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Wulf Rössler, Wolfram Kawohl (Hrsg.): Soziale Psychiatrie. 2. Anwendung

Rezensiert von Ilja Ruhl, 27.01.2014

Cover Wulf Rössler, Wolfram Kawohl (Hrsg.): Soziale Psychiatrie. 2. Anwendung ISBN 978-3-17-021988-5

Wulf Rössler, Wolfram Kawohl (Hrsg.): Soziale Psychiatrie. 2. Anwendung. Verlag W. Kohlhammer (Stuttgart) 2013. 523 Seiten. ISBN 978-3-17-021988-5. 69,90 EUR.

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Herausgeber

Prof. Dr. med. Wulf Rössler, geb. 1947 bei Heidelberg, ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Psychologe. Er habilitierte sich mit dem Thema „Soziale Rehabilitation Schizophrener“. Ursprünglich thematisch mit der Gesundheitssystemforschung beschäftigt, verlagerte sich sein Fokus in Richtung der psychiatrischen Epidemiologie. Rössler befasst sich u.a. mit der Stigmatisierung psychisch kranker Menschen, der Evaluation von rehabilitativen Maßnahmen und mit Kostenaspekten des Versorgungssystems. Seit 2010 hat er eine Gastprofessur an der Leuphana Universität Lüneburg inne und leitet dort das Projekt „Vernetzte Versorgung“.

PD Dr. med. Wolfram Kawohl, ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und leitet seit 2007 das Kriseninterventionszentrum der psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich. Neben einem Schwerpunkt in der Versorgungsforschung befasst er sich außerdem mit Tic-Störungen und mit neurobiologischen Korrelaten psychopathologischer Phänomene.

Entstehungshintergrund

Nach der Zeit der großen Reformen in der Psychiatrie, die stark von sozialpsychiatrischem Denken geprägt waren, fand in der psychiatrischen Wissenschaft eine Hinwendung zu biologischen Ansätzen statt. Gleichwohl liefert die Sozialpsychiatrie vielfältiges praxisrelevantes Wissen. Die Herausgeber treten mit ihrem Handbuch an, um „die vielen Forschungs- und Tätigkeitsfelder […der Sozialpsychiatrie]“ abzubilden.

Aufbau

Das Buch umfasst fünf Teile.

Zu Teil 1: Präventive Ansätze

Der erste Teil befasst sich in drei Kapiteln mit der Suizidprävention, der Prävention von Suchterkrankungen und mit der Früherkennung von Psychosen.

Ajdacic-Gross stellt Risikofaktoren und eine Typologie des Suizids vor, um dann auf verschiedene Präventionsstrategien, insbesondere im Rahmen von Interventionen in der Öffentlichkeit, näher einzugehen.

Die Autoren Mutschler, Kowalewski und Kiefer differenzieren im Kapitel zur Prävention der Abhängigkeitserkrankungen zunächst die Begrifflichkeiten „schädlicher Konsum“, „Missbrauch“ und „Abhängigkeit“, um dann auf epidemiologische und neurologische Aspekte sowie die Evidenz von suchtpräventiven Maßnahmen einzugehen. Sie spannen dabei den Bogen von den legalen Substanzen Tabak und Alkohol bis zu den wichtigsten illegalen Drogen, mit dem Schwerpunkt auf erstere. Das Kapitel schließt mit Überlegungen zu den Grenzen und Fallstricken der Suchtprävention.

Das folgende Kapitel befasst sich mit der Früherkennung von Psychosen als eine Form der indizierten Prävention. Der Fokus liegt dabei auf den Früherkennungszentren für psychotische Erkrankungen. Neben den Konzepten und Kriterien zur Früherkennung wird das klinische und psychosoziale Vorgehen bei erhöhtem Risiko für den Ausbruch einer psychotischen Störung vorgestellt. Die AutorInnen gehen im letzten Abschnitt des Kapitels auf die ethischen Aspekte und Schwierigkeiten bei der Früherkennung von schweren psychischen Störungen ein.

Zu Teil 2: Einrichtungen und Versorgungsformen

Dieser Buchabschnitt ist sowohl von der Anzahl der Kapitel, als auch in Bezug auf die Seitenzahl der umfassendste und stellt die Vielzahl von Einrichtungen und Versorgungsformen, die sich an psychisch erkrankte Menschen wenden, vor.

