Dagmar Kirchmair: Warum Mädchen kriminell werden
Rezensiert von Gesa Bertels, 15.10.2014

Dagmar Kirchmair: Warum Mädchen kriminell werden. Rechtfertigung delinquenten Verhaltens.
Tectum-Verlag
(Marburg) 2013.
339 Seiten.
ISBN 978-3-8288-3135-3.
D: 34,95 EUR,
A: 34,95 EUR,
CH: 43,30 sFr.
[Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum-Verlag / Reihe Pädagogik] Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum-Verlag, Reihe Pädagogik - Band 33.
Thema
Verwenden delinquente und gewaltbereite Mädchen in der stationären Jugendhilfe zur Begründung ihrer normabweichenden Handlungen Rechtfertigungsstrategien, die mit Hilfe der Neutralisationstheorie der Soziologen Gresham Sykes und David Matza erklärt werden können? Wenn ja, liegt hier evtl. ein möglicher, bislang zu wenig genutzter Ansatz für die Pädagogik, um mit diesen Klientinnen erfolgreich arbeiten zu können? Diese beiden Fragen stehen im Fokus der Studie von Dagmar Kirchmair. Sie überträgt den aus der Kriminalsoziologie stammenden theoretischen Ansatz auf das Feld der Pädagogik. Im Mittelpunkt ihres Forschungsinteresses stehen weibliche Jugendliche, die gewalttätiges Handeln oder eine entsprechende Gewaltbereitschaft zeigen. Anhand einer qualitativen Untersuchung überprüft die Autorin die Neutralisationstheorie auf ihre Erklärungskraft und ihr Potenzial für Handlungsanregungen im Feld der Heimerziehung bzw. stationären Jugendhilfe.
Autorin und Entstehungshintergrund
Dr. Dagmar Kirchmair war zum Zeitpunkt der Durchführung ihrer Studie als pädagogische Fachkraft in einer stationären Wohngruppe tätig. Derzeit arbeitet sie bei der Inneren Mission München, Diakonie in München und Oberbayern e.V. im Bereich Heilpädagogische Wohngruppen, wie eine kurze Internetrecherche ergab. In der Publikation selbst erfährt man mehr über ihren Musikgeschmack als über ihren beruflichen Hintergrund, denn ihre Danksagung widmet sie auf ungewöhnliche und sympathische Weise neben anderen Wegbegleiterinnen und -begleitern der Band „Die Toten Hosen“. Das vorliegende Werk basiert auf ihrer Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Aufbau
Sehr leserfreundlich ist der Einstieg anhand eines konkreten Fallbeispiels, das in den oben zitierten Forschungsfragen mündet. Die dann folgende Arbeit ist in zwei große Teile gegliedert.
Teil 1 umfasst in einem ersten Kapitel Erläuterungen zu den verwendeten „Begrifflichkeiten: Kriminalität, Delinquenz und Gewalt in Bezug auf Mädchen“. Es folgt in Kapitel 2 eine kurze, 6-seitige Skizze des „Theoretischen Bezugsrahmens“ sowie der daraus abgeleiteten Fragen und Hypothesen. Kapitel 3 widmet sich dem gewählten Forschungsfeld „Heimerziehung und stationäre Jugendhilfeformen: Begriffe, Forschungsstand und derzeitige Fachdiskussionen im Überblick“. Im 4. Kapitel, das vielleicht auch bereits an dritter Position hätte stehen können, wird dann die „Neutralisierungstheorie von David Matza und Gresham Sykes“ vorgestellt, die als Untersuchungsgrundlage dient.
Im zweiten Teil steht die konkrete Studie im Vordergrund. Dazu folgt in Kapitel 5 die Beschreibung der „theoretisch-methodischen Untersuchungsanlage“. Die „deskriptive Auswertung der Interviews“ steht im Mittelpunkt des 6. Kapitels. Ein zentrales, 7. Kapitel widmet sich einer „Kategorisierung und Analyse der selbstberichteten Rechtfertigungsstrategien“. In den Kapitels 8 und 9 folgen schließlich eine „Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse“ sowie ein „Resümee und Implikationen für die weitere Forschung“. Zudem sind in einem kurzen Anhang der Interviewleitfaden und die angewandten Transkriptionsregeln nachzulesen.
