Alexandra Bauer: Identifikative Integration (Zugehörigkeitsgefühl bei Migranten)
Rezensiert von Prof. Dr. Hartmut M. Griese, 29.07.2014
Alexandra Bauer: Identifikative Integration. Über das Zugehörigkeitsgefühl von Migranten und Migrantinnen zu ihrer Aufnahmegesellschaft.
ibidem-Verlag
(Hannover) 2013.
136 Seiten.
ISBN 978-3-8382-0382-9.
D: 24,90 EUR,
A: 25,60 EUR,
CH: 35,50 sFr.
Reihe: Kultur - Kommunikation - Kooperation - 14.
Thema
Es geht wieder mal um „Integration“, diesmal um „Identifikative Integration“, um einen „Teil des Integrationsprozesses“, um ein theoretisches Konstrukt von Hartmut Esser, womit der „Abschluss einer gelungenen (! H.G.) Integration“ gemeint ist (S. 7) – es geht also um einen normativen Ansatz in der Migrations- und Integrationsforschung. Im „Idealfall“ (!?) fühlt sich der Migrant oder die Migrantin „in die strukturellen, sozialen und kulturellen Lebensbereiche der Aufnahmegesellschaft integriert und beginnt, sich zugehörig zu fühlen“ (ebd. – Einleitung). Es geht damit auch um die Frage, wie „persönliche Identifikation und das eigene Zugehörigkeitsgefühl“ empirisch erfasst oder gar „gemessen“ werden können und u. a. darum, welchen Stellenwert und/ oder welche Relevanz objektive Faktoren, z.B. die Staatsangehörigkeit oder Sprachkenntnisse, für das (subjektiv-individuelle) Zugehörigkeitsgefühl haben. In anderen Worten und mit Blick auf die integrations-politische Debatte: In welchem Verhältnis stehen Integration und Staatsangehörigkeit/ Sprachkenntnisse zueinander?
Autorin
Alexandra Bauer, Jahrgang 1968, studierte Sozialpädagogik und schloss ihr Masterstudium „Interkulturelle Kommunikation und Kooperation“ an der Hochschule München ab. Sie arbeitet im Beratungsbereich und lebt in München (vgl. Klappentext).
Entstehungshintergrund
Das vorliegende Buch ist die Masterarbeit der Autorin.
Aufbau
Nach einer Einleitung, in der die Themenstellung umrissen („Identifikative Integration“ und „Zugehörigkeitsgefühl“) sowie die theoretische Orientierung („Sozialintegration“) nach Hartmut Esser; „Integrationsmodell“ von Friedrich Heckmann, „Kontakthypothese“ von Gordon Allport) und das methodische Vorgehen (leitfadengestützte „qualitative Befragung mit sechs Migranten und Migrantinnen“) skizziert werden, erfolgt das Theoriekapitel („Konzepte von Integration und Identifikation“), sodann „Forschungsfrage und Hypothesen“ und die „empirische Untersuchung“ (Kapitel 2-4).
Im 5. und 6. Kapitel werden die „Auswertung des Interviewmaterials“ (nach Philipp Mayring) und „Die Präsentation der Ergebnisse“ wiedergegeben, um zuletzt (Kapitel 7) zur „Interpretation der Ergebnisse“ und einer „Zusammenfassung“ (Kapitel 8) zu kommen – also ein klassisches Vorgehen für wissenschaftliche Abschlussarbeiten oder kleinere Studien.
Inhalt
Die Deskription und Diskussion der Theorieaspekte erfolgt relativ kritiklos. So entscheidet sich die Autorin für die „Definition von Integration“ gemäß Esser, „weil sie umfassend und für diese Untersuchung am besten geeignet ist“ (S. 11) – nähere Begründungen dafür, worin dieses „am besten“ besteht, erfolgen nicht. Inwieweit unterschiedliche Theoriefragmente (Allport, Esser, Heckmann, „Münchner Integrationsmodell“ sowie das „Nationalstaatskonzept“) viabel, d.h. passend und anschlussfähig sind, bleibt offen. Bauer interessiert nur die „Sozialintegration“, d.h. die „Integration der Akteure … in das System hinein“ (S. 12) – das ist zur Fokussierung des Themas legitim, jedoch sollten System- und Gesellschaftsaspekte immer mitgedacht und reflektiert werden. Wie komplex, und damit kompliziert, der gesamte Kontext „Integration“ ist, zeigt z.B. der „erste Integrationsindikatorenbericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration“, der insgesamt „100 Indikatoren in 14 gesellschaftlichen Bereichen“ gemessen hat (S. 18). Daraus wählt Bauer „drei Bereiche“ und „vier Indikatoren“ für ihre Studie bzw. zur „Messung der Identifikationsbereitschaft von Migranten und Migrantinnen“ aus (ebd.). Von den vier Aspekten der „Sozialintegration“ nach Hartmut Esser („Marginalität“, „Assimilation“, „Segmentation“ und „Mehrfachintegration“) interessiert sich Bauer für die „Mehrfachintegration“, die nach Essers Meinung ein „unrealistischer Zustand“ sei und – nicht wie „Assimilation“ – eine Form einer „gelungenen Sozialintegration“ (S.23f).