Der zweite Teil beginnt mit einem Kapitel zum Assertive Community Treatment (ACT). Der ursprüngliche Text von Tom Burns wurde aus dem Englischen übersetzt. Der Text gibt sehr gut die methodisch eng gesteckten Grenzen wieder, in denen ACT evident wirkt. Außerdem wird auf die Verbreitung von ACT in Europa und im Besonderen in den Niederlanden und deutschsprachigen Ländern eingegangen.

Das folgende Kapitel von Heekeren befasst sich mit der historischen Entwicklung und mit den strukturellen Rahmenbedingungen der Tageskliniken. Der Autor fokussiert außerdem auf die Wirksamkeit dieses teilstationären klinischen Angebots, nicht ohne auch Kostenaspekte anzusprechen.

Ein ganzes Autorenteam befasst sich mit den psychiatrischen Institutsambulanzen (PIA) im deutschsprachigen Raum. Die zunächst etwas ungewöhnlich anmutende Kapitelüberschrift „Institutionelle ambulante psychiatrische Versorgung“ erklärt sich durch die unterschiedliche Namensgebung für Institutsambulanzen in der Schweiz, Österreich und Deutschland. Diese Versorgungsform wird für alle drei Länder umfangreich dargestellt.

Ähnlich wie im Kapitel zu den PIA gehen auch die AutorInnen vor, die im siebten Kapitel Aufbau, strukturelle Verankerung und Aufgabengebiete der Sozialpsychiatrischen Dienste in den drei oben genannten Ländern beleuchten. Die Darstellung unterschlägt dabei nicht die Heterogenität der deutschen Dienste, sondern lässt immer wieder durchblicken, dass sowohl die Organisationsformen als auch das definierte Leistungsspektrum innerhalb von Deutschland stark differieren.

Bergmann und Roth-Sackenheim befassen sich mit der vertragsärztlichen Versorgung von NervenärztInnen und PsychiaterInnen. Der Fokus ihrer Betrachtung liegt dabei auf den sozialpsychiatrischen Aspekten dieser Versorgungsform. Die LeserInnen erfahren u.a. wie die einzelnen psychischen Störungen in der ambulanten fachärztlichen Versorgung verteilt sind, welche Rolle das Psychotherapeutengesetz dabei spielt und inwieweit die „90 %-Regelung“ sich negativ auf das fachärztliche Hilfesystem ausgewirkt hat. Die Autoren gehen außerdem auf die Bedeutung psychiatrischer Fachärzte im Rahmen der Integrierten Versorgung ein.

Kawohl und Krämer nähern sich dem Thema der Krisenintervention an, indem sie zunächst deren Grundlagen erörtern, um dann auf deren Aspekte in Bezug auf einzelne Störungsbilder (z.B. Traumafolgestörungen, depressive Störungen) einzugehen.

Das Thema „Supported Employment“ wird im zehnten Kapitel von Lauber und Kawohl aufgegriffen, in dem sie die im Konzept des „Individual Placement and Support“ festgelegte Vorgehensweise darstellen und deren Evidenz referieren. Inhaltlich logisch schließt der Text von Plößl an, die sich mit der Arbeitsweise, der Finanzierung und den Qualitätskriterien der WfbM befasst.

Um die Integrierte Versorgung geht es im Kapitel, das Bramesfeld und Amelung verfasst haben, wobei hier der Schwerpunkt auf dem Aspekt der kontinuierlichen Versorgung psychisch erkrankter Menschen liegt. Die AutorInnen begrenzen dabei den Begriff der Kontinuität nicht auf den Beziehungsaspekt, sondern weiten diesen auf Aspekte des Informationsaustauschs zwischen verschiedenen Versorgungsformen und des (Fall-)Managements aus. Das Kapitel beinhaltet außerdem eine kurze Bestandsaufnahme der psychiatrischen integrierten Versorgung in Deutschland inklusive der in diesem Rahmen erbrachten Leistungen und Angebote.

Im Kapitel 13 geht es um aufsuchende Hilfen. Die Autoren vergleichen zunächst kontinuierliche aufsuchende Hilfen (z.B. ACT) mit den episodischen und krisenorientierten Hilfen (z.B. Home Treatment), um dann die Limitierungen aber auch Möglichkeiten aufsuchender Hilfen zu erörtern. Einige Fallbeispiele illustrieren dabei diese Ausführungen.

