Christiane Bähr, Hans Günther Homfeldt u.a. (Hrsg.): Weltatlas Soziale Arbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Ute Straub, 03.03.2014

Christiane Bähr, Hans Günther Homfeldt, Christian Schröder, Cornelia Schweppe (Hrsg.): Weltatlas Soziale Arbeit. Jenseits aller Vermessungen. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2013. 444 Seiten. ISBN 978-3-7799-2892-8. D: 34,95 EUR, A: 35,90 EUR, CH: 45,90 sFr.
Thema
Das Thema dieses Sammelbandes sind internationale und transnationale Zugänge in der Sozialen Arbeit, ein Bereich, der in der Fachdiskussion in den letzten Jahren an Bedeutung auch im Hinblick auf eine globale Neuverortung der Profession an Bedeutung gewonnen hat. Auf 444 Seiten werden in einer allgemeinen Einführung und in 28, z.T. englischsprachigen Einzelbeiträgen Praxisfelder und Zielgruppen sowie Forschungsprojekte nicht aus einer vergleichenden Perspektive vorgestellt, vielmehr soll die weltweite Vielfalt der Praxis und Forschung von Sozialer Arbeit angedeutet und die Bindung an spezifische Regionen reflektiert werden (18).
„Weltatlas Soziale Arbeit“ – das klingt nach einem umfassenden, global orientierten Nachschlagewerk. Dies wird aber sogleich durch den Untertitel „Jenseits aller Vermessungen“ relativiert, um jeglichen Anschein von „Vermessenheit“ zu vermeiden. Für den Titel „Weltatlas“ habe man sich entschieden, um zu einer stärkeren Auseinandersetzung mit internationalen und transnationalen Zugängen in der Sozialen Arbeit aufzurufen und gleichzeitig zu zeigen, wo es bereits Verortungen in unterschiedlichen Weltregionen gibt (9).
AutorInnen und Entstehungshintergrund
Die HerausgeberInnen sind eine Mischung aus „altgedienten“ Lehrenden und „frischen“ (Post-)Doktoranden und -Doktorandinnen, die zu diesem Themenbereich arbeiten (z.T. aber auch schon MitherausgeberInnen anderer Werke zu diesem Themenbereich waren). Von den insgesamt 36 AutorInnen kommt die Mehrzahl aus dem DFG-Graduiertenkolleg „Transnationale Soziale Unterstützung“ unter der von Leitung Wolfgang Schröer und Cornelia Schweppe (sie sind auch HerausgeberInnen), angesiedelt an der Stiftung Universität Hildesheim, Institut für Soziale- und Organisationspädagogik, und der Johannes Gutenberg Universität Mainz, Institut für Erziehungswissenschaft. Der Forschungsfokus des Projektes richtet sich auf Formen transnationaler sozialer Unterstützungen und Dienstleistungen im Kontext des täglichen Lebens mit dem Schwerpunkt auf drei Bereichen: „Family Care“, „Community-based Social Support“ und „Social Security and Intervention“. Die MitherausgeberInnen Cornelia Bähr und Christian Schröder sind Promovierende in diesem Projekt, mit Hans-Günther Homfeldt, Emeritus der Universität Trier, ist ein Mitbegründer des Graduiertenkollegs dabei. Weitere AutorInnen sind einschlägig ausgewiesene Lehrende und Forschende aus dem In- und Ausland. Einige Beiträge sind in englischer Sprache veröffentlicht.
Aufbau
In der gemeinsamen Einführung der HerausgeberInnen werden zunächst allgemeine und sozialarbeitsorientierte Themen rund um Entgrenzung/ Globalisierung angesprochen, die allerdings nur teilweise in den Einzelbeiträgen aufgegriffen werden. So wird zum Beispiel einleitend ausgeführt, dass es politisch weiterführend wäre, wenn Soziale Arbeit sich mit Konzepten wie World Polity Ansatz, der Weltgesellschaft oder des Global Governance beschäftigen würde (14), um sich im Prozess der Globalisierung zu verorten. Es wäre interessant gewesen zu erfahren, ob und wie sich diese übergeordneten Konzepte in der konkreten Sozialen Arbeit in den einzelnen Weltregionen widerspiegeln- dies wird aber nicht aufgegriffen.
