Maximilian Schmidt: Organizing als demokratische Funktion
Rezensiert von Prof. Michael Rothschuh, 29.10.2013

Maximilian Schmidt: Organizing als demokratische Funktion. Die Mobilisierungs- und Beteiligungsstrategie der Obama-Administration.
Lit Verlag
(Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2011.
187 Seiten.
ISBN 978-3-643-11222-4.
19,90 EUR.
CH: 31,90 sFr.
Reihe: Medien & Politik - Band 42.
Thema
Barack Obama hat als Community Organizer gearbeitet, Organizing-Methoden für seine Wahlkampfkampagne 2008 genutzt und die Wahlen mit einer besonders hohen Zahl von Wählerinnen und Wählern (Popular Vote) gewonnen. Von der Politik ist dies aufmerksam zur Kenntnis genommen, viele – auch in Deutschland – haben Wahlkampfelemente von Obama, wie z.B. Nutzung der elektronischen Medien und direkte Gespräche mit Wählern und Telefonaktionen, übernommen.
Aber was kommt nach dem Wahlsieg? Hat Organizing auch Bedeutung für Obamas Tätigkeit als Präsident der USA? Kann Organizing aus dem Amt des Präsidenten eine Strategie zur Mobilisierung und Beteiligung der Anhänger sein? Hat Organizing als Regierungsstrategie eine Funktion für die Demokratie?
Diesen Fragen geht Maximilian Schmidt in seiner Studie auf theoretischer und empirischer Grundlage nach.
Autor
Maximilian Schmidt (geb. 1983) hat die Studie Anfang 2011 als Magisterarbeit nach dem Studium von Politikwissenschaft und Geschichte vorgelegt und für das Buch im Sommer 2011 überarbeitet und aktualisiert. Schmidt arbeitete schon mit 20 Jahren für einen SPD-Minister, sieht nach eigenen Angaben die Sozialdemokratie als politische Heimat und ist Anfang 2013 Abgeordneter der SPD im Niedersächsischen Landtag geworden. Politische und wissenschaftliche Interessen bilden den Hintergrund der Arbeit; sie zeigt laut Klappentext „exemplarisch auf, wie transformative Reformpolitik auch unter schwierigen Rahmenbedingungen durchgesetzt werden kann.“
Aufbau
Die Arbeit umfasst drei Hauptteile:
- Eine theoretische Abhandlung stellt das politische System der USA vor, skizziert Organizing als politisches Handlungskonzept und erläutert den Analyserahmen für die nachfolgende empirische Studie.
- Eine Fallstudie untersucht nach einer Retrospektive auf Obamas Wahlkampf im Jahr 2008 Akteure, Instrumente und Prozesse des Organizing als Tätigkeit der Obama-Administration für den Zeitraum 2009-2011.
- Im Schlussteil wird gefragt, welche Bedeutung und Ergebnisse Organizing als Regierungsstrategie hatte und haben können.
1. Theorie
Schmidt erläutert die Rolle des Präsidenten im politischen System der USA. Seine Machtfülle würde medial überzeichnet. Zwar habe er eine Vielzahl von bedeutenden Rollen vom Staatsoberhaupt über den Regierungschef bis hin zum Oberbefehlshaber; Senat und Repräsentantenhaus als die beiden Kammern des Kongresses seien aber als Gesetzgeber weder direkt vom Präsidenten noch von den Parteien steuerbar und häufig politisch mit gegensätzlichen Mehrheiten zusammen gesetzt. Vor allem innenpolitisch sei daher Kommunikation das entscheidende Instrument des Präsidenten, sowohl intern zwischen Weißem Haus und dem Kongress, als auch extern gegenüber der Öffentlichkeit. Die Instrumente der öffentlichen Kommunikation seien dabei vom jeweiligen technischen Fortschritt bestimmt und reichten vom Radio (schon bei Roosevelt) über das Fernsehen (z.B. bei Reagan) bis hin zum Internet, das bei Obama eine besondere Rolle spiele. Dieses „Going Public“ würde genutzt, um die eigene politische Agenda auch mit Hilfe der öffentlichen Meinung durchzusetzen.
Schmidt setzt sich zum Ziel, die öffentliche Kommunikation des Präsidenten insbesondere dort zu analysieren, wo sie neue Elemente enthält. Eine Form der Kommunikation sei der organisierte Dialog insbesondere mit Hilfe des Organizing.
