Björn Kraus: Erkennen und Entscheiden
Rezensiert von Prof. Dr. Helmut Lambers, 21.01.2014
Björn Kraus: Erkennen und Entscheiden. Grundlagen und Konsequenzen eines erkenntnistheoretischen Konstruktivismus für die soziale Arbeit. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2013. 196 Seiten. ISBN 978-3-7799-2854-6. 21,95 EUR.
Thema
Das Buch will zweierlei Zweck erfüllen: Erstens soll es Studierenden, Lehrenden und Fachkräften eine Einführung in die Grundlagen eines erkenntnistheoretischen Konstruktivismus geben und zweitens die aus diesem Ansatz herzuleitenden interaktionstheoretischen Konsequenzen aufzeigen. Mit einem erkenntnistheoretischen Konstruktivismus wird zudem eine gegenüber dem radikalen Konstruktivismus binnenkritische Position eingenommen. Sie soll Konstruktivismus zu einer gewissen Bodenhaftung verhelfen, ihn vor „subjektivistischen Überziehungen“ (13) – sozusagen vor sich selbst – schützen. Konstruktivismus „unter den Bedingungen der Realität“ (ebd.), wenn man so will.
Autor
Björn Kraus (Dr. phil., Dipl. Sozialpädagoge und M.A.) ist Professor für Wissenschaft Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Freiburg mit den Arbeitsschwerpunkten erkenntnistheoretische Fundierung systemischer Methodik und professionelle Handlungskompetenz. Kraus hat mehrere Zusatzausbildungen (Systemischer Therapeut und Berater/SG, Systemischer Supervisor/SG und Supervisor/DGSv) sowie ein Zusatzstudium (Management und Didaktik von Bildungsprozessen/M.A.) abgeschlossen.
Entstehungshintergrund
Kraus entwickelt in seinem Buch seine in den Jahren 2000 und 2002 vorgestellten kommunikationstheoretischen Positionen und theoretischen Konzepte zu den Begriffen Macht, Hilfe und Kontrolle im Kontext Sozialer Arbeit weiter. Ausgebaut werden zudem Überlegungen zur Lebenswelt, zur Ethik und zu methodischen Konsequenzen eines erkenntnistheoretischen Konstruktivismus.
Aufbau
Das Buch umfasst fünf Kapitel.
Zu Kapitel 1: Einleitung
Kraus stellt fest, dass Konstruktivismus in der Sozialen Arbeit einerseits angekommen ist, anderseits aber im Fachdiskurs noch nicht so eindeutig positioniert ist, hier vielmehr – Micha Brumlik zitierend – zwischen den Polen von „Heilslehre“ und „szientistischem Unsinn“ rezipiert wird. Für die Soziale Arbeit konstatiert Kraus dreierlei: eine durch den Konstruktivismus teilweise verunsicherte Disziplin (z.B. Zieldiffusion, Technologiedefizit), einen für die Fachkräfte eher geringen Gewinn (Einsicht in eigene Grenzen) und eine für die Adressaten Sozialer Arbeit feststellbare Aufwertung der Person. Die insgesamt eher negative Bilanz sei hingegen einerseits auf Verkürzungen dessen zurückzuführen, was Konstruktivismus ist und andererseits aber auch auf die Gefahr – insbesondere beim radikalen Konstruktivismus – missverstanden zu werden, nämlich als solipsistisch (d.h.: das ganze Sein als in sich bzw. in den subjektiven Bewusstseinsinhalten erschöpfend, zu verstehen). Genau hier setzt Kraus an. Er wendet sich gegen „subjektivistische Überziehungen konstruktivistischer Grundannahmen“ (13) und will Möglichkeiten und Grenzen aufzeigen, die aus einer erkenntnistheoretisch konstruktivistisch angelegten Reflexion resultieren, wenn sie sich auf die „für die Soziale Arbeit zentralen Fragen des Erkennens, Kommunizierens, Entscheidens und Intervenierens“ bezieht (13).
Zu Kapitel 2: Erkenntnistheoretischer Konstruktivismus
Was in der Einleitung noch leicht daherkommt, wird im zweiten Kapitel weiter ausgeführt. Hier verlangt Kraus seinen Leserinnen und Lesern einiges an Vorwissen ab. Er geht schnell an den Kern der Sache: den Autopoiesebegriff. Kraus knüpft an ein neurowissenschaftliches Verständnis an (Gerhard Roth, Humberto Maturana): nur organische Systeme sind autopoietisch, da strukturdeterminiert und somit operational geschlossen. Kognitive und soziale Systeme (Kommunikation) hingegen sind nicht-autopoietische, gleichwohl selbstreferenzielle Systeme (52).
