Ramita G. Blume: Ethik hat keinen Namen
Rezensiert von Dr. Norbert Schermann, 21.10.2013

Ramita G. Blume: Ethik hat keinen Namen. Erziehung als Anthropotechnik bewusster Evolution von Individuum und Gesellschaft.
Carl Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2012.
259 Seiten.
ISBN 978-3-89670-951-6.
D: 24,95 EUR,
A: 25,70 EUR.
Reihe: Systemtheorie, Gesellschaft, Pädagogik.
Autorin
Ramita G. Blume, Dr. phil., MSc, MSc, studierte Philosophie, Pädagogik, Medien- und Kommunikationswissenschaft und promovierte an der Universität Wien. Masterdiplom in Supervision, Coaching und Organisationsentwicklung. Sie arbeitet freiberuflich als systemische Therapeutin, Organisationsberaterin, Lehrsupervisorin und pädagogische Leiterin im Aus- und Weiterbildungsbereich.
Thema und Hintergrund
Die sich globalisierenden und krisenhaft erscheinenden Perspektiven des ökologischen und sozialen Gesamtsystems des Planeten lassen den Ruf nach nach Ethik – wieder einmal? – lauter werden. „Du musst dein Leben ändern“, wie es etwa auch Sloterdijk formuliert, wird zum Imperativ der Gegenwart – für das Gesellschaftlich-Kollektive ebenso wie für das Individuelle. Auch der Ruf nach entsprechender Erziehung oder das was mancherorts dafür gehalten wird, gerät in Zeiten der Krise zur populistischen Projektion des Versagens der regierenden Generation an die nächsten, „die es besser machen“.
Die Autorin des vorliegendes Buches, zugleich eine Kollegin im Feld der Beratung, hat sich einem ehrgeizigen Vorhaben gewidmet. Denn: Über Erziehung ist doch schon alles gesagt worden – möchte man meinen. Ramita Blume belehrt den/die LeserIn in bestechender Weise eines Besseren.
Aufbau und Inhalt
In acht Teile splittet sich der Zugang auf, dessen Ausrichtung darin besteht, Erziehung als gesellschaftliche Aufgabe und ihren Beitrag zur Implementierung von systemtheoretisch-konstruktivistisch orientiert verstandener Ethik zu skizzieren.
Kapitel eins ermittelt unter dem Titel "Die Frage der Ethik" die Kontextbedingungen unter denen "(…) eine Ethik gefragt [ist], die Differenzen würdigt und trotzdem (oder: gerade deswegen) Einheitsbildung ermöglicht." (S. 16). Damit ist das Vorhaben benannt, nach dem Ethik als Konstruktionstheorie auf Basis transklassischer Konzepte und Logiken neu zu beleuchten.
Das zweite Kapitel baut die theoretischen Positionen auf, aus denen dann im dritten Kapitel die 2nd-Order Theorie der Ethik hervorgebracht wird: Spencer Browns unterscheidungstheoretischer Zugang, Foersters Kybernetik 2. Ordnung, Günthers reflexionslogischer Zugang zum Bewusstsein sowie Luhmanns soziologische Systemtheorie bilden die wesentlichsten Ausgangspunkte. Im vierten Kapitel wird das Zueinander von Individuum und Gesellschaft vor dem Hintergrund der Tatsache betrachtet, dass das Interesse an einer gesellschaftlichen Perspektive auf Ethik dieses Verhältnis zu reflektieren hat. So können (individuelles) Bewusstsein und (gesellschaftliche) Kommunikation im "Interface" Anthropotechnik aufeinander bezogen werden.
Das fünfte Kapitel – aus Sicht des Rezensenten gemeinsam mit Kapitel sieben das Herzstück in Blumes Werk – behandelt die Perspektive der "Einheit von Theorie und Praxis der Ethik", in der sich für die Autorin auf Basis der von ihr gewählten Theoriezugänge folgerichtig eine dritte Position jenseits der Arendtschen Akzentuierung von vita activa und vita contemplativa auftut. Daraus konzipiert sie eine „Kunst der Lebensformen und Lebensgestaltungsprozesse zweiter Ordnung“ (S. 124). Damit kann „die konstruktiv gewordene Ethik … die Entwicklung anthropotechnischer Verfahren anleiten, die das Potenzial zur Vermittlung von 2nd-Order Kompetenz haben…“ (S.128) und zugleich implizit bleiben, denn: Ethik hat keinen Namen. Das Empowerment-Konzept wird an dieser Stelle systemisch gewendet und bildet so eine andere Seite der hier entwickelten Anthropotechnik als Ethik.