Anhand des Angebots der „Dargebotenen Hand“ in der Schweiz wird im nächsten Kapitel exemplarisch über die Arbeit eines Beratungstelefons informiert. Styder spannt dabei den Bogen von Vorteilen des Mediums Telefon für die Beratung über die Ergebnisse einer MitarbeiterInnenbefragung zum Nutzen der Telefonberatung für die Hilfesuchenden bis zu den besonderen Aspekten der gewahrten Anonymität für NutzerInnen und MitarbeiterInnen des Angebots.

Es schließt sich ein Text von Kallert an, der sich mit Formen des betreuten und begleiteten Wohnens befasst. Kallert nimmt zunächst eine Kategorisierung betreuter Wohnformen anhand des jeweiligen Leistungsumfangs (kurz-/langfristig, akut-nicht akut) vor, um dann auf die strukturellen Aspekte der Versorgungslandschaft in Bezug auf Angebote der Wohnbetreuung einzugehen.

Die Selbsthilfeorganisationen der Angehörigen psychisch kranker Menschen beleuchtet Seelhorst und wählt dabei einen pragmatischen Ansatz mit Hinweisen zur erfolgreichen Suche einer passenden Angehörigengruppe sowie zur Gründung und Finanzierung einer selbigen. Im Anschluss beschreibt die Autorin die deutsche Verbandsstrukuktur des Bundesverbandes der Angehörigen psychisch Kranker e.V. sowie die Aktivitäten der Angehörigen auf europäischer Ebene. Mit einer Anschriftenliste der Landesverbände endet das Kapitel.

Mit der sehr differenzierten Versorgungslandschaft für suchterkrankte Menschen und der Problematik, das passende (im Sinne von wirksamste) Angebot für die jeweilige hilfesuchende Person zu finden, befassen sich Kowalewski, Mutschler und Peter.

Das speziell schweizerische Angebot des Betreuungsdienstes stellt Kronenberg vor. Psychiatrieerfahrene MitarbeiterInnen unterstützen im Rahmen des Betreuungsdienstes Menschen mit Behinderungen oder altersbedingten Einschränkungen. Im Vorfeld dieser Tätigkeiten durchlaufen diese MitarbeiterInnen ein strukturiertes und begleitetes Ausbildungsprogramm.

Das Kapitel zur ambulanten psychiatrische Pflege (APP) stellt zunächst die historische Entwicklung der psychiatrischen Pflege dar und entwickelt im Anschluss eine Definition der APP. Der Autor beschreibt außerdem das sehr spezifische Anforderungsprofil der MitarbeiterInnen in der APP und das professionelle Verhältnis zwischen Pflegenden und den psychisch erkrankten Personen anhand der Diskussion um die Begriffe des Kunden, Patienten oder Klienten.

Während in einem vorherigen Kapitel verschiedene Aspekte der Selbsthilfeorganisation Angehöriger geschildert wurden, befassen sich Rudolf und Rüst mit der Selbsthilfe von psychiatrieerfahrenen Menschen. Dies geschieht zu Beginn des Kapitels im Rahmen eines Interviews zwischen Rudolf und Rüst. Neben den Aufgaben von Selbsthilfegruppen werden außerdem einige Beispiele und Aktivitäten genannt. Das Kapitel schließt mit einer Linkliste.

Inhaltlich anknüpfend an das Kapitel zur Selbsthilfe folgt ein Beitrag zum „Trialog“, der zunächst die Wurzeln und Entwicklung sowie Wesen und Ziele der Zusammenarbeit von Betroffenen, Angehörigen und Profis beschreibt. Eingebettet wird der trialogische Ansatz in das anthropologische Krankheitsverständis. Die AutorInnen gehen außerdem auf die Implementierung des trialogischen Ansatzes in die aktuellen Leitlinien zu psychosozialen Therapien ein.

Lötscher und Bridler stellen das schweizer Konzept der Akutbehandlung psychisch erkrankter Menschen in Gastfamilien vor. Während das Leben in Gastfamilien recht bekannt und in einigen Regionen gut etabliert ist, stellt die Akutbehandlung die Gastfamilien vor besondere Herausforderungen und setzt eine Vielzahl von zusätzlichen Kompetenzen voraus. Die referierten Evaluationsergebnisse machen deutlich, dass Betroffene von der Akutbehandlung in Gastfamilien sehr profitieren und gleichzeitig – trotz der hohen Belastung – eine Bereicherung für die Familien darstellen.