Kraus setzt sich in diesem Kapitel mit Konstruktivismuskritik auseinander (Kausaltheorie, Wirklichkeit und Realität, Subjektabhängigkeit von Erkenntnis, Selbstwidersprüchlichkeit). Sein Fazit: Die Strukturentwicklung lebender Systeme unterliegt einer „Doppelbindung“ (66) aus zwar subjektiver, aber eben nicht beliebiger Konstruktion, da diese wiederum durch Einflussbedingungen der Realität begrenzt ist. Realität ist freilich auch hier konstruierte, aber eben die zurzeit gültige Realitätskonstruktion. Diese verdankt sich Kommunikation. Folglich widmet Kraus diesem Thema ein nächstes Kapitel.
Zu Kapitel 3: Theorie der Kommunikation
Realitätskonstrukte werden als Folge selbstreferenzieller, aber eben nicht autopoietischer Vorgänge verstanden. Diese These zwingt Kraus zur Auseinandersetzung mit Kommunikationstheorie, u.a. auch luhmannscher. Die in Kapitel 2 herausgearbeitete Revision des Autopoiesebegriffs verlangt nun, Luhmanns Kommunikationsmodell in Teilen zu widerlegen. Kraus versucht – Luhmann kontrastierend – die konstitutive Relevanz von Organismus für Kognition und insbesondere von Kognition für Kommunikation herauszuarbeiten. „Kommunikation benötigt Kognition und diese wiederum benötigt einen Organismus“ (84) und weiter: „Somit schaffen und erhalten Kommunikanten, deren Organismus autopoietisch und deren Kognition selbstreferenziell operiert, die Möglichkeiten von Kommunikation“ (85). Welche Ableitungen aus dem Konstitutionszusammenhang zu beziehen sind, wird dem Leser in der Auseinandersetzung mit weiteren konstruktivistischen Kommunikationstheorien (S.J. Schmidt, Gebhard Rusch) vor Augen geführt.
Kraus Beschäftigung mit konstruktivistischer Kommunikationstheorie (Niklas Luhmann, S.J. Schmidt, Gebhard Rusch) läuft auf eine „Redefinition von Kommunikation“ (111) hinaus. Für Kraus besteht Kommunikation aus dem wechselseitigen Bemühen um Verstehen (112). Kraus geht es weniger um die Frage, wie Kommunikation zustande kommt (Verstehen als selbstreferenzieller Vorgang), sondern um das, was von Luhmann nicht weiter untersucht, sondern lediglich als Anschlusskommunikation bezeichnet wird, konkreter: Es geht um die Frage, was ist erfolgreiche Kommunikation? (soziales Verstehen im Sinne von „richtig“ und „falsch“). Das Konzept von Gebhard Rusch (Kommunikation als „Orientierungsinteraktion“) (97) weiterführend, definiert Kraus Kommunikation als „das wechselseitige Bemühen um Verstehen“ (112). Der Gedanke, Kommunikation als wechselseitiges, intentionales Geschehen zu fassen, führt unweigerlich zu der Frage, wie Kommunikation als Vorgang wechselseitiger Einwirkungsversuche zu fassen ist. Thematisch wird nun das Feld des Erkennens in Richtung Entscheiden aufgespannt. Damit ist zentral auch die Frage der Machtthematik angesprochen.
Zu Kapitel 4: Interaktion und Einwirkung
Hier geht es Kraus um eine konstruktivistische Redefinition des Machtbegriffes. Seine Überlegungen dazu stellt er in seinen Publikationen seit 2000 an. Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind auf Gregory Bateson zurückreichende Positionen, die Macht in die Grenzen der autonomen Konstruktivität des Subjekts verweisen. Mit der Unterscheidung „instruktive Macht/destruktive Macht“ versucht Kraus dann die Möglichkeiten der Machtausübung aus der Wirkperspektive zu beschreiben. Instruktive Macht gesteht die Möglichkeit der Verweigerung durch den Adressaten zu, setzt zu ihrer Durchsetzung gar dessen Kooperationsbereitschaft voraus. Destruktive Macht hingegen schließt dies aus bzw. setzt nicht auf derartige Erwartungen. Wie Kraus selbst feststellt, weisen seine machttheoretischen Überlegungen Analogien zu Staub-Bernasconis Differenzierung in Behinderungs- und Begrenzungsmacht auf (138). In gewissen Grenzen, so Kraus, lasse sich hier eine „Verschränkung von Wirk- und Wertperspektive“ (136) auch aus konstruktivistischer Perspektive herstellen. Fernab derartiger normativer Versuche der Begründung von Machttheorie versucht Kraus dann aber konsequent die Frage nach legitimierter Machtausübung im Sinne eines „erkenntnistheoretischen Konstruktivismus“ (162) zu entfalten.
