Volkmar Sigusch: Sexualitäten. Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten
Rezensiert von Matthias Meitzler, 03.02.2014

Volkmar Sigusch: Sexualitäten. Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten. Campus Verlag (Frankfurt) 2013. 626 Seiten. ISBN 978-3-593-39975-1. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 53,90 sFr.
Thema
Seit dem bahnbrechenden Werk von Sigmund Freud („Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“) sind mehr als 100 Jahre vergangen. Und „weil die menschliche Sexualität nichts ist, was seit Jahrtausenden unverändert wäre wie der Salzgehalt des Blutes“ (9), sondern seit jeher einem Wandel unterliegt, der mal neue und mal weniger innovative Erscheinungsformen, Diskurse und Paradoxien entstehen lässt, hat sich die Art und Weise wie Sexualität gelebt, gedacht, kulturell verhandelt und codiert wird, weiter verändert. Dass dieses vielschichtige Thema per se nicht nur eine biologisch-medizinische, sondern vor allen Dingen auch eine soziale Tatsache ist, gerät bemerkenswerterweise erst in den letzten Jahren verstärkt in den gesellschaftswissenschaftlichen Fokus (siehe z. B.: www.socialnet.de/rezensionen/9248.php). Einer, der dieses Diktum besonders ernst nimmt und sich schon sein gesamtes Wissenschaftlerleben damit auseinander setzt, ist Volkmar Sigusch. Das vorliegende Buch bildet die Summe seiner jahrzehntelangen Arbeit.
Autor
Volkmar Sigusch ist Mediziner, Soziologe und ehemaliger Leiter des Instituts für Sexualwissenschaft im Klinikum der Frankfurter Goethe-Universität. Er gilt weltweit als einer der renommiertesten Sexualforscher. Als Begründer der deutschen Sexualmedizin und führender Vertreter der Kritischen Sexualwissenschaft hat er in seiner langen Karriere unzählige einschlägige Publikationen vorgelegt, in denen er den Gegenstand der Sexualität – unter besonderer Berücksichtigung seiner sozialen Dimensionen – von einer rein medizinischen Betrachtungsweise löst. Sigusch ist Mitherausgeber mehrerer Fachzeitschriften sowie der Buchreihe „Beiträge zur Sexualforschung“, die mittlerweile auf eine über 60-jährige Geschichte zurückblicken kann und aus fast 100 Bänden besteht.
Entstehungshintergrund
Nachdem Sigusch gerade in jüngster Vergangenheit einige bedeutungsvolle Bücher veröffentlicht hat (wie z. B. „Neosexualitäten“, die „Geschichte der Sexualwissenschaft“ und das „Personenlexikon der Sexualwissenschaft“) kann der nun erschienene Band als ein Versuch des Autors verstanden werden, wichtige Versatzstücke seiner Jahrzehnte zurückreichenden Arbeit als Theoretiker und Therapeut in einem voluminösen Werk bilanzierend zusammenzuführen. Dessen Ziel ist, wie der Autor gleich am Anfang bemerkt, eine Synthese der „verstreuten Bemerkungen zu einer neuen Kritischen Sexualtheorie […] in der Hoffnung, Getrenntes zusammenzuführen, Beliebigkeiten zu überwinden, Ideologisches zu enttarnen“ (9).
Aufbau
Neben einem Vorwort enthält das rund 600 Seiten fassende Buch insgesamt 99 kleinere Abschnitte, die zwei unterschiedlich großen Blöcken untergeordnet sind:
- Kritische Sexualtheorie: Prämissen und Aporien (1-36) sowie
- Mundus sexualis: Paläo- und Neosexualitäten (37-99)
Inhalt
Im Vorwort begegnet der Leser zunächst einigen Bemerkungen gegenüber der Medizin, die „immer mehr zur Hure der Ökonomie“ (10f.) werde und deshalb einer kritischen Sexualwissenschaft kein Terrain mehr biete. Sigusch schreibt aus einer kultur- und gesellschaftstheoretischen Perspektive, die es erlaube „übers Ganze“ (11) zu sprechen. Damit möchte er sich explizit von einer Sexualpsychologie abgrenzen, die im Grunde immer nur einen einzelnen Menschen betrachten könne, „weil kein individuell-personales Sexual-, Liebes- und Geschlechtsleben mit einem anderen identisch ist“ (11f.). Dennoch müsse die Sexualwissenschaft (auch) am Subjekt festhalten, denn „trotz aller Vergesellschaftung ist Sexualität nur individuell wirklich“ (12).