Der zweite Teil endet mit einem Kapitel zu den sozialpsychiatrischen Aspekten der Forensischen Psychiatrie. Die AutorInnen gehen dabei nicht ausschließlich auf die strafrechtlichen Aspekte der Thematik ein, sondern erläutern auch die betreuungsrechtliche Begutachtung im Rahmen der Fürsorge für Menschen, die aufgrund ihrer psychischen Erkrankungen umfangreiche Einschränkungen im Alltagshandeln erleben.

Zu Teil 3: Therapieformen

Der dritte Teil beginnt mit einem Kapitel zu Aspekten der sozialpsychiatrischen Pharmakotherapie. Die AutorInnen befassen sich vor diesem Hintergrund kritisch mit der Polypharmazie, mit dem Konzept des „Shared Decision Making“ und der Adherence sowie mit der Langzeitbehandlung. In einem weiteren Unterkapitel findet die Depotmedikation besondere Beachtung.

Tschacher, Pfammatter und Junghan stellen die Formen der Psychotherapie vor. Ausführlich werden außerdem die Unterschiede zwischen Wirkfaktoren und Techniken erläutert. Es folgt eine Betrachtung evidenzbasierter Psychotherapieansätze bei verschiedenen Störungs- bzw. Erkrankungsbildern, im Anschluss wird auf die besonderen Zusammenhänge zwischen der Sozialen Psychiatrie und Psychotherapie Bezug genommen.

Habermeyer und Gnoth geben den LeserInnen einen Überblick über sozialpsychiatrische Gruppenangebote im ambulanten und teilstationären Setting, indem sie zunächst strukturelle Aspekte (z.B. offene vs. geschlossene Gruppe) diskutieren, bevor sie auf die verschiedenen inhaltlichen Ausrichtungen (z.B. Stressreduktionstraining, Edukation, Sozialtraining) eingehen.

Das folgende Kapitel fokussiert auf therapeutische Interventionen, die sich speziell an Menschen wenden, die an Schizophrenie erkrankt sind. Hierzu gehören z.B. das Metakognitive Training oder die Identifikation von Stress.

Mit Pitschel-Walz und Bäuml haben die führenden VertreterInnen der Psychoedukation das Kapitel zu dieser Interventionsform verfasst. Neben einer Darstellung der historischen Entwicklung finden sich im Kapitel auch eine Übersicht der vielfältigen Manuale, ein kurzer Überblick zur praktischen Gestaltung psychoedukativer Angebote sowie Ausführungen zur Wirksamkeit.

Ein im deutschsprachigen Raum noch recht junger Ansatz ist „Recovery“. Amering, die hierzu das Standardwerk in deutscher Sprache verfasst hat, referiert in ihrem Text zu Definitionen und Konzepten und zur Bedeutung des Recovery-Gedankens für (sozial-)psychiatrische Institutionen. Neben der internationalen Entwicklung wird auch die Situation in Deutschland betrachtet.

Inhaltlich eng verzahnt mit dem Recovery-Ansatz ist die Idee des Empowerment, über das Rössler und Lauber referieren. Sie schildern die therapeutischen Voraussetzungen für Empowerment und gehen dezidiert darauf ein, welche Haltung von MitarbeiterInnen das Empowerment begünstigt.

Das bereits im Kapitel zur Pharmakotherapie angesprochene „Shared Decision Making“ wird in einem eigenen Kapitel nochmal ausführlich behandelt. Einen großen Raum nimmt dabei nach der Begriffsbestimmung die Darstellung von Messinstrumenten und der Stand der Forschung ein.

Es folgt ein knappes Kapitel zur Prävention psychischer Erkrankungen mit dem Schwerpunkt auf der primären und sekundären Prävention.

Cramer befasst sich mit der Soziotherapie, wobei hier nicht ausschließlich die im SGB V definierte medizinische Leistung gemeint ist, sondern vom Autor auch andere Formen psychosozialer Leistungen aus der Eingliederungshilfe verstanden werden.

Im Text zur sozialen Arbeit in der sozialen Psychiatrie zeichnen Sommerfeld und Rüegger zunächst die Entwicklungsgeschichte nach, um dann ausführlich auf das Leistungsspektrum einzugehen. Es schließt sich eine theoretische Reflexion an, bevor das Kapitel mit Aspekten der interprofessionellen Zusammenarbeit schließt.