Zu Kapitel 5: Fundierung und Legitimation der Unterstützungs- und Eingriffspraxis
Kraus zeigt auf, dass Ethik und Moral trefflich konstruktivistischer Reflexion unterstellt werden können, gleichwohl kann epistemologisch keine spezifische Moral begründet werden. Wie man dennoch zu einer „konstruktivistischen Verantwortungsethik“ (168) kommen kann, angesichts notwendiger Legitimationsbedarfe in der Praxis sozialer Arbeit auch kommen muss, wird in diesem abschließenden Kapitel erörtert. Dazu untersucht Kraus zunächst die Begriffe Lebenswelt und Lebenslage. Die ersten Ausführungen gelten einer Kritik am Begriff der Lebenswelt bzw. seiner sinnentstellten Verwendung, auch gerade in Abgrenzung zum Begriff der Lebenslage durch diverse Sekundärliteratur. Nachdem an die phänomenologischen Wurzeln des Lebensweltkonzeptes erinnert und der Lebenslagenbegriff als sozialwissenschaftlicher hierzu abgegrenzt wird, geht es Kraus um eine konstruktivistische Reformulierung der beiden Begriffe. Lebenswelt ist demnach subjektive Sicht von Lebenslage. Sich an diesem subjektiven Konstrukt zu orientieren sei Aufgabe Sozialer Arbeit. Damit ist eine zwar notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für professionelles Handeln beschrieben, denn: Soziale Arbeit lässt sich nicht auf die Rekonstruktion lebensweltlicher Zusammenhänge beschränken. Vielmehr ist sie zur Überwindung lebensweltlicher Problemstellungen auf kritisches Gestaltungs- und Veränderungshandeln angewiesen. Dieser Schritt bedarf der Entscheidung auf der Grundlage von Erkennen – und damit auch normativer Orientierung – zumindest wenn es um den kritischen Impetus Sozialer Arbeit gehen soll. Soziale Arbeit im Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle also; womit - so möchte man meinen – die Möglichkeiten konstruktivistisch begründeter Sozialer Arbeit erreicht sind. Anders bei Kraus: Nun geraten die ethischen Konsequenzen eines erkenntnistheoretischen Konstruktivismus in den Blick. Es wird aufgezeigt, dass von diesem zwar keine normativen Vorgaben zu erwarten sind, aber selbiger auch nicht in die Entscheidungsunfähigkeit führt.
Diskussion
Niklas Luhmann kritisierte seinerzeit die Entwicklung konstruktivistischer Konzepte als eine Entwicklung, die mehr epidemisch als epistemisch verlief. Das kann man von diesem Buch nicht behaupten. Es nimmt sich zentraler Fragen konstruktivistischer Theoriebildung an, die nicht nur bei Gegnern dieser Positionen seit langem Unbehagen hervorrufen.
Fragt man nach den zentralen Leitbegriffen hinter denen sich die Theoriebildung der Fachwissenschaft Soziale Arbeit seit langem aufstellt, so sind es solche – um nur die gängigsten zu nennen - wie: Alltag, Lebenswelt, Lebenslage, Lebensbewältigung, Emanzipation, Verstehen durch Verständigung, Empowerment, Subjektentwicklung, soziale Teilhabe, soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte. Dass auch aus professions- und professionalisierungstheoretischer Sicht hierfür zwei wesentliche Voraussetzungen in den Blick zu nehmen sind, leuchtet ein: Erkennen und Entscheiden. Umso verdienstvoller scheint es mir zu sein, dass Kraus sich dieser nicht nur für die Soziale Arbeit hochkomplexen Thematik annimmt. Ebenso verdienstvoll ist der Versuch, dass er sich mit einem in der Sozialen Arbeit bisher zu wenig oder zu einseitig beleuchteten Thema auseinandersetzt: Macht.