Bauer formuliert dann „drei Hypothesen“ mit dem Anspruch, sie an Hand von sechs Interviews überprüfen und daraus „allgemeingültige Indikatoren für die Messung von Identifikation“ ableiten zu können (S. 27). Dieser Auffassung von empirischer Forschung kann ich nicht folgen, zumal auch noch von „verifizieren und falsifizieren“ die Rede ist. Mittels sechs Interviews kann keine Hypothese überprüft oder gar verifiziert oder falsifiziert werden. Bei einer kleinen (N = 6) qualitativen Studie können/ sollen Hypothesen am Ende (!) der Untersuchung formuliert werden, um sie eventuell in einer späteren möglichst repräsentativen quantitativen Studie überprüfen zu können.
Die beiden „zentralen Begriffe ‚Identifikation‘ und ‚Zugehörigkeitsgefühl‘“ (S. 33) werden von Bauer „operationalisiert“ und in entsprechende Fragen und Aspekte des Leitfadens transformiert. Zwei Pretests führen zur Modifikation (z.B. wurde aus „zugehörig sein“ „dazugehören“) oder Streichung von Fragen. Die Auswahl der Probanden erfolgte mit Blick auf die „Migrantenmilieus“ der Sinus-Sociovision-Studie von 2007. Es wurden „drei möglichst unterschiedliche Milieus gewählt“, die sich im graphischen (Kartoffel-)Modell der acht Milieus nicht überschneiden: Das „traditionelle Gastarbeitermilieu“, das „Adaptive Integrationsmilieu“ und das „Intellektuell-kosmopolitische Milieu“ (S. 39). Allein vier von sechs Befragten kamen dann allerdings aus dem „adaptiven Integrationsmilieu“. Die gesamte Studie von Bauer kann daher m. E. selbst nur als Pretest bezeichnet werden – was für eine Masterarbeit aber durchaus sinnvoll sein kann. Bei der Tabelle zu den „soziodemographischen Merkmale der Befragten“ (S. 43) fehlen mir die für die „Integration“ oder „Identifikation“ von Einwanderern so relevanten Merkmale „Aufenthaltsdauer“ und „Einreisealter“. Da vier von sechs Probanden das Abitur haben und „die sehr unterschiedlichen Sprachkenntnisse der Interviewten (eine Besonderheit war)“ (S. 48), folgt daraus, dass die Auswahl der Probanden doch sehr einseitig ist, d.h. die Erkenntnisse sind nicht generalisierbar und Hypothesen kann man damit keinesfalls überprüfen (vgl. oben oder z.B. die gewagten Aussagen auf S. 99: „Die Hypothese wird durch die Analyse verifiziert“ oder „Diese Hypothese konnte teilweise verifiziert werden“ auf S. 103 oder „konnte die Hypothese verifiziert werden“ auf S. 105).
Als zusammenfassende Erkenntnisse aus den Interviews nennt Bauer vor allem „Offenheit und Interesse der Deutschen“, damit es zu „erfolgreichen Kontakten … auf Augenhöhe“ kommen kann, die wiederum „aus der Sicht der Befragten“ „das Gefühl von sozialer Anerkennung vermitteln“, was für die „Integration in die Gesellschaft“ „ausschlaggebend“ ist (S. 69).
Im Kapitel über „Identifikation mit Deutschland“ (S. 86ff) hätte die Autorin in jedem Fall bei der Interpretation auf das einseitige „Deutschlandbild“ der Probanden eingehen müssen, vor allem, wenn die Rede ist von „Ordnung und Sauberkeit … Zuverlässigkeit … Sicherheit“, was ja ehemals angestrebte „Erziehungsziele“ in den 50er und 60er Jahren waren.
Mittlerweile oftmals belegt sind Wünsche der Probanden an die „Deutschen“ bzw. an Deutschland, die in Richtung „mehr Menschlichkeit“, „Gefühle mehr nach außen hin zeigen“, „auf die Migranten und Migrantinnen zugehen“ oder weniger Vorurteile gehen (S. 94). Aber auf andere Studien geht die Autorin bei der Präsentation der Ergebnisse nicht ein.
Im 7. Kapitel „Interpretation der Ergebnisse“ wiederholt Bauer noch mal, dass nun „die drei Hypothesen … verifiziert oder falsifiziert“ werden sollen – was natürlich bei sechs Interviews Unsinn ist. Hier scheint es auch bei der Beratung der Masterarbeit Missverständnisse gegeben zu haben!? Ferner müsste hier auf die Spezifik der Probanden eigens eingegangen werden (Sozialdaten wie Alter, Bildung, Kinderzahl, Aufenthaltsdauer, Einreisealter, Geschlecht, Religion usw. – das, was gegenwärtig im „intersectionality approach“ (ein)gefordert wird.
Interessant für die Integrationsforschung und diskussionswürdig sind dann die Versuche Bauers (S. 101), die Meinung von Esser, „es gibt keine Identifikation in Teilbereiche“, zu