Matter befasst sich mit der Ergotherapie sowie mit den verschiedenen Kunst- und Ausdruckstherapien. Nach einem kurzen geschichtlichen Überblick erläutert die Autorin theoretische Grundlagen der oben genannten Therapieformen sowie den Stand der Wirkungsforschung.

Der dritte Teil endet mit einem Kapitel zum Thema Internet und psychische Gesundheit, in dem sowohl die Problematik von Internetforen für suizidale Menschen aufgegriffen wird, als auch die Chancen des Internets für Selbsthilfe und Online-Therapien Beachtung finden.

Zu Teil 4: Leistungsrecht in der Praxis

Der vierte Teil von „Soziale Psychiatrie“ befasst sich mit dem Sozialrecht in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Für Deutschland werden die ambulante Behandlung, die Krankenhausbehandlung und Teilhabeleistungen beschrieben. Das Kapitel zum österreichischen Leistungsrecht ist sehr viel umangreicher und beschreibt u.a. verschiedene Pensionsvarianten, Ausgleichszulage, Pflegegeld und Familienbeihilfe. Hierlemann und Schmidt erläutern das schweizerische Leistungsrecht mit Krankenversicherung, verschiedenen Formen der Sicherung des Lebensunterhaltes und der beruflichen Vorsorge.

Zu Teil 5: Allgemeine Themen

Im letzten Teil des Buches werden Themen erläutert, die sich nicht den anderen Teilbereichen (z.B. den Versorgungsformen) zuordnen lassen, aber dennoch einen sozialpsychiatrischen Bezug haben (sollen). Den Anfang machen Burfeind, Zäske und Gaebel mit einem Text zur Öffentlichkeitsarbeit. Die Autoren legen ihren Schwerpunkt dabei auf die Öffentlichkeitsarbeit zugunsten der Betroffenen, mit dem Ziel, Stigma bzw. Stigmatisierung abzubauen. In diesem Zusammenhang werden z.B. Schulprojekte genannt, bei denen SchülerInnen über psychische Erkrankungen informiert werden. Vor dem Hintergrund der oft negativen Berichterstattung in verschiedenen Medien wird zudem die gute Zusammenarbeit mit Journalisten betont.

In eine ähnliche Richtung wie der Text zur Öffentlichkeitsarbeit geht das darauffolgende Kapitel. Hier liegt der Fokus aber auf den verschiedenen Interventionsformen zur Bekämpfung der Stigmatisierung auf der Makroebene sowie auf dem individuellen Umgang der Betroffenen mit Stigmatisierung bzw. Diskriminierung. Die AutorInnen erläutern außerdem die verschiedenen persönlichen Strategien, die Betroffene ergreifen können, um Stigmatisierung von außen, aber auch die Selbststigmatisierung zu begrenzen.

Im Kapitel von Löffler erhalten die LeserInnen einen Überblick über verschiedene Aspekte des Analphabetismus, wie z.B. epidemiologische Daten, Ursachen für dieses Phänomen, sowie Programme, die den Betroffenen helfen sollen, ihren Analphabetismus zu überwinden.

Der fünfte Teil endet mit einem Kapitel zur Supervision und Fortbildung in der Sozialpsychiatrie. Der Autor stellt neben den Formen der Supervision und der Erwartungen von MitarbeiterInnen an diese, u.a. auch die notwendigen Qualifikationen von SupervisorInnen vor. Außerdem geht er auf die Besonderheiten der verschiedenen Berufsrollen (Leitung, Mitarbeiter) und deren Bedeutung für den Supervisionsprozess ein. Das Kapitel endet mit einigen kurzen Anmerkungen zu Möglichkeiten und Formen der Fortbildung.

Diskussion

Der zweite Band des Herausgeberwerks „Soziale Psychiatrie“ ist mit „Anwendung“ überschrieben und befasst sich vor allem mit verschiedenen Praxisfeldern innerhalb der Sozialen Psychiatrie. Besonders ausführlich ist der zweite Teil, in dem Einrichtungen und Versorgungsformen dargestellt werden. Recht umfangreich ist auch die Übersicht über verschiedene Therapieformen (Teil 3). Die AutorInnen verfolgen dabei unterschiedliche Ansätze, fast alle beschreiben zunächst das jeweilige Anwendungsfeld, die Durchdringung der Themen fällt dann aber sehr unterschiedlich tief und breit aus. Hierin liegt sicherlich eines der wenigen Mankos des Buches, wünscht man sich doch bei einigen Themen eine umfangreichere Darstellung empirisch wissenschaftlicher Erkenntnisse. So finden z.B. die vielen Studien zur Bedeutung von Familienangehörigen für psychisch erkrankte Menschen oder z.B. zu krankheitsbezogenen Aspekten der Wohnumgebung keine Berücksichtigung