Die Möglichkeit des Erkennens ist in der Theoriebildung Sozialer Arbeit ein insgesamt wenig reflektierter Sachverhalt, so, wie Entscheiden ein im Kontext Sozialer Arbeit wenig beleuchteter Modus von Kommunikation ist. In der soziologischen Theorie sozialer Systeme freilich stehen die Möglichkeiten von Erkennen als selbstreferenziell gebundenes Geschehen in sämtlichen Haupt- und Nebengängen ihres Theoriegebäudes. Die Reflexion des Sachverhaltes Entscheiden wiederum steht mit dem Begriff des Entscheidungshandelns an zentraler Stelle in der darin entworfenen Organisationstheorie. Kraus setzt aber nicht soziologisch und erst recht nicht organisationstheoretisch an, vielmehr führt er seine seit den Jahren 2000/2002 publizierten Analysen konsequent im Sinne eines erkenntnistheoretischen Konstruktivismus fort. Und hier geht es nicht allein um das System, vielmehr um das Subjekt im System. So dürfte sich Kraus Buch für all diejenigen als wohltuend erweisen, die dem radikalen Konstruktivismus vorhalten, dass er dem konstruierenden Subjekt eher zu viel und dem erkennenden zu wenig zutraut.
Der Autor ist an kritischen Rückmeldungen interessiert. An dieser Stelle daher einige Gedanken dazu, deutlich mit dem Hinweis versehen, dass sie aus der Sicht soziologischer Theorie sozialer Systeme formuliert werden; eine andere Sicht zwar, aber eine, die meines Erachtens der Sache eines erkenntnistheoretischen Konstruktivismus nicht abträglich erscheinen muss.
Björn Kraus kommt aus der Denkrichtung des radikalen, nicht des operativen Konstruktivismus. Entsprechende Schwierigkeiten dürften Leserinnen und Leser mit dem Buch bekommen, die Konstruktivismus aus der Perspektive soziologischer Systemtheorie denken. Als Beispiele dazu einige Hinweise zu Ausführungen, die Kraus im Kontext konstruktivistischer Begrifflichkeiten wie Selbstreferenz und Autopoiese (a), Kognition (b), Macht (c) und Emergenz (d) unternimmt.
(a) Aus der Perspektive soziologischer Systemtheorie ist es nicht plausibel, Selbstreferenz und Autopoiese als voneinander getrennt anzusehen. Ein Vorgang, der selbstreferenzielle Verhältnisse wiedergibt, ist Autopoiesis: die Selbsterzeugung von Strukturen und Elementen einer Einheit durch die Elemente, aus denen die Einheit besteht. Autopoietische Systeme operieren selbstreferenziell, verarbeiten systeminterne Operationen, mit deren Hilfe sie eine System/Umwelt-Grenze bilden. Bei psychischen und sozialen Systemen geschieht dies im Medium ‚Sinn’. Systemeigener Sinn ist das Steuerungsmedium, das die Selektion aller sozialen Kommunikationsformen und psychischen Vorstellungsformen erlaubt. Sinn konstituiert die Grenze zwischen System und Umwelt. Soziale und psychische Systeme beziehen sich fortlaufend auf ihre eigenen Sinnkriterien. Dieser selbstreferenzielle Vorgang ist deshalb selbsterzeugend, da der systemsteuernde Sinn nicht von außen generiert werden kann. Hierzu bedarf es Sinnbildung mittels Kommunikation, operativ geschlossen und kognitiv offen. Insofern ist es schwierig, der Argumentation von Kraus zu folgen, dass Kommunikation zwar als selbstreferenzieller, nicht aber als autopoietischer Vorgang zu erklären sei.
(b) In der Lesart soziologischer Systemtheorie kommt Kognition als System nicht in Betracht. Kognition bezeichnet hier die Fähigkeit autopoietischer Sinnsysteme, an erinnerte Operationen neue anzuschließen. Kognition ist demnach selbstreferenzielle Fähigkeit von Bewusstsein. Man kann dann aus der Perspektive soziologischer Systemtheorie fragen, weshalb überhaupt untersucht werden muss, ob es sich bei Kognition um ein autopoietisches System handelt, wenn Kognition lediglich konstitutiv für die Autopoiese von Bewusstsein ist, nicht aber selbiges zu ersetzen vermag und zwar deshalb nicht, da Kognition für sich kein sinnprozessierendes System ausbilden kann. Bewusstsein hingegen ist der Operationsmodus von Kognition verarbeitenden und damit sinnkonstituierenden Prozessen.