„Weltatlas der Sozialen Arbeit“: Entsprechend diesem Konzept sind die einzelnen Kapitel nicht thematisch geordnet, sondern kartografisch in neun Regionen unterteilt:
- Maghreb-Maschrek (Christian Schröder, Arne Schäfer, Matthias D. Witte, Gavaza Maluleke)
- Subsahara (Claudia Olivier, Caroline Schmitt, Andreas Wagner, Christiane Bähr)
- Tigerstaaten (Carolin Oppermann, Miu Chung Yan, Elke Kaufmann, Yvonne Bach)
- Süd- und Südostasien (Hia Sen, Annett Bochmann, Jan Steinhöfel)
- Ozeanien (Hanna Rettig, Kylie Agllias, Mel Gray)
- USA (Rich Furman, Douglas J. Epps, Michelle Sachez, Alyssa Ackerman)
- Lateinamerika (Cornelia Schweppe, Nicole Himmelbach, Nedine Tettschlag)
- Osteuropa (Elena R. Iarskaia-Smirnova, Sofia An, Zaira Jagudina)
- Europa (Lothar Böhnisch, Wolfgang Schröer, JohannaKrawietz, Stefanie Visel)
Die einzelnen Kapitel werden mit einem Hauptbeitrag eingeleitet, in dem die Region und die mit den Lokalitäten verbundenen Zugänge zu Sozialer Arbeit vorgestellt werden. Zwei kürzere Beiträge sollen die jeweilige Region themenspezifisch beleuchten. „Einige Beiträge bringen länderbezogene Überblicke, andere wählen stärker Orte aus und weiterhin finden sich Aufsätze, die die Region als Anregung und Verweisungsort nehmen. Wir sehen die Unterschiedlichkeit als Qualität (…)“ (26).
Inhalte
So bieten sich anregende Einblicke, die hier in einer Auswahl erwähnt seien. Vorgestellt wird beipielsweise eine buddhistisch ausgerichtete Drogentherapie in einem Kloster in Thailand (Elke Kaufmann), die nach dem Grundsatz absoluter Selbstverantwortlichkeit ausgereichtet ist. Der raumsoziologisch orientierte Essay von Annet Bochmann, „Die Ordnung des Räumlichen in einem Flüchtlingslager“, lädt ein, das Camp nicht nur als Ort des Leids und des Elends zu sehen, sondern als „Paradigma des modernen Raums“ zu begreifen, in dem die weltweite Vernetzung unterschiedlichster AkteurInnen einen ausdifferenzierten Orientierungsrahmen schafft. Zur Entlarvung des (post)kolonialen Blicks trägt der Beitrag von Hia Sen bei, in dem es um Kinderfürsorge in Indien aus gerechtigkeitspolitischer Sicht geht. Er beleuchtet die geschichtliche Entwicklung der „Entdeckung der Kindheit“ bis zum „Educational Turn“, der indigene Ansätze einbezieht und ganz unterschiedliche Kindheiten auf dem Subkontinent wahrnehmen lässt. Eine beeindruckende Analyse des Aufbaus von Strukturen für Soziale Arbeit in den post-sozialistischen und post-sowjetischen Ländern (Sofia An) zeigt auf, dass es dort weniger um Transition/ Transformation i. S. des Wechsels von einem System zum anderen geht, als vielmehr um eine orginär transnationale gegenseitige Beeinflussung, aus der innovative Modelle entstehen können. Die Forschung zu ländlichen und abgelegenen Regionen in Ozeanien (Kylie Agllias) zeigt, wie durch die Berücksichtigung der spezifischen Ressourcen vor Ort – soziales Kapital, kulturelle Rahmungen und sozialer Zusammenhalt – die Kritik am nördlichen/ westlichen Konzept Sozialer Arbeit so umgedeutet werden kann, dass strukturelle Nachteile durch kreative Lösungen ausgeglichen werden, die sich nicht (ausschließlich) an „herkömmlicher“ Sozialer Arbeit orientieren.
Eine Bündelung einzelner Themen bieten v.a. drei der Weltregionen-Kapitel. Die Beiträge zu Sozialer Arbeit in den USA, „Clinical Social Work in the United States“ (Rich Furman, Douglas J. Epps, Michelle Sachez, Alyssa Ackerman) und „Gesundheitsförderung und psychosoziale Traumaarbeit“ (Hans Günther Homfeldt, Silke Birgitte Gahleitner) ermöglichen einen hervorragenden Überblick über die aktuelle Entwicklung von und die kritische Debatte um Clinical Social Work und verdeutlichen die Unterschiede zu den Ansätzen Sozialer Arbeit in (West-)Europa. Ähnliches gilt für die Beiträge zu Lateinamerika (Cornelia Schweppe, Nicole Himmelbach, Nedine Tettschlag), die aufzeigen, dass es eine Klammer um die Entwicklungen der Sozialen Arbeit in den insgesamt sehr unterschiedlichen Ländern gibt, nämlich die einer politisch verstandenen und sich einmischenden Sozialen Arbeit. Im Schwerpunkt des Europa-Kapitels (Lothar Böhnisch, Johanna Krawitz, Stefanie Visel) wird deutlich, dass Care europäische wie globale Auswirkungen hat (global care chain).
Weiterhin gibt es grundlegende Beiträge zu Indigenous Social Work von Mel Gray, zu Community Organizing von Carsten Müller und Peter Szynka, zur Sozialen Arbeit in der Katastrophenhilfe von Cornelia Bähr und im Kontext von Entwicklungszusammenarbeit von Andreas Wagner. Es werden Praxisfelder und Konzepte aufgezeigt, die für die internationale Soziale Arbeit allgemein zunehmend relevant sind, wenn sie auch (recht willkürlich) an weltregionale Kapitel angehängt sind (siehe Diskussion).