Kapitel sechs vergewissert sich der Grundlagen von Lernen und Entwicklung von 2nd-Order Kompetenz und der dazu nötigen reflexiven und selbstreflexiven Prozesse.
Das siebente Kapitel schließt die bis hierher zusammengesetzten Bezüge zu einem genuinen Ganzen im Kontext von „Ethik der Erziehung als Erziehung zur Ethik“ (so der Titel dieses Kapitels S. 181ff.) zusammen. Zentraler Ausgangspunkt ist Foersters Unterscheidung von trivialer und nicht-trivialer Maschine als Denkmodell und die Beobachtung nicht nur im Kontext institutionalisierter Erziehung. Trivialisierung steht durch ihre freiheitseinschränkende Wirkung der Übernahme individueller Verantwortung im Wege und befördert im Bildungssystem nach wie vor den Hauptmodus der Selektion. Empowerment erfordere jedoch, so Blume die „Umstellung von Selektion auf Integration“ (S. 193) um nur eine von zahlreichen Erkenntnissen zu denen die Autorin in diesem Kapitel verhilft, zu benennen.
Das letzte Kapitel fasst sprachlich souverän die wesentlichsten Einsichten, die die Forscherin auf ihrem komplexen Weg zugänglich gemacht hat, und wirft einen kritischen Blick auf das Empowerment-Konzept in diesem Kontext: "Empowerment vollendet die Abklärung der Aufklärung als Forderung nach 2nd Order Kompetenz für jeden Menschen … als conditio sine qua non der Stabilisierung und des Fortdauerns der globalen Gesellschaft." (S. 242)
Diskussion
Anliegen der Autorin ist es, Ethik als universelle Konstruktionstheorie, "… als exakt definierte Kommunikationsform zweiter Ordnung…" (S. 16) zu betrachten: "Es ist eine Ethik gefragt, die Differenzen würdigt und trotzdem (oder: gerade deswegen) Einheitsbildung ermöglicht." (ebd.).
Es gelingt Ramita Blume mit Leichtigkeit, ihre systemtheoretisch-konstruktivistisch orientierte Ethik in bestehende erziehungswissenschaftliche Diskurse einzuweben und das zeichnet gelingende Kommunikation aus: Anschlussfähigkeit zu ermöglichen und diese dadurch zugleich herzustellen.
Besonders in Kapitel sieben zeigt sich zudem Blumes bildungstheoretische Kompetenz, die sich dadurch auszeichnet, dass wesentliche pädagogische Diskurse – vornehmlich als Verweise in den Fußnoten – gekonnt eingewoben werden: Die insgesamt 671 (!) Fußnoten mit zum Teil längeren Passagen eröffnen einen weiteren Blick in die vielen hier eingespeisten Diskurse - etwas, das in vielleicht vergleichbaren Publikationen im Haupttext stehen würde. Damit wird im vorliegenden Buch die Foerstersche Konstruktionslogik ethischen Beobachtens gewissermaßen als "Meta-Subtext" angewendet. Aus erziehungs- und bildungswissenschaftlicher Sicht beginnt sich hier eine Lücke zu schließen, die von einem klassischen Ethik-Verständnis auf eine systemtheoretische Sichtweise umstellt und dies – im Gegensatz zu vielen sich als vermeintlich „systemisch“ behaupteten Publikationen – plausibel und konsistent zu argumentieren vermag.
Vor allem an jenen Stellen, an denen die Autorin unterscheidungstheoretisch argumentiert, wählt sie eine Form, die sich wohltuend von vielen anderen Spencer Brown Rezeptionen unterscheidet.