Die darauffolgenden 99 Fragmente nehmen jeweils unterschiedliche Teilaspekte von Siguschs umfangreicher Sexualtheorie in den Blick. Einige davon sollen hier in aller Kürze exemplarisch herausgegriffen werden. Entgegen dem Alltagsverständnis, wonach Sexualität in erster Linie eine naturgegebene unveränderliche Sache zu sein scheint, greift eine solche Reduktion auf ihren starren, physiologischen Moment zu kurz – nicht zuletzt weil sich Vorstellungen und Bedeutungen dessen, was Sexualität im Allgemeinen und den Geschlechtsakt im Besonderen ausmacht, zusammen mit der Kultur, in der sie eingebettet sind, ständig verändern. Diesen Ausgangspunkt könnte man zugleich als Grundmelodie von Siguschs Arbeit verstehen. „Es kommt also darauf an, zu welcher Zeit welcher Wahrnehmungs-, Symbolisierungs- und Interpretationsrahmen in welchen Kontexten von wem benutzt und erlebt wird“ (216). Sexualität und Gesellschaft bieten eine untrennbare Einheit. Kritische Sexualwissenschaft gehe dabei der Frage nach, „wie Gesellschaft in das Sexuelle und Geschlechtliche eindringt und aus ihm spricht“ (214). Das Sexuelle restlos wissenschaftlich bestimmen zu wollen, bleibe bei all dem ein unmögliches Unterfangen. Die Wissenschaften, die sich mit Sexualität befassen, haben zwar ihre Berechtigung, jedoch ohne dass eine von ihnen diesbezüglich die letzte, über allem stehende Antwort bereithalte.
In gleich mehreren Abschnitten stellt Sigusch seinen Entwurf der Kritischen Sexualtheorie einer von ihm so genannten affirmativen Sexualwissenschaft gegenüber und arbeitet entscheidende Unterschiede heraus. Kritische Sexualtheorie, der es nicht darum gehe, „in Amen und Affirmation zu erstarren“ (17), sei vor allem um das Hinterfragen von Selbstverständlichkeiten und differenzierten Betrachtungen bemüht. So wende sie sich beispielsweise gegen das voreilige Pathologisieren bestimmter Sexualformen. „Sie will sich mit dem Wegschließen und Kastrieren der sogenannten Sexualstraftäter nicht abfinden und nicht vergessen, dass in der Mutter die Hure, im Strichjungen der sexuell Unberührte, in der züchtigen Frau die von Gewaltfantasien erregte lebt“ (126). Insofern führe sie weiter als die affirmative Sexualwissenschaft, die sich lediglich „mit den Fakten zufrieden [gibt] wie sie sind“ (214) und neue Entwicklungen wenig reflexiv, eher schablonenartig aufnehme. Da es wertneutrale Theorien ohnehin nicht gäbe, sei auch Sexualtheorie immerzu politisch. Zur Sprache kommen ebenso die Notwendigkeit und Probleme empirischer Sexualforschung und ihre Vereinbarkeit mit Kritischer Sexualwissenschaft – stets mit der Einsicht im Hinterkopf, dass es die „Wahrheit der Sexualität“ (213) nicht gibt.
Die Idee einer neosexuellen Revolution darf wohl als das Herzstück von Siguschs Werk gelten und erlangt somit auch in diesem Band eine entsprechend umfassende Würdigung. Zwei andere sexuelle Revolutionen gingen ihr voraus: zunächst jene um die Wende zum 20. Jahrhundert – die Zeit Freuds –, dann die Revolution der 1960er und 1970er. Seit den 1980ern schließlich könne von einer neosexuellen Revolution gesprochen werden. Zu dieser gehören beispielsweise die Debatten um Sex und Gender, AIDS, Missbrauch, die digitale Revolution (die neuen Facetten des Sexuellen im Internet), die Kommerzialisierung und damit zusammenhängend: die Banalisierung von Sexualität. Neosexuelle Revolution bedeute auch eine Verschiebung von Grenzen, wie beispielsweise diejenige zwischen privat und öffentlich oder jene zwischen normal und abnormal.