Inhalt
Zu Beginn der Arbeit werden die grundlegenden Begriffe Kriminalität, Delinquenz und Gewalt definiert, jeweils mit Blick auf die hier im Fokus stehende weibliche Zielgruppe. Sicher wäre es auch möglich gewesen, den darauf folgenden Absatz über den theoretischen Bezugsrahmen direkt mit der erst in Kapitel 4 folgenden Vorstellung der Theorie von Sykes und Matza, die ja hier als theoretischer Rahmen fungiert, zusammenzuführen. Nach einer knappen Skizzierung der Zielsetzung der vorliegenden Studie wird jedoch zunächst das Praxisfeld Heimerziehung näher beschrieben. Wie schon in Kapitel 2 zu dem Themenkomplex Gewalt und Mädchen werden auch hier mehrere Studien jeweils einzeln kurz vorgestellt. Dies zeugt von einer gründlichen Einarbeitung in den Forschungsstand. Als Leser/in hätte man sich allerdings evtl. auch eine Darstellung im Querschnitt, konzentriert auf die für die vorliegende Studie wesentlichen Aspekte, vorstellen können.
Es folgt die Darstellung des der Untersuchung zu Grunde liegenden Ansatzes von Sykes und Matza. Die beiden amerikanischen Forscher entwickelten ihre Theorie Ende der 1950er Jahre in Abgrenzung zum damals breit diskutierten Subkulturansatz. Bei diesem wird als Erklärung für abweichendes Verhalten angenommen, dass für die jeweiligen Personen nicht das gesellschaftlich allgemein akzeptierte Wertesystem Gültigkeit besitzt, sondern sie sich normkonform zu den davon unterschiedlichen Maßstäben einer devianten Subkultur verhalten. Sykes und Matza hingegen beobachteten, dass Kriminelle sehr wohl Schuld- und Schamgefühle empfinden. Sie schlossen daraus, dass diese Personen die gesellschaftlichen Werte und Normen durchaus anerkennen und sich ihres persönlichen Verstoßes dagegen bewusst sind. Ihre These war, dass Rechtfertigungsstrategien, die sie „Neutralisationstechniken“ (z.B. „Ich konnte meine Freunde nicht im Stich lassen“ oder „Es ist ja niemand ernsthaft verletzt worden“) nennen, den Verstoß gegen eine bestehende Norm erleichtern. Auch in diesem grundlegenden Abschnitt zur Neutralisationstheorie werden wieder mehrere Studien jeweils für sich kurz vorgestellt. Dabei werden auch viele Schwierigkeiten, die sich hinsichtlich der Operationalisierung und empirischen Überprüfung ergeben haben, nicht ausgeblendet: Ist das Konzept überhaupt empirisch belegbar? Sind die fünf von Sykes und Matza entwickelten Kategorien (bspw.: „Es ist ja niemand ernsthaft verletzt worden“ = Verneinung des Unrechts), die in späteren Jahren teils von anderen Forscherinnen und Forschern ergänzt wurden, überhaupt trennscharf? Sind Neutralisationstechniken tatsächlich kausal für abweichendes Verhalten oder treten sie evtl. lediglich begleitend bzw. im Nachgang auf? In ihrem gerade deshalb an dieser Stelle notwendigen, persönlichen Fazit zu diesem Kapitel kommt die Autorin zu den Schlussfolgerungen, dass Neutralisationstechniken einen Einfluss auf deviantes Verhalten haben, es jedoch unklar sei, ob sie diesem zwingend vorausgehen müssen und auch die verschiedenen untergeordneten Kategorien durchaus wandel- und ergänzbar seien.
Der zweite Teil beginnt mit einer Beschreibung der theoretisch-methodischen Untersuchungsanlage. Der Forschungsfrage entsprechend wurde ein qualitatives Design mit leitfadengestützten, problemzentrierten Interviews gewählt. Die Gesprächspartnerinnen, insgesamt 20 junge Mädchen und Frauen im Alter von 14 bis 20 Jahren, lebten zum Zeitpunkt des Interviews in mehreren Mädchenwohngruppen im Raum München. Anschaulich wird anhand verschiedener Beispiele deutlich gemacht, wie Forschungsprinzipien wie z.B. Offenheit und Kommunikation in der Interviewsituation umgesetzt wurden. Die Auswertung der Gespräche geschah mittels der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring. Zunächst werden anhand von Interviewauszügen deskriptive Merkmale (Verlauf des Hilfeprozesses, persönliche Wohn- und Lebenssituation, Kategorisierung der selbstberichteten Straftaten etc.) vorgestellt. Auffallend ist dabei, dass sich die befragten Mädchen von den bisher erlebten pädagogischen und teils auch strafrechtlichen Maßnahmen bis hin zu Gefängnisaufenthalten nicht besonders beeindruckt zeigten. In ihrer derzeitigen Wohngruppe fühlten sie sich überwiegend wohl. Dennoch sorgten sie selbst durch wiederholtes delinquentes Verhalten dafür, dass ihr Verbleib dort nicht sicher war. Im zentralen (7.) Kapitel dieses Teils, dem insgesamt umfangreichsten, wird entsprechend geprüft, ob der Blick auf die selbstberichteten Rechtfertigungsstrategien diesbezüglich und im Bezug auf weitere (Straf-)Taten ein Erklärungspotenzial bietet. In mehreren Interviews konnten dabei die fünf von Sykes und Matza eingeführten Techniken „Ablehnung der Verantwortung“, „Verneinung des Unrechts“, „Ablehnung des Opfers“, „Verdammung der Verdammenden“ und „Berufung auf höhere Instanzen“ (hier ausschließlich auf Freundinnen) nachgewiesen werden. Interessant: Die „Ablehnung der Verantwortung“ wurde hier, gestützt von den vorliegenden Ergebnissen, um vier Unterkategorien erweitert: Berufung auf Gleichgültigkeit („war mir egal“), Berufung auf das Recht zur Bedürfnisregulierung („das habe ich mir schon immer gewünscht“), Berufung auf das Recht zur Individualität („so bin ich“) und Verteidigung der Notwendigkeit („ich musste es tun“). Zudem wurde eine neue Technik, die „Berufung auf das Recht zur Emotionsregulierung“ („danach ging es mir gut“), hinzugefügt. In der Regel wurden mehrere Strategien (hier „Strategiebündel“ genannt) bei der Erklärung einer Tat herangezogen. Diese einzelnen Techniken werden mit ihren jeweiligen Facetten und anhand verschiedener Interviewauszüge anschaulich dargestellt.
