Joachim Wenzel: Wandel der Beratung durch Neue Medien
Rezensiert von Bernd Reiners, 15.01.2014
Joachim Wenzel: Wandel der Beratung durch Neue Medien. V&R unipress (Göttingen) 2013. 292 Seiten. ISBN 978-3-8471-0169-7. D: 44,99 EUR, A: 46,30 EUR, CH: 56,50 sFr.
Thema
Das Buch stellt eine qualitative Studie zu der Frage vor, wie die Neuen Medien die Beratung in verschiedenen institutionellen Kontexten verändern.
Autor
Dr. Joachim Wenzel, Dipl.-Päd., Lehrender in Systemischer Beratung, Therapie und Supervision (DGSF), forscht und veröffentlicht seit gut 10 Jahren zu den Themen Neue Medien und Datenschutz, praktische Erfahrung in der Telefonseelsorge Mainz-Wiesbaden (Ausbildung, Beratung am Telefon, vor Ort und online, konzeptionelle Mitentwicklung des Onlineportals), Trainer im ifs, Institut für Systemische Familientherapie, Supervision und Organisationsentwicklung in Essen, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Erziehungswissenschaft der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz
Entstehungshintergrund
Es handelt sich um die an der Johannes Gutenberg Universität in Mainz durchgeführte Doktorarbeit des Autors.
Aufbau
Das Buch umfasst sieben Kapitel.
- Einführung (Überblick),
- Institutionalisierte Beratung,
- Medienentwicklung und Beratungsmedien,
- Forschungsmethodik der Studie,
- Falldarstellungen und Strukturbeschreibungen,
- Ergebnisse der vergleichenden Interpretation,
- Diskussion und Ausblick.
Anhang mit Interviewleitfäden und standardisierten Fragebögen.
Inhalt
Die im Buch beschriebene Studie geht der Frage nach, wie sich institutionelle Beratung durch neue Medien verändert. Es geht nicht um eine Erforschung der Beratung durch neue Medien, sondern um die Gesamtheit der durch die neuen Medien ausgelösten Veränderungen. Zur Klärung dieser Frage wurden BeraterInnen aus fünf verschiedenen Institutionen (Sexualberatung/Paarberatung, Jugendberatung/Drogenberatung, Schuldnerberatung/Insolvenzberatung, Kinder-/Jugend-/Familienberatung, Erziehungs-/Ehe-/Lebensberatung) mit einem halbstrukturierten Interview befragt.
Nach einer Einführung in die Thematik folgt im zweiten Kapitel eine Darstellung der grundlegenden Fragen der institutionalisierten Beratung, also ihre Einbindung in Dach- und Fachverbände mit ihren Forderungen und Einflüssen auf die konkrete Beratung, rechtliche Grundlagen sowie Abgrenzung gegenüber anderen sozialen Angeboten wie Rechtsberatung, medizinischer Beratung oder Bildung. Im Bereich der Prävention oder der Schwangerschaftsberatung zeigen sich beispielhaft fließende Übergänge der Tätigkeitsfelder. Wenzel zeigt, wie differenziert die institutionalisierte Beratung in Deutschland ist. Er vermittelt einen Überblick, gegliedert nach Problemlagen (z. B. Aidsberatung), Zielgruppen (z. B. alternde Menschen) und Form (z. B. Gruppe, telefonisch) der Beratung. Er stellt dar, dass Onlineberatung derzeit noch als Sonderform dargestellt wird. Diese Zweiteilung in face to face und Onlineberatung, das stellt er im Buch immer wieder heraus, hält er für künstlich und wenig zielführend. Darüber hinaus betont er, dass es in der Beratung keine dem Hausarzt entsprechende Klärungsinstanz gibt, die mit den Klienten überlegt, welche Form der Beratung besonders hilfreich für sie sein könnte. Diese Clearing-Funktion übernehme vielfach die Telefonseelsorge. Beratungsansätze, Setting, Prozess und Beziehung werden überblicksartig dargestellt, um den weit gefassten Begriff der Beratung näher zu definieren.