Bemerkbar macht sich der gesellschaftliche Wandel insbesondere beim Umgang mit so genannten „abweichenden“ Sexualformen. Sigusch bietet einen bunten Strauß von bekannten und weniger bekannten sexuellen Neigungen, Gelüsten und Begierden, die Menschen teils offen und teils im Verborgenen realisieren. Manche davon lassen sich heute mehr oder minder reibungslos in den Kanon „gewöhnlicher“ Sexualpraktiken etablieren (SM und/oder bestimmte Fetische), andere hingegen (Pädo- oder Nekrophilie) werden bei Bekanntwerden nach wie vor mit strengen sozialen und juristischen Sanktionen geahndet.
Die gebotenen Einblicke in diese überaus heterogenen sexuellen Wirklichkeiten, Begleiteffekte von Individualisierung und zunehmenden Lebensstildiversifikationen, machen einmal mehr evident, dass es die Sexualität nicht gibt und die Pluralform im Buchtitel deshalb bewusst gewählt wurde. Die Kultur- und Zeitgebundenheit dessen, was als sexuell abnorm, unzüchtig und krank verbucht wird, lässt sich u. a. am Bedeutungswandel von Masturbation, Oralverkehr oder vorehelichem Koitus nachvollziehen.
Gegen Ende des Buches kommt Sigusch auf einige Paradoxien der Gegenwartsgesellschaft zu sprechen. Eine davon – zugleich ein zentraler Ausgangspunkt der neosexuellen Revolution -
ist die Sättigung und gleichzeitige Entleerung des Alltags von sexuellen Reizen. „Vielleicht liegt im Abbau der Verbote und der Banalisierung der Sexualität der allgemeine Grund für die ,Lustlosigkeit‘“ (492). Geht das sexuelle Zeitalter also zu Ende?
Diskussion
Volkmar Sigusch liefert ein umfassendes Werk mit zahlreichen traditionellen wie modernen Diskursen der Sexualforschung, die vielfach noch über den sexuellen Kontext hinausreichen. Neben Nachzeichnungen sexualhistorischer Entwicklungsverläufe werden einige aktuelle Debatten und ethische Probleme tangiert. Wer mit Siguschs Arbeiten vertraut ist, wird vielem Altbekannten wiederbegegnen, aber auch so manches Neues erfahren. Ein eigenes Kapitel über „E-Sex“ (der als weitere Neosexualität angeführt wird) beleuchtet etwa die Vorzüge und Schattenseiten des Internets.
Während der erste Teil des Buches noch überwiegend aus sexual- bzw. wissenschaftstheoretischen Abhandlungen besteht, geht es im zweiten Teil sozusagen „an’s Eingemachte.“ Auf recht plastische und durchaus unterhaltsame Weise wirft der Autor einen Blick hinter den Vorhang und zeigt die Vielfalt sexueller Lebenswelten auf, die bei einigen Lesern Neugier und Faszination, bei anderen womöglich Irritation und Unbehagen wecken dürfte. Das Buch hinterfragt das Verständnis darüber, was in sexueller Hinsicht als normal gelten darf und was nicht. U. a. rüttelt es an heteronormativ geprägten Weltbildern, fordert und fördert einen differenzierten Umgang und sensibilisiert den Leser für die Frage: Von was reden wir eigentlich, wenn wir von Sexualität reden?
Wie schon angedeutet, lässt sich der Band auch als Kritik an und Abgrenzung von jenen Sexualwissenschaftlern lesen, die jegliches „unkonventionelles“ Sexualverhalten im Sinne internationaler Krankheitsregistern pauschal pathologisieren. (Obschon es auch nach Ansicht des Autors durchaus sexuelle Begierden gibt, die als krankhaft und behandlungsbedürftig gelten können – nämlich dann, wenn sie einen Zwangs- bzw. Suchtcharakter aufweisen und/oder beim Betroffenen einen Leidensdruck bewirken.) Besonders betont wird, „dass wir alle fetischistisch, voyeuristisch, exhibitionistisch, masochistisch, sadistisch usw. zu reagieren vermögen und es auch mehr oder weniger deutlich tun“ (230). Ähnlich wie bereits Freud, auf den er im gesamten Buch ohnehin auffallend häufig verweist und dessen Terminologie er sich teilweise borgt, denkt Sigusch die beiden Kategorien Perversion und Normalität zusammen. Keineswegs nämlich sei die Perversion die Verkehrung der Normalität, sondern vielmehr „deren Betonung und Überhöhung […] Perverse sind wie wir alle, nur ein bisschen mehr“ (374). Schließlich sei ein „beidseitig funktionierender sogenannter perverser Mechanismus“ (456) sogar wertvolle Voraussetzung für die langanhaltende sexuelle Vitalität eines Paares.