(c) Man fragt sich, was mit der Differenzierung des Machtbegriffes (instruktiv/destruktiv) gewonnen ist, da doch die bei Kraus so genannte „instruktive Macht“ – jedenfalls systemtheoretisch gesehen – im Zweifelsfall zu ihrer Durchsetzung auf die Möglichkeit einer so genannten „destruktiven Macht“ angewiesen ist, sonst wäre es keine Macht (siehe z.B. Maßregelvollzug, geschlossener Strafvollzug, Sicherheitsverwahrung, geschlossene Psychiatrie, Menschenrechte). Schließlich: Lässt sich eigentlich die Differenz von Instruktion und Destruktion werturteilsfrei markieren, oder ist ihre jeweilige Identifizierung als instruktiv oder destruktiv letztlich nicht an Kriterien und Werte gebunden und damit die Möglichkeit einer universalisierbaren, erkenntnistheoretisch gesicherten Beobachtung nicht eher unwahrscheinlich? Macht wird erst im Kontext sozialer Systembildungen (Interaktionssysteme, Organisationssysteme, gesellschaftliche Funktionssysteme) für Beobachtung zugänglich (vgl. z.B. Luhmanns Machttheorie).
(d) Kraus setzt auf den Konstitutionszusammenhang von Organismus-Kognition-Kommunikation. Er beschreibt den Zusammenhang kurzum als einen voneinander abhängigen, aufeinander aufbauenden, sogar „emergieren(den)“ Prozess (84), der so gesehen die Autopoiesis von Kognition und Kommunikation nicht mehr möglich erscheinen lässt. Geht man von dieser Sichtweise von Emergenz aus, müsste man allerdings zu der Schlussfolgerung kommen, dass es nicht die komplexen Systeme sind, die emergente Eigenschaften besitzen, sondern sich Emergenz in dem Konstitutionszusammenhang von Organismus-Kognition-Kommunikation bereits erschöpft. Diese These zu diskutieren, statt als gegebenen Sachverhalt vorauszusetzen, wäre aber schon notwendig gewesen.
Die paar kritischen Hinweise sprechen absolut nicht gegen das Buch. Sie sollen vielmehr hindeuten auf andere, vielleicht auch den Erkenntnisgewinn zuträgliche Fragestellungen, die entstehen, wenn man die Was-Fragen eines modifizierten, radikalen (erkenntnistheoretischen) Konstruktivismus mit den Wie-Fragen eines operativen Konstruktivismus konfrontiert. Dass man diese nicht generell außen vor lassen kann, scheint bei der Lektüre des Buches aber auch deutlich zu werden.
Fazit
Insgesamt ein spannendes Buch für alle, die sich differenziert und kritisch mit Konstruktivismus im Kontext Sozialer Arbeit auseinandersetzen wollen. Kraus Buch ist, mit Ausnahme von Kapitel 5, nicht leicht zu lesen. Es ist kein Buch für das Selbststudium, zumindest nicht für Einsteiger. Daher ist es für diese Zielgruppe nur mit begleitenden, vertiefenden Seminaren zur systemtheoretisch-konstruktivistischen Reflexion Sozialer Arbeit gut zu empfehlen. Auch für den Fachdiskurs wird es ein Gewinn sein, nicht nur, weil es für soziologisch systemtheoretisch interessierte Leserinnen und Leser so manches Fragezeichen aufstellt.
Rezension von
Prof. Dr. Helmut Lambers
Dipl.Sozialpädagoge und Dipl.Pädagoge
Katholische Hochschule NRW, Abt. Münster
Lehrgebiet: Fachwissenschaft Soziale Arbeit
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Es gibt 4 Rezensionen von Helmut Lambers.
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Zitiervorschlag
Helmut Lambers. Rezension vom 21.01.2014 zu:
Björn Kraus: Erkennen und Entscheiden. Grundlagen und Konsequenzen eines erkenntnistheoretischen Konstruktivismus für die soziale Arbeit. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2013.
ISBN 978-3-7799-2854-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15693.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.
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