Diskussion
In der Einführung werden zahlreiche Themen angesprochen, die aber nicht in Bezug zu den folgenden Einzelbeiträgen gesetzt sind. Wünschenswert wäre eine stärkere thematische Verknüpfung von Einführung und Einzelbeiträgen gewesen.
Die Gewichtung der kartografischen Aufteilung, die immerhin zwei Kapitel dem kleinen Europa widmet, anderen, größeren Weltregionen jedoch weniger Platz einräumt, wird nicht erläutert. Dies wäre eine Begründung wert gewesen, da ein kritischer Blick auf Eurozentrismus und die Dominanz des globalen Nordens Teil des Inhalts der Publikation ist.
Die Perspektiven, die geöffnet werden um „zu zeigen, wie und dass (Hervorhebung im Org.) gegenwärtig in ‚unseren‘ sozialpädagogischen Welten Zugänge der Sozialen Arbeit diskursiv zusammen mit Verortungen in unterschiedlichen Weltregionen hergestellt werden“ (9), beschränken sich bis auf eine Ausnahme auf die Blickrichtung vom globalen Norden auf den globalen Süden, was natürlich der Zusammensetzung der AutorInnen geschuldet ist. Doch wäre auch dieses im oben genannten Kontext eine Anmerkung wert gewesen.
Etwas verwunderlich ist, dass – obwohl es um Kritik am Dominanzanspruch westlicher/ nördlicher sozialer Arbeit geht –, auf die alte IASSW/ IFSW-Definition für Soziale Arbeit Bezug genommen wird, wo doch seit längerem verbandsöffentlich an einer Neudefinition gearbeitet wird. In dieser Neudefinition, die auf dem gemeinsamen Weltkongress von IASSW und IFSW 2014 in Melbourne verabschiedet werden soll, ist u.a. neu, dass nicht nur der soziale Wandel als Aufgabe der Sozialen Arbeit angeführt wird, sondern auch sozialer Zusammenhalt (social cohesion), gemeinsame Verantwortung (collective responsibility) und soziale Entwicklung (social development) eine herausragende Position bekommen haben. Ganz wesentlich ist, dass als (theoretische) Grundlage für die Soziale Arbeit nun auch die indigenen Wissenssysteme (indigenous knowledges) angeführt werden, auch als (theoretische) Grundlage und Inspiration für innovative sozialarbeiterische Ansätze. Für eine „Neuvermessung“ (10) der Sozialen Arbeit sind das unbedingt einzubeziehende Aspekte.
Eine weitere kritische Anmerkung bezieht sich auf die an verschiedene Kapitel angehängten grundlegenden Darstellungen von Ansätzen und Praxisfeldern (s.o.). Diese sind jedoch weniger an spezifische Gegebenheiten in einzelnen Regionen geknüpft, sondern weltweit relevant und übertragbar. Wäre es nicht sinnvoll gewesen, sie – zusammen mit einem Beitrag zu Social Development und dem Capabilities-Approach, die in mehreren Einzelbeiträgen ausgeführt werden – in einem eigenen Kapitel zusammenzufassen? Damit wären jene Ansätze und Praxisfelder in einem Überblick präsentiert, die im Zusammenhang mit einer neu ausgerichteten Definition Sozialer Arbeit besonders zu beachten sind.
Ein Verzeichnis der zahlreichen Abkürzungen hätte die Lektüre erleichtert.
Fazit
Die Lektüre setzt einiges an Vorwissen voraus. Doch die Publikation löst ein, wozu sie auf dem rückwärtigen Cover einlädt: „Der Weltaltas Soziale Arbeit eröffnet die Möglichkeit, sich kritisch mit Diskursen der Sozialen Arbeit auseinanderzusetzen, wie sie an unterschiedliche Weltregionen gebunden werden“ und es „werden über den Fokus der Weltregionen die Diskussionen um sozialpädagogische (zu ergänzen: sozialarbeiterische, Anm. d. Verf.) Perspektiven in der globalisierten Welt eröffnet“. Alle Einzelbeiträge tragen zur Horizonterweiterung bei und damit empfiehlt sich die Lektüre unbedingt für alle, die mehr über die Vielfalt weltweiter, internationaler und transnationaler Sozialer Arbeit wissen wollen.
Rezension von
Prof. Dr. Ute Straub
Frankfurt University of Applied Sciences
Fachbereich 4: Soziale Arbeit und Gesundheit
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Es gibt 9 Rezensionen von Ute Straub.
Zitiervorschlag
Ute Straub. Rezension vom 03.03.2014 zu:
Christiane Bähr, Hans Günther Homfeldt, Christian Schröder, Cornelia Schweppe (Hrsg.): Weltatlas Soziale Arbeit. Jenseits aller Vermessungen. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2013.
ISBN 978-3-7799-2892-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15645.php, Datum des Zugriffs 20.03.2023.
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