Im dritten Kapitel werden zunächst Medien als Mittel zur Übermittlung von Information definiert und eine Medientypologie vorgeschlagen. Primärmedien sind Stimme, Gestik und Mimik, Sekundärmedien verlangen eine Technik beim Sender der Nachrichten, z. B. eines Bildes, Schrift oder auch ein akustischer Telegraf. Bei den Tertiärmedien benötigen Produzent und Empfänger die Technik, z. B. bei Telefon, Radio etc. Digitale Quartärmedien erlauben darüber hinaus vernetzte Verbreitung. Wie Wenzel in der sehr interessanten Darstellung der Mediengeschichte zeigt, gelang die Verbreitung eines Mediums nach seiner Erfindung immer schneller. Aktuell zeigt sich eine Tendenz zur Miniaturisierung und Konvergenz, d.h. die Geräte, die immer mehr Funktionen in sich vereinen werden dennoch immer kleiner. Ein Beispiel hierfür sind moderne Smartphones. Das Internet wird bis zur Jahrtausendwende überwiegend als Einwegkommunikationsmedium beschrieben. In diesem Jahrtausend ist es wesentlich interaktiver geworden, nicht zuletzt durch soziale Netzwerke. Begriffe wie Medienkompetenz, digitale Kluft, Medialisierung des Alltags werden ebenso erläutert wie Probleme der Online-Sucht und andere Veränderungen im Alltag der Beratungsklienten. Wenzel zeigt, wie Medien in die Face-to-Face-Beratung eingebaut werden, z. B. wenn Bilder gemalt werden. Er stellt ein Modell der medialen Beratung vor, das eine Typologie verschiedenster Beratungssettings liefert. Die „medienvernetzte Beratung“ (S. 77) wird als Normalfall dargestellt. Immer häufiger sei die Beratung vor Ort begleitet von medienvermittelter Beratung, insbesondere durch Telefon und E-Mail. Gerade zu dieser Verknüpfung fehle jedoch bislang weitgehend die Forschung und die Konzeptionalisierung.
Im vierten Kapitel wird die Forschungsmethodik des theoretischen Samplings mitsamt der untersuchten Institutionen und BeraterInnen erläutert.
Kapitel fünf stellt die Beratungsstellen und die BeraterInnen vor. Hier sind interessante Anekdoten aus verschiedenen beraterischen Zusammenhängen gesammelt.
In Kapitel sechs werden die Ergebnisse dargestellt. Es wird beschrieben, wie die Einführung der neuen Medien (Internet, Homepage etc.) in den Beratungsstellen vonstatten geht. Dabei zeigen sich insbesondere zu Beginn Ängste, z. B. die Arbeit zu verlieren bzw. den neuen Anforderungen nicht gewachsen zu sein, jedoch gleichzeitig auch Faszination. Es wird gezeigt, wie sich die BeraterInnen intern vernetzen, wie sie im Internet nach Informationen suchen. Die neuen Medien werden dabei additiv verwendet und ersetzen keineswegs herkömmliche Kommunikation sondern ergänzen sie lediglich. Wenzel beschreibt, wie die Vielfalt der Zugänge die Niedrigschwelligkeit erhöht, dass also nicht allein die Möglichkeit, sich online Beratung einzuholen als Niedrigschwelligkeit beschrieben werden kann, sondern lediglich die Kombination verschiedener Zugänge. Er beschreibt weiter, dass zwar das Nichterscheinen der Klienten im Face-to-Face-Kontakt thematisiert wird, das mögliche Nichtlesen einer Mailantwort jedoch nicht. Die veränderte Lebenswelt der KlientInnen durch die neuen Medien wird thematisiert. Nicht zuletzt werden Rollenspielsucht und alltägliche Verwendung der Medien im Alltag der KleintInnen beschrieben, deren Kenntnis für die Beratungsarbeit wesentlich sein kann. So können z. B. Homepages der Klienten angeschaut werden oder das Spiel, das ihnen die größte Freude bereitet etc. Weitere Themen des medialen Alltags sind Eifersucht auf Online-Kontakte, vermehrte Kontrollmöglichkeiten durch Speicherung von Kontakten im Computer oder Handy etc. Nicht zuletzt werden die Möglichkeiten thematisiert, dass KlientInnen durch das Internet häufig eine größere Informiertheit mitbringen als dies früher der Fall war. Es wird gezeigt, dass Onlineberatung überwiegend schriftbasiert gedacht und durchgeführt wird. Die Folgen davon werden thematisiert. Es scheint, dass die Überprüfbarkeit der schriftlichen Aussagen die BeraterInnen unter besonderen Stress setzt, eine gute und richtige Aussage zu machen. Die Schriftlichkeit bewirke so eine verstärkte Fokussierung auf Inhalte und Faktenwissen im Vergleich zur Face-to-Face-Beratung. Wenzel zeigt, dass Erstanfragen über die neuen Medien häufig schneller und klarer Erwartungen zutage bringen und einen Klärungsbedarf mit sich bringen. Nicht zuletzt dieser führt zu der Notwendigkeit einer neuen Rollenbeschreibung der BeraterIn. Wird auch Onlineberatung angeboten, sind andere Bedarfe gefragt und die BeraterInnen benötigen Fähigkeiten der Krisenintervention und passageren Alltagsberatung.
