben der Operationalisierung von Kultur und Akkulturation) stellt einen weiteren zentralen Aspekt bei Stichproben mit Migrationshintergrund dar.
Die interkulturelle Forschung will vornehmlich nach verschiedenen Ländern oder kulturellen Gruppen bezüglich bestimmter Merkmale vergleichen. Voraussetzung dafür ist aber erstens eine vorherige Überprüfung, ob Kulturen bezüglich bestimmter Konstrukte überhaupt vergleichbar oder äquivalent sind. Zweitens setzt der Vergleich immer einen Vergleichsgegenstand und -maßstab voraus. Es müssen also bestimmte Gemeinsamkeiten oder Äquivalenzen vorhanden sein, damit überhaupt Vergleich möglich ist.
Die Äquivalenz von Kulturen ist nicht nur in der ländervergleichenden Forschung von Bedeutung, sondern auch bei Untersuchungen mit MigrantInnen. Dabei soll aber geklärt werden, ob es bei Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen zu Verzerrungen kommt. Zentral sind zwei parallele Konzepte in der interkulturellen Forschung: Äquivalenz und Störfaktoren. Störfaktoren können zu Verzerrungen führen und damit die Vergleichbarkeit kultureller Gruppen beeinflussen. Dabei werden drei verschiedene Störfaktoren, die die Validität interkultureller Vergleiche gefährden, unterschieden: Verzerrungen können einhergehen mit dem Konstrukt, der Methode oder den Items einer interkulturellen Untersuchung (construct bias, method bias und item bias).
Ziel muss es daher sein, Verzerrungen möglichst zu reduzieren, um Äquivalenz interkultureller Gruppen zu erhöhen. Es gibt zwei Möglichkeiten, um solche Verzerrungen im Vorfeld zu minimieren: 1. Aufmerksamkeit auf das Messinstrument und das Untersuchungsdesign richten und 2. Statistische Techniken einsetzen, um Verzerrungen zu identifizieren und eventuell zu korrigieren. Für Äquivalenz gibt es drei Ebenen von interkulturellem Vergleich: unterste Ebene (Konstruktäquivalenz), mittlere Ebene (Messäquivalenz) und höchste Ebene (Skalenäquivalenz).
Maehler und Schmidt-Denter gehen auch auf statistische Analysemethoden ein. Anhand strukturell orientierter Techniken soll Äquivalenz auf allen drei Ebenen überprüft werden. Zur Überprüfung, ob dasselbe Konstrukt in verschiedenen kulturellen Gruppen gemessen wird, sehen sie verschiedene strukturell orientierte, statistische Methoden. Hier werden insbesondere die exploratorische Faktorenanalyse und die konfirmatorische Faktorenanalyse unterschieden.
In diesem Buch wird eine exploratorische Faktorenanalyse gefolgt von einer Targetrotation durchgeführt, um Koeffizienten für die faktorielle Übereinstimmung zwischen kulturellen Gruppen zu ermitteln. Der Vorteil wird vor allem darin gesehen, dass dadurch bedeutende kulturelle Unterschiede in der Faktorenstruktur aufgedeckt werden können. Im Folgenden wird dies anhand der Skala Selbstwert beispielhaft aufgezeigt (Kapitel 8).
Zum sechsten Kapitel
Abgeschlossen wird mit Kapitel 6 „Auswahl der Erhebungsmethode“ (S. 55-57). Die Methode wird hier abhängig von der Fragestellung einer Untersuchung und von der ProbandInnengruppe gesehen. Deshalb werden verschiedene Erhebungsmethoden und ihre Effekte vorgestellt. Am Ende wird dargestellt, welche Methode der Datenerhebung zur Erfassung psychologischer Konstrukte bei Personen mit Migrationshintergrund geeignet ist.