Diskussion
Insgesamt kommt die Autorin in ihrer Studie zu interessanten Ergebnissen. Sie legt nicht nur da, dass Neutralisationstechniken von den straffällig gewordenen Mädchen zur Rechtfertigung angewandt werden, sondern ergänzt zudem die bislang bekannten Strategien insbesondere um den Stellenwert des emotionalen Erlebens. Ein interessanter, nachvollziehbarer Befund und ein Aspekt, der in der bestehenden Forschung bislang sicherlich zu wenig berücksichtigt wurde. In Bezug auf die eingangs gestellte Forschungsfrage kommt die Autorin somit zu klaren Erkenntnissen und Antworten.
Leider bleibt die Arbeit an dieser Stelle stehen. Die spannende Anschlussfrage, was die vorliegenden Erkenntnisse nun für die pädagogische Praxis im Umgang mit der hier untersuchten Zielgruppe bedeuten, wird hier nicht mehr tiefer diskutiert. Gerade die hier nachgewiesene Relevanz der Emotionsregulierung könnte diesbezüglich vielversprechende Ansätze bieten. Die Autorin verweist hier auf die Notwendigkeit weiterer, breiter angelegter Forschungsarbeiten. Zudem bleibt aufgrund des hier gewählten Untersuchungsdesigns die Frage offen, ob der Ansatz gleichermaßen auch auf Jungen und junge Männer anwendbar wäre. Das wäre natürlich insofern von besonderem Interesse, als Jugendkriminalität ein überwiegend männliches Phänomen ist.
Was mir persönlich zudem weniger gefallen hat, ist die wiederholte Kritik an der vermeintlichen Trennung der Disziplinen Kriminologie und Pädagogik. Ich bin mir diesbezüglich nicht sicher, ob die Trennschärfe zwischen den beiden Disziplinen nicht überschätzt wird. Beide bedienen sich doch jeweils verschiedener Bezugswissenschaften, darunter auch wechselseitig der Kriminologie und Pädagogik, sodass es zumindest Schnittmengen gibt. Zudem erscheint mir diese Unterscheidung insbesondere von der Situation in Deutschland geprägt zu sein, wo die Kriminologie an den Universitäten ihren Platz häufig an den rechtswissenschaftlichen Fakultäten hat. In anderen Ländern sind Kriminologinnen und Kriminologen hingegen stärker sozialwissenschaftlich orientiert, womit die Schnittmengen zu Disziplinen wie der Pädagogik, Erziehungswissenschaft oder auch Soziologie noch größer sind.
Fazit
Wer sich für die Hintergründe von Jugendkriminalität oder allgemein für Kriminalsoziologie bzw. Theorien abweichenden Verhaltens interessiert, in diesem Feld forscht oder lehrt, sollte der vorliegenden Publikation Beachtung schenken. Rechtfertigungsstrategien verhaltensauffälliger Mädchen sind ein in der pädagogischen Forschung bislang wenig beleuchtetes Feld. Hier trägt die vorliegende Studie dazu bei, eine Forschungslücke zu füllen, indem sie nachweist, dass Mädchen verschiedene, zumeist mehrere Neutralisationstechniken zur Rechtfertigung delinquenten Verhaltens einsetzen.
Rezension von
Gesa Bertels
Soziologin (M.A.) und Diplom-Sozialpädagogin (FH), wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut (DJI), München
Mailformular
Es gibt 19 Rezensionen von Gesa Bertels.