Das siebte Kapitel schließlich zeigt Eckpunkte einer Beratungstheorie auf, die nicht zwischen medial und nicht-medial unterscheidet, ein zentrales Anliegen des Autors. Wenzel stellt dar, dass es eine Verengung medialer Beratung auf Mail- und Chatberatung gibt, die neue Möglichkeiten ungenutzt lässt. Er zeigt die Notwendigkeit gesonderter Onlineberatungsangebote bei gleichzeitiger Notwendigkeit nach Integration medialer Angebote in die herkömmliche Beratung. Hier gibt es Widersprüche zwischen Kundenwünschen und organisationalen Gegebenheiten. Die Medienintegration in die Beratung sollte dabei nicht ausschließlich unter technischen Gesichtspunkten untersucht werden, sondern insbesondere in ihrer jeweiligen Beteiligung bei der menschlichen Kommunikation. Wenzel schlägt die Unterscheidung in drei Medientypen vor: Körpermedien (Stimme, Mimik etc.), Objektmedien (Übertragung der Kommunikation über ein Objekt wie z. B. Brief etc.) und elektronische Medien. Tabellen liefern hier einen hervorragenden Überblick. Wenzel diskutiert abschließend die Reichweite seiner Studie und gibt einen Ausblick über zukünftige mögliche Entwicklungen.
Diskussion
Das Buch ist die Darstellung einer wissenschaftlichen, qualitativen Studie. Die Arbeit bietet insgesamt einen guten Überblick auf einem hohen wissenschaftlichen und fachlichen Niveau über das Thema der veränderten Beratungslandschaft durch neue Medien. Die Darstellung der strukturellen Eingebundenheit in Dachverbände und rechtliche Zusammenhänge jeder Form der Beratung ist auch für Praktiker hilfreich. Für mich persönlich war das Kapitel zur Medienentwicklung der größte Gewinn. Die Beschreibung der Technik-Einführung in die Beratungsstellen fängt einen Zeitgeist so treffend ein, wie es selten gefunden wird. Tipps für die Beratungspraxis finden sich in vielen Äußerungen der Interviewpartner und verstreut an anderen Stellen. Ein zusammenfassender Überblick dieser Anregungen wäre für Praktiker vielleicht wünschenswert gewesen. Doch dies ist nicht das Hauptanliegen des Buches.
Fazit
Das Besondere des Buches ist sein Thema: Es geht nicht um die Beratung durch neue Medien, sondern um die Veränderung jeder Form der Beratung durch neue Medien. Dieses Thema wird sonst in der Literatur kaum beachtet. Somit füllt das Buch eine wesentliche Lücke. Es will den Diskurs über die Integration medialer Beratung in die herkömmliche Beratung vorantreiben. Diese Integration ist ein überfälliger Schritt, auf den Wenzel aufmerksam macht. Dabei ist besonders verdienstvoll, Grundzüge einer Beratungstheorie aufzuzeigen, die nicht mehr künstlich zwischen medial und nicht-medial trennt. In diesem Sinne sind der Studie nicht nur viele Leser zu wünschen, sondern auch weitere Forschung und Theoriebildung.
Rezension von
Bernd Reiners
Bernd Reiners, Diplom-Psychologe, Paar- und Familientherapeut, Supervisor und Coach, arbeitet in einer Erziehungsberatungsstelle und in der Lehre mit der Kinderorientierten Familientherapie.
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Es gibt 1 Rezension von Bernd Reiners.
Zitiervorschlag
Bernd Reiners. Rezension vom 15.01.2014 zu:
Joachim Wenzel: Wandel der Beratung durch Neue Medien. V&R unipress
(Göttingen) 2013.
ISBN 978-3-8471-0169-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15676.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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