Es zeigen sich zwei Hauptarten der Datenerhebung: die mündliche und die schriftliche Befragung. Innerhalb der Befragung werden persönliche und telefonische Interviewarten unterschieden. Dabei zeigen sich auch Möglichkeiten, Methoden zu kombinieren. Sie gehen abschließend auf die Frage ein, inwiefern es Unterschiede zwischen den verschiedenen Erhebungsmethoden gibt. Konkret: Welche Effekte unterschiedlicher Datenerhebungsverfahren ergeben sich z.B. auf Antwortverhalten und Ausschöpfungsquoten?
Für die Befragung von Personen mit Migrationshintergrund bewerten sie die anonyme und private Befragungssituation als optimal. Insbesondere das telefonische Interview ist besonders gut geeignet.
Zum siebten Kapitel
In Kapitel 7 „Erfassung des soziodemografischen Hintergrundes“ (S. 59-62) wird ein Vorschlag gemacht, wie drei relevante Hintergrundaspekte (Sprachkenntnisse, Bildung, sozioökonomischer Status) bei Personen mit Migrationshintergrund erhoben werden können. Der Vorteil liegt darin, eine exakte Erfassung und Vergleichbarkeit mit anderen Stichproben zu ermöglichen.
Zum achten Kapitel
In Kapitel 8 „Messverfahren“ (S. 63-81) werden Messinstrumente beschrieben, welche geeignet sind, Personen mit Migrationshintergrund in Deutschland zu untersuchen, anhand derer auch die Daten zur Beschreibung der vorliegenden Skalen erhoben wurden. Die hier untersuchten MigrantInnen stammen aus 95 Herkunftsländern (Stichprobe N=949). Im Sinne der Clusteranalyse wurden die ProbandInnen nach Herkunftsland in sechs kulturelle Kategorien eingeordnet. In der Darstellung wurden die Messverfahren jeweils theoretisch eingebettet und Literaturhinweise gegeben. Es soll gezeigt werden, wie die Einzelitems skaliert sind und in Skalen zusammengefasst werden können. Besonderheiten der verwendeten Messverfahren werden hierbei unterstrichen. Zentral sind hierbei die Skalenqualität und Konstruktäquivalenz der Messungen.
Es werden sechs Hauptskalen unterschieden (für ein besseres Verständnis wird Skala 8.1.1 „Selbstwert“ detaillierter dargestellt):
8.1 Individuelle Disposition
- 8.1.1 Selbstwert (Akzeptanz gegenüber der eigenen Person,
Ausmaß der positiven Einstellung zu sich selbst auf Grundlage der
persönlichen Wertvorstellungen)
- Theoretischer Hintergrund/Inhalt
- Literatur
- Kategorien/Skalierung
- Besonderheiten
- Berechnung (Skalenbildung)
- Konstruktäquivalenz
- Tabelle
- 8.1.2 Big Five (Fünf Persönlichkeitskonstrukte-Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Neurotizismus und Offenheit für Erfahrung)
8.2 Akkulturation (Orientierung-Aneignung einer zweiten Kultur)
8.3 Identität (soziale Identität – Selbstzuordnung und Bindung zu verschiedenen sozialen Gruppen).
8.4 Kultureller Hintergrund (Wertdimension)
- 8.4.1 Wertvorstellungen (Ansatz von Schwartz)
- Individuelle Wertvorstellungen (Konzeptionen des Wünschenswerten, die als Leitfaden dienen, um bestimmte Handlungen auszuwählen, Menschen und Ereignisse zu bewerten, sowie die daraus resultierenden Handlungen und Bewertungen zu rechtfertigen).
- 8.4.2 Kulturelle Distanz: Ansatz von Hofstede (misst die wahrgenommene Ähnlichkeit zwischen Herkunftsland und Deutschland).
8.5 Motive der Auswanderung (Beweggründe, Herkunftsland zu verlassen, nach Deutschland zu kommen)
8.6 Motive der Einbürgerung (psychosoziale Gründe)
Zum neunten Kapitel
Kapitel 9 beinhaltet schließlich „Zusammenfassung und Ausblick“ (S. 83-84)
Zielgruppen
Das mit 128 Seiten kompakte Handbuch bietet insbesondere WissenschaftlerInnen, StudentInnen und PraktikerInnen der Migrationsforschung einen transparenten theoretisch-praktischen Leitfaden. Die erlesene Literaturliste am Ende eröffnet Interessierten weitere Orientierungs- und Forschungsperspektiven.