Die Auswahl der Themen überrascht mitunter. So stellt z.B. das (interessant zu lesende) Kapitel zum Analphabetismus eher einen Exkurs dar und lässt im Text den Bezug zur Sozialen Psychiatrie vermissen, obwohl sich dieser sicherlich herstellen ließe. Dagegen fehlt ein Kapitel zur stationären psychiatrischen Pflege, obwohl hier die MitarbeiterInnen aufgrund des hochfrequenten Kontakts zu den PatientInnen durch entsprechende Haltungen und Arbeitsweisen aus der Psychiatrie erst Soziale Psychiatrie werden lassen. Auch die Hilfsangebote für Kinder psychisch kranker Menschen fanden leider keinen Eingang in den 2. Band. Die gelegentlichen thematischen Überschneidungen zwischen einzelnen Kapiteln sind dagegen der Form (Herausgeberwerk) geschuldet und überwiegend zu verschmerzen.
Enttäuschend ist hingegen die außerordentlich holprige Übersetzung des Textes von Tom Burns, insbesondere, weil er eigentlich recht informativ ist. Dort finden sich Sätze wie „Es [das Modell] bietet zusätzlich ein Gefühl der Gründlichkeit und einen Bruch mit der Vergangenheit, so dass sich sowohl Politiker als auch Versorgungsbeauftragte mit dem Thema befassen“ (S. 61) oder „Solche Teams müssen ärztliches Personal enthalten […]“ (S.62).

Sprachlich positiv ragen dagegen die Kapitel zur Behandlung für Abhängige (S. 202 ff.), zu den sozialpsychiatrischen Diensten (S. 94 ff.) und die Texte von Ajdacic-Gross (S. 19 ff. und S. 378 ff.) heraus, erstere wegen der wohltuend klaren und z. T. bildhaften Sprache, Ajdacic-Gross nicht nur aufgrund seiner gut strukturierten und verständlichen Sprache, er weiß zudem mit ironisch-kritischen Fußnoten zu unterhalten. Auch der Text von Utz (S. 504) zur Supervision und Fortbildung überzeugt durch seine Klarheit und guten Strukturierung. Hier fallen nur die Ausführungen zur Fortbildung etwas kurz aus.

Das Kapitel von Heekeren (S. 67 ff.) überrascht mit sicherlich weniger bekannten Fakten zu den Tageskliniken. So erfahren die LeserInnen unter anderem, dass diese teilstationäre Versorgungsform ihre Anfänge in der UdSSR hatte. Auch die Ausführungen zum Zusammenhang zwischen PatientInnenmerkmalen und dem Erfolg tagesklinischer Behandlungen gehen soweit in die Tiefe, wie man sich dies von anderen Themengebieten gelegentlich gewünscht hätte. Die psychiatrische Akutbehandlung in Gastfamilien (S. 255 ff.) ist sicherlich vielen LeserInnen auch nicht bekannt und wird von Lötscher und Bridler interessant und faktenreich vorgestellt. Gut strukturiert ist das Kapitel von Habermeyer und Gnoth, die knapp aber ausreichend verschiedene manualisierte Gruppentherapien erläutern (S. 305 ff.).

Die von den verschiedenen AutorInnen angeführte Literatur ist häufig, aber nicht immer aktuell, so sind die Angaben zur Anzahl der Tageskliniken in Deutschland zehn Jahre alt (S.68). Die Literaturangaben dienen überwiegend als wissenschaftliche Belege, mitunter wäre hiervon losgelöst auch die Angabe von z.B. weiterführenden Monographien für die LeserInnen hilfreich gewesen.