Organizing als Konzept setzt Schmidt mit Community Organizing (CO) gleich, wie es vor allem durch Saul Alinsky (1909-1972) geprägt wurde. Er zeichnet unter Nutzung vor allem von deutschen Quellen in knappen Zügen die Entwicklung des CO in den USA nach. Zentrales Ziel von CO sei „die Befähigung von Menschen, sich als Bürger am politischen Prozess zu beteiligen“, schreibt Schmidt (S.46). Im Gegensatz zum Kommunitarismus ginge es dabei nicht um eine Abnabelung vom staatlichen System. „Stoßrichtung von Organizing ist es stattdessen, politische Mitsprache durch Gegenmacht zu erzwingen“ (S.47).
Seine zentrale These zum Verhältnis von Organizing und Politik bei Obama ist: „Organizing als politische Beteiligungs- und Mobilisierungsstrategie…wurde von der Wahlkampagne in die Regierungspraxis übertragen (S.13f.).
2. Fallstudie
Diese These untersucht Schmidt anhand vor allem der online verfügbaren öffentlichen Kommunikation der Obama-Administration in den Jahren 2009-2011.
Dabei analysiert er (1) die Akteure, (2) die Instrumente und (3) einzelne politische Prozesse. Er erforscht, welche Akteure mit welchen Instrumenten arbeiten, welche Muster in den Prozessen der Umsetzung erkennbar sind, wie weit die Strategie erfolgreich ist und welche tatsächliche Qualität Organizing als Partizipationsinstrument hat.
(zu 1) Unter den Akteuren macht Schmidt das Weiße Haus und das neu geschaffene „Organizing for America“ (OFA) als Hauptakteure der Beteiligungs- und Mobilisierungsstrategie aus, denen gegenüber die Ministerien sowie die Demokratische Partei eher in den Hintergrund träten. Während vom Weißen Haus auch bei früheren Präsidenten die Kommunikation mit der Gesamtgesellschaft ausgegangen sei, sei OFA eine neue und nicht mit Vorbildern vergleichbare Organisation, die Barack Obama aus der Wahlkampforganisation „Obama for America“ geschaffen habe und mit der er seine Wählerkoalition von 2008 zu erhalten, auszubauen und nunmehr auf seine inhaltliche Agenda zu beziehen versuche.
OFA solle als „politischer Arm“ (S.73) des Weißen Hauses dienen und die Umsetzung des grundlegenden „Change“, der Obamas zentrales Wahlmotiv war, fördern.
„Organizing for America (OFA) stellt eine auf die Demokratische Partei aufbauende, aber dennoch weitgehend autonome Kampagneneinheit dar, die die Aufgabe hat, von außen für die präsidentielle Agenda zu werben und versucht, durch legislative activism den Entscheidungsprozess im Kongress zu beeinflussen“ (S.144).
(zu 2) Als Instrumente werden vor allem Handlungsformen des Organizing gekennzeichnet. Dies seien sowohl Online-Aktivitäten von Blogs über E-Mails und soziale Netzwerke bis hin zu Multimedia-Produkten als auch „offline-basierte Instrumente“ (S.81) wie öffentliche Veranstaltungen, Telefonaktionen sowie Door-to-Door-Kommunikation. Im Kern seiner eigenen Erhebung steht dabei die E-Mail-Kommunikation von OFA. Die bei OFA registrierten Empfänger erhielten manchmal mehrere E-Mails am Tag, die über die politischen Kernthemen informieren sowie zu Aktionen, Veranstaltungen und Geldspenden aufrufen. Sie seien in der Anrede oft personalisiert und zugleich für den Bezirk regionalisiert, auf dessen Postleitzahl sich der Empfänger eingetragen hat.
(zu 3) Von den politischen Prozessen hätte die Health Care Reform, die Gesundheitsreform, so lange im Vordergrund gestanden, bis dieses Thema Mitte 2010 zunächst als erfolgreich abgeschlossen erschien. Vor den Kongresswahlen im November 2010 seien dagegen Spenden und Wahlkampfthemen nach vorne getreten. Andere Themen, wie die Wirtschafts- und Finanzpolitik, die Immigrationsreform und die Gleichberechtigung der Schwulen im Militär, die auf der Agenda von Obama einen hohen Stellenwert gehabt hätten, wären eher nachrangig kommuniziert worden.
Die Gesundheitsreform sieht Schmidt als Modell einer erfolgreichen Regierungsstrategie mittels Organizing an. Sie sei in den USA angesichts einer Vielzahl von nicht oder unzureichend Versicherten ein Dauerproblem, an dessen Lösung insbesondere Bill Clinton angesichts des massiven Widerstands der politischen Rechten gegen Elemente eines Sozialstaats gescheitert sei.