Diskussion
Gerade in der Migrationsforschung, die sich wandelnden Forschungsaspekten gerecht werden muss, ist Transparenz und Harmonie von Theorie-Praxis notwendig. Auch nach Jahrzehnten bewegt sich die Forschung um Migration und ihre Folgeprozesse auf unbekanntem Terrain. Mit jeder Generation kommen neue Phänomene und Herausforderungen zum Vorschein. Theorien, Modelle und Methoden können dieser dynamischen Entwicklung (eine Eigenart jedes sozialwissenschaftlichen Phänomens) nicht immer folgen. Neue Arbeiten wirken meist komplexitätsproduzierend und nicht komplexitätsreduzierend.
Eine von wenigen Ausnahmen bildet das vorliegende Buch von Dr. Débora Maehler und Prof. Dr. Ulrich Schmidt-Denter. Sie übernehmen in dieser Arbeit eine Herkulesaufgabe, die sie aber mit Bravour lösen. Es gelingt ihnen, auf knapp 100 Seiten Forschungsresümee, Forschungskritik und Forschungsausblick in ein produktives Verhältnis zu bringen. Mit ihrem Leitfaden für WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen schaffen sie eine Ordnung in der psychologischen Migrationsforschung in Deutschland. Sie bieten einen intensiven, kritischen Überblick über den theoretisch-methodischen Forschungsstand und die Forschungspraxis. Besonders wertvoll ist der Umstand, dass sie nicht auf der Metaebene bleiben, sondern die behandelten Messverfahren auf ihre Brauchbarkeit hin akribisch evaluieren und somit einer Weiterentwicklung des Forschungsgebietes beitragen.
Es werden erstmals für eine Migrationsstichprobe validierte Messverfahren, die verschiedene psychologische Konstrukte erfassen, zur Verfügung gestellt. Zudem werden konkrete Empfehlungen gegeben, wann (pre oder post hoc) welcher Ansatz geeignet ist, um Fragestellungen bezüglich Individuen mit Migrationshintergrund in Deutschland zu untersuchen. Dies geschieht durch einen übersichtlichen, vergleichenden Dialog zu den Vor- und Nachteilen der relevanten Erhebungsmethoden. Bisher gab es keine repräsentative, validierte Aussagen über das Akkulturationsausmaß von MigrantInnen in Deutschland.
Man merkt sofort: Die beiden WissenschaftlerInnen kennen sich in ihrem Bereich aus. Dem Buch gehen nämlich intensive Vorarbeiten zu Migrationsentwicklungen, Identitätsprozessen, Methodenbildungen und -anwendungen voraus.
Fazit
Bleibt zu hoffen, dass weitere Arbeiten folgen, die keinen Schlussstrich ziehen, sondern als gemeinsame Forschungsplattform dienen. Erst so kann eine angemessene Behandlung des Themengebietes gewährleistet werden.
Literatur
- Berry, J. W.: Immigration, acculturation and adaptation. In: Applied Psychology: An International Review, 46/1, S. 5-34, 1997
- Hofstede, G.: National cultures in four dimensions. A research-based theory of cultural differences among nations. In: International Studies of Management and Organization, 13/1-2, S. 46-74, 1983
- Inglehart, R.: Modernisierung und Postmodernisierung: Kultureller, ökonomischer und politischer Wandel in 43 Gesellschaften, Frankfurt 1997
- Schwartz, S. H.: A theory of cultural values and some implications for work. In: Applied Psychology: An International Review, 48/1, S. 23-47, 1999
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Päd. Yalcin Yildiz
Migrationsforscher.
Freiberufliche Tätigkeit in der Migrationssozialberatung und Ganzheitlichen Nachhilfe
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