Blume schließt gekonnt, konsequent und äußerst klug ihren Entwurf der Ethik als Erziehung- Erziehung zur Ethik – auf: ein großer Wurf. Wer sich in diese Welt hineinwagt, in der dieses brillante Denkgebäude betreten werden kann, wird sich der Faszination dieses Denkens, das Ramita Blume in gekonnter Weise inspiriert, nur mehr schwerlich entziehen können. Zugleich ist darauf hinzuweisen, dass man sich die Lektüre dieses erlesenen Werkes auch für sich selbst erlesen muss.
Die verblüffende Konsequenz dieser hier im Stile eines sich selbst diskursiv erzeugenden Zirkels eingesetzten Methodik zeigt sich nicht zuletzt in der punktgenau eingesetzten Visualisierung mit einem hohen didaktischen Wert. Eine Meta-Landkarte mit dem unverfänglich erscheinenden Titel „Erziehung als Kommunikationssystem“ (Abb. 24, S. 205) enthält die Darstellung des hochgradig anschlussfähigen Dreiecks von lernender Person, lehrender Person und deren Beziehung zueinander im Kontext der Lehr-Lernprozesse, die mit Hilfe des strukturierten Vorgehens im Buch je nach erforderlichem Kontext gleichsam "aufgeklappt" werden kann. Ähnliches gilt für die letzte Grafik des Buches (Abb. 25, S. 239), die mit dem von Ramita Blume Geschaffenen einen Blick in die Zukunft erschließt. Ästhetisch ansprechende Grafiken stellen insgesamt ein spezielles „Goodie“ in diesem Buch dar. Sie machen die komplexen Konstruktionen nachvollziehbar und erreichen dabei einen Grad der Verdichtung, der ihrer kritischen Befragung problemlos standhält
Aus Sicht erzieherischer Praxis – etwa der Schule – stellt sich ein wertvolles didaktisches Prinzip ein, das nach Spencer Brown den Re-entry der Unterscheidung auf ihrer bezeichneten Seite notwendig macht: Als Lehrer würde ich vielleicht als eine Konsequenz dieses Buches beginnen, mein Dilemma, dass ich einerseits zur Bildung und Entwicklung beitragen soll, jedoch andererseits durch Prüfung und Beurteilung zugleich über die zukünftigen Chancen und Möglichkeiten (Selektion) meiner SchülerInnen entscheide, angemessen aufzuzeigen: "Wie sollte ich eurer Meinung nach mit dieser Zwickmühle umgehen, wie könnten wir damit umgehen?" Metakommunikation als ein(zig)e Möglichkeit aus dem institutionalisierten Double-Bind für Momente auszusteigen ohne es aufzulösen.
Fazit
Wer sich eine tausendunderste Rezeptur für erzieherisches Handeln erwartet wird enttäuscht – und dies im besten Sinne des Wortes – vom vermeintlichen Einsehen, bisher einer Täuschung aufgesessen zu sein, nämlich, dass Ethik und Erziehung zwei seien. "Die Praxis der Erziehung ist eine Praxis der Ethik", so Thomas Bauer in seinem Vorwort.
Jedenfalls für theoretisch interessierte PädagogInnen aller Sparten (Schule, Kinder- und Jugendarbeit, …), für PsychologInnen für Beratung und Therapie (also für jene, denen es nicht schwer fallen sollte, Erkenntnisse der hier vorliegenden Art auf die eigene Praxis zu übersetzen) – aber auch für an ethischen Fragen Interessierten und nicht zuletzt für jene, denen im Management die Kategorie Verantwortung ein Anliegen ist, kann die Lektüre dieses Grundlagenwerkes wärmstens empfohlen werden.
Rezension von
Dr. Norbert Schermann
MSc, Geschäftsführer der ATELIER Unternehmensberatung in Wien, Forschungsschwerpunkte: Organisationsethik, systemtheoretische Perspektiven auf Fragen im Kontext organisationaler Gerechtigkeiten
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Zitiervorschlag
Norbert Schermann. Rezension vom 21.10.2013 zu:
Ramita G. Blume: Ethik hat keinen Namen. Erziehung als Anthropotechnik bewusster Evolution von Individuum und Gesellschaft. Carl Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2012.
ISBN 978-3-89670-951-6.
Reihe: Systemtheorie, Gesellschaft, Pädagogik.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15669.php, Datum des Zugriffs 28.11.2023.
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