Schmidt stellt drei Phasen des Organizing zur Gesundheitsreform jeweils mit einer zentralen Rolle von OFA dar: Die erste Phase sei die Verbreitung der Agenda selbst gewesen mit einer Vielzahl von persönlichen Geschichten der Betroffenheit, einem Aktionsprogramm mit lokalen Meetings sowie einem nationalen Aktionstag. Die zweite Phase hätte Lobbying mit Öffentlichen Veranstaltungen (Town Halls), Videos, einer Website, einer Sondersitzung des Kongresses sowie Telefonkampagnen beinhaltet. Die dritte Phase wäre geprägt von der unmittelbaren Vorbereitung der Abstimmungen in dem Repräsentantenhaus und dem Senat durch Großveranstaltungen und einen „Final March for Reform“ (S.113) mit zehn Aktionstagen. Der krönende Abschluss wäre dann im März 2010 die Abstimmung und anschließende Unterzeichnung des Gesetzes, verbunden mit einer symbolischen Mitunterzeichnung durch die Mitglieder von „Organizing for America“ gewesen.
3. Ergebnisse
Durch Organizing sei keine „Bürgermacht“ entstanden, die das System insgesamt verändert hätte. Der „institutionelle Handlungskontext der USA, ist geblieben wie er zuvor auch war“(138). Aber Organizing ermögliche die Durchsetzung und Umsetzung von für die Verhältnisse der USA äußerst weitgehenden Reformen. Weniger geeignet sei Organizing z.B. für die Erarbeitung von Steuerkompromissen. „Bei erhöhtem Konsensdruck erschweren externe, kampagnenartige Aktionen eher eine konsensuale Lösung“ (S.139). Organizing hätte vor allem Mobilisierung erreicht. Beteiligung sei insofern erreicht worden, als Jung- und Erstwähler sowie Angehörige von gesellschaftlichen Minderheiten aktiviert worden wären.
Eine pauschale Übertragung von Organizing als Regierungsstrategie z.B. auf Deutschland sieht Schmidt als kaum möglich an, weil die Strukturen sich insbesondere durch das unterschiedliche Parteien- und Wahlsystem unterschieden. Lediglich Dialog-Instrumente könnten adaptiert werden. Angesichts des Zeitpunkts der Veröffentlichung mitten in der ersten Amtszeit Obamas schließt der Autor mit dem Satz „Die Zukunft ist offen“ (S.153).
Diskussion
Schmidt lenkt mit seiner Studie die Aufmerksamkeit auf einen Faktor der Politik Obamas, der sonst wenig Aufmerksamkeit erfährt: Der häufig als „mächtigster Mann der Welt“ angesehene Präsident der USA implementiert ein Instrument ausgerechnet für die Entwicklung von „Gegenmacht“ in seine Regierungstätigkeit. Das übliche Denken, nach dem Wähler vor einer Wahl mobilisiert werden und dann bis zur nächsten Wahl zusehen, wie der Präsident Versprechungen umsetzt oder auch nicht, wird hier konterkariert. Erwartet wird von den Anhängern eine permanente Aktivität, denn der gewählte Präsident ist nur so mächtig, wie seine Anhänger erfolgreich Druck auf seine Gegenspieler ausüben. Schmidt begründet dies mit dem amerikanischen Regierungssystem, in dem der Präsident oft genug nicht über die Mehrheit in beiden Häusern zurück greifen kann. Bei Einbezug der gesellschaftlichen Ebene könnte man zu der Analyse gelangen, die dem Ansatz Alinskys nahe kommt: Auf der „Gegenseite“ sind nicht etwa nur anders denkende Abgeordnete vom Kongress, sondern es geht auch um die Macht der Vielen gegenüber der Macht des Geldes, wie sie sich z.B. beim Thema der Gesundheitsreform im medizinisch-industriellen Komplex manifestiert. In den Mails von Organizing for Action, der 2013 gegründeten Nachfolgeorganisation von Organizing for America, heißt es regelmäßig: „The other side will spend millions to maintain the status quo. We„re fighting for change -- chip in $5 or more to support OFA today.“
Etwas verkürzt erscheint dem Rezensenten Schmidts Verständnis von Community Organizing (CO).