Die Heterogenität des Bandes zeigt sich nicht nur an seinen mannigfaltigen Inhalten, sondern auch am gewählten Stil der einzelnen Kapitel. Mal sind sie eher deskriptiv und faktenorientiert, mal theoretisch-analytisch, mal feuilletonistisch und mal wird der Leser mit einer Zahlenflut aus empirischen Untersuchungen überschwemmt, so z. B. durch ein Referat der berühmten Studien vom „West-Sexualempirie-Altmeister“ (455) Gunther Schmidt über den Wandel der Paarsexualität. Manche Kapitel bestehen einzig aus Berichten teilnehmender Beobachtung wie etwa im Sexkino: „Ein 60 oder 70 Jahre alter Mann, splitterfasernackt mit Bierbauch und schlaffem Genitale, winkt mir unzweideutig zu, ich tue so, als hätte ich nichts gesehen, und denke betroffen: Es gibt die neosexuelle Revolution tatsächlich“ (338). Andere Fragmente bestehen wiederum größtenteils aus Zitaten, die die subjektive Sichtweise von Betroffenen wiedergeben.
Die Fragmente richten ihre Aufmerksamkeit auf recht unterschiedliche Aspekte, ohne dabei einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben und alles bis ins letzte Detail ergründen zu wollen. Die Konzeption des Buches ermöglicht ein selektives Lesen, indem es, ähnlich wie ein lexikalisches Nachschlagewerk, je nach Interessenslage an beliebigen Stellen aufgeschlagen werden kann. Dennoch ist die Reihenfolge der Kapitel an einem logisch nachvollziehbaren Aufbau orientiert, und die Fragmente sind nicht trennscharf zu unterscheiden. Vielmehr lassen sich gleich mehrere rote Fäden identifizieren, die sich durch die enorme Stoffmenge ziehen, was zugleich den Nebeneffekt hat, dass im Buch viele Wiederholungen mit beinahe identischem Wortlaut auftreten.
Auch der nicht eben konventionelle Schreibstil soll hervorgehoben werden. Er verleiht dem Autor einen gewissen Wiedererkennungswert und macht das Buch zu einem literarischen Vergnügen macht. Siguschs Sprache zeichnet sich durch viele Metaphern, Neologismen und mitunter auch Rätselhaftigkeiten aus, deren Entschlüsselung ein bestimmtes Vorwissen bedingt. Manche Kommentare muten übertrieben pauschal, apodiktisch, selbstlobend, derbe, polemisch, provokant an und sind wohl eher mit einem Augenzwinkern zu lesen: „Alles spricht dafür, dass Hunde und Katzen, Hamster und Wellensittiche generell liebevoller behandelt werden als zerbrechliche Kinder und gebrechliche Alte“ (293). Und manche der aufgeführten Fakten dürften es dem Leser erschweren, einen plausiblen Zusammenhang zum „Generalthema“ Sexualität herzustellen: „Fischbestände. 1990 schätzten die UN 19% der Bestände als überfischt ein, 2008 waren es 33%“ (440).
In jedem Fall macht die Lektüre des Bandes deutlich, dass die Sexualwissenschaft, so wie sie Sigusch versteht, eben nicht nur theoretisches, sondern vor allem auch ein praktisches Interesse hat, indem sie auf gesellschaftliche „Missstände“ aufmerksam macht und zur Intervention anregt.
Fazit
Insgesamt handelt es sich um ein tiefsinniges und durchaus unterhaltsam geschriebenes Buch, in welchem der Autor einerseits die wichtigsten Erkenntnisse seiner jahrzehntelangen theoretischen wie empirischen Arbeit zusammenbringt und diese andererseits um neue Perspektiven erweitert, die den jüngsten gesellschaftlichen Entwicklungen gerecht werden. Hierdurch erweist sich der Band als bedeutsames Nachschlagewerk, das in keinem Buchregel sexualwissenschaftlich Interessierter fehlen darf.
Rezension von
Matthias Meitzler
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