Wie tief die Gräben zwischen dem medizinischen und dem sogenannten komplementären Bereich sind, wird im Kapitel zur Soziotherapie von Cramer (S. 387 ff.) deutlich. Der Autor beschreibt die voneinander unabhängige Entwicklung medizinischer und eher sozialarbeiterisch geprägter Versorgungsstrukturen. Dabei wird mitunter suggeriert, dass hieran die gemeindepsychiatrischen Einrichtungen die Schuld tragen. Auch für den Mangel an Studien aus der Sphäre der Gemeindepsychiatrie werden die Leistungserbringer von Cramer verantwortlich gemacht: „Es ist auch festzustellen, dass die gemeindepsychiatrischen Einrichtungen ihre Geschichte, ihre Strategien, Praxis und Erfahrungen weder in systematischer Form dargestellt noch in geeigneter Form evaluiert haben.“ Diese Aussage ist insofern sehr gewagt, als hierfür meines Wissens weder von den Kostenträgern noch von anderen Stellen finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt wurden. Gründe sind sicherlich eher darin zu suchen, dass sich die wissenschaftliche Forschung in der Sozialarbeit über lange Zeit nicht in der Form etablieren konnte wie in der Medizin. Hinzu kommt, dass die Psychiatrie über Jahrzehnte stark stationär orientiert war und man gemeindepsychiatrische Ansätze nicht sonderlich ernst nahm, weil hier aufgrund der besonderen deutschen Strukturen z.B. keine wissenschaftliche Karriere möglich war. Diese Probleme sind aber in erster Linie nicht dem jeweiligen Bereich anzulasten, sondern finden ihre Begründung in den sehr speziellen deutschen Sozialgesetzen.
Die Behauptung Cramers, man habe im „expansiven gemeindepsychiatrische[n] Bereich keinen Qualifikationsrahmen zur fachlichen Kompetenz seiner Mitarbeiter entwickelt“ wird durch die bestehenden Leistungs- und Prüfungsvereinbarungen zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern und den darin geforderten Anforderungen an die Fachlichkeit des Personal in der Regel widerlegt.

Auf der formalen Ebene hätten mehr Infografiken dem textlastigen Werk gut getan. Die hohe Zahl an (Tipp-)fehlern erweckt den Anschein, als sei das Buch abschließend nicht ausreichend lektoriert worden.

Zielgruppen

Als Zielgruppen kommen für den zweiten Band von „Soziale Psychiatrie“ neben den für den ersten Band bereits genannten Gesundheits- oder psychiatrischen PflegewissenschaftlerInnen auch SozialarbeiterInnen in der Gemeindepsychiatrie in Frage. Letztere sollten aber abwägen, ob nicht andere Einführungen bzw. Übersichten mit spezifischem Bezug zum Tätigkeitsfeld besser geeignet sind. Auch für ÄrztInnen mit erstem Kontakt zur Psychiatrie und für BerufsanfängerInnen im klinischen Sozialdienst ist der zweite Band geeignet, um sich in der Versorgungslandschaft zu orientieren.

Fazit

Der zweite Band von „Soziale Psychiatrie“ mit dem Bandtitel „Anwendung“ bietet einen sehr umfangreichen Überblick über die verschiedenen psychiatrischen Versorgungsformen und Therapieansätze, hat aber zum Teil Lücken. Dies ist sicherlich auch der komplexen Materie geschuldet, die das Buch abbilden möchte. Die Herangehensweise an die einzelnen Themen unterscheidet sich bei den AutorInnen und ist u.a. mit dem jeweiligen persönlichen Hintergrund (z.B. Profession) zu erklären. Positiv zu bewerten ist die Entscheidung, scheinbare Randthemen (z.B. Internet und psychische Gesundheit) mit aufzunehmen, an einigen Stellen wäre aber auch eine thematische Eingrenzung zugunsten der tieferen Analyse einzelner Fragestellungen sinnvoll gewesen. Die einzelnen Texte sind mit wenigen Ausnahmen gut strukturiert und lesbar. Der Blick über die Grenzen (Schweiz und Österreich) auf den die Herausgeber ausdrücklich Wert legten, eröffnet sicherlich vielen LeserInnen neue Einsichten und Anregungen.

Rezension von
Ilja Ruhl
Soziologe M.A.

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Es gibt 24 Rezensionen von Ilja Ruhl.

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Zitiervorschlag
Ilja Ruhl. Rezension vom 27.01.2014 zu: Wulf Rössler, Wolfram Kawohl (Hrsg.): Soziale Psychiatrie. 2. Anwendung. Verlag W. Kohlhammer (Stuttgart) 2013. ISBN 978-3-17-021988-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15630.php, Datum des Zugriffs 21.03.2023.


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