Zum einen ist CO nicht nur eine Strategie zur Durchsetzung von Zielen, sondern zugleich die Bildung von handlungsfähigen Nachbarschaften und Communities, die Entwicklung einer vertrauensbasierten, handlungsfähigen Gemeinschaft und Förderung von demokratischer Leadership. Die „Community“ bleibt bei Schmidt – und auch bei OFA selbst – überwiegend virtuell, im CO dagegen ist die Community real und sie wird mit Ono-to-one-Gesprächen, Haustürbesuchen, Nachbarschaftstreffen usw. entwickelt. Vertreter der Theorie und Praxis des CO wie Sandy und Schutz grenzen deshalb vor allem Obamas „Presidential Campaign“ deutlich vom CO ab: „Campaign versus Organizing“ [1].
Zum anderen hat CO nicht zum zentralen Ziel, die „Bürger am politischen Prozess zu beteiligen“ (S.46), die Stärke des CO ist vielmehr ein Agenda Setting, bei dem nicht die Themen der Politik zu Themen der Menschen werden, sondern die oft scheinbar privaten Themen der Menschen wie z.B. Verschuldung oder Armut zu öffentlichen und politischen Forderungen umgestaltet werden. Bei Obamas Organizing dagegen wird die Agenda durchgehend top-down vom Präsidenten zu seinen Anhängern hin formuliert. Dies führt weitergehend zu der Frage, ob und wie eine demokratische Struktur innerhalb von OFA entwickelt werden müsste und könnte.
Zu Recht schließt der Autor das Buch mit dem Satz „Die Zukunft bleibt offen“ (S.153) und weist darauf hin, dass eine vertiefte empirische Forschung wohl erst nach Obamas Präsidentschaft möglich ist. Schmidt selbst ergänzt sein Buch in einem Aufsatz [2] mit der Schilderung der weiteren Entwicklung bis Anfang 2012, als aus dem „Organizing für America“ wieder das Wahlkampfinstrument „Obama for America“ wird. Mittlerweile hat sich 2013 nach Obamas Wiederwahl auch dieses wieder gewandelt in „Organizing for Action“, immer noch unter der Internetadresse www.barackobama.com; jetzt aber ist das neue OFA eine offiziell sowohl von der Demokratischen Partei als auch der Regierung unabhängige gemeinnützige Organisation mit einer Vielzahl von örtlichen Gruppen. Ob diese aber im Präsidentschaftswahljahr 2016 und womöglich darüber hinaus existieren wird und welche Aufgabe sie dann haben könnte, ist derzeit nicht voraus zu sagen.
Fazit
Maximilian Schmidt hat die Regierungstätigkeit von Barack Obama von 2009 bis 2011 daraufhin beobachtet, in welcher Weise und mit welchem Erfolg Obama kommunikative Instrumente des Organizing nutzt, um eine langfristige Koalition von Anhängern zu bilden und zu erhalten, die aktiv und auch gegen Widerstände etablierter Interessen für die Umsetzung grundlegender Reformen eintritt. Dazu führt er gut verständlich in das politische System der USA mit der nur scheinbar übermächtigen Rolle des Präsidenten ein und untersucht empirisch die öffentliche Kommunikation der Präsidentschaft Obamas. Er kommt zu dem Ergebnis, dass „sich Organizing als demokratische Funktion bewährt hat“ (S.153). Dieses gelte für das amerikanische Regierungssystem, sei aber nicht insgesamt auf die politischen Strukturen in Deutschland mit dem anders gearteten Parteiensystem zu übertragen.
Schmidts Buch öffnet für bewundernde, verwunderte und auch enttäuschte Beobachter der Präsidentschaft Obamas einen neuen Blick auf die Dynamik zwischen Regierungssystem und der Basis in der Bevölkerung bei der Durchsetzung von einer Politik, deren Motto „Change“ ist.
[1] Schutz, Aaron/ Sandy Marie G., 2012: Collective Action for Social Change, New York, Palgrave paperback edition, S.111
[2] Schmidt, Maximilian, 2012: Organizing for America, ms – der moderne staat – Zeitschrift für Public Policy, Recht und Management, 5. Jg., Heft 1/2012, S. 215-227, www.budrich-journals.de/index.php/dms/article/view/10469
Rezension von
Prof. Michael Rothschuh
Professor an der HAWK-Hochschule Hildesheim/Holzminden/Göttingen, Lehrgebiete Sozialpolitik, Gemeinwesenarbeit. Pensioniert.
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Zitiervorschlag
Michael Rothschuh. Rezension vom 29.10.2013 zu:
Maximilian Schmidt: Organizing als demokratische Funktion. Die Mobilisierungs- und Beteiligungsstrategie der Obama-Administration. Lit Verlag
(Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2011.
ISBN 978-3-643-11222-4.
Reihe: Medien & Politik - Band 42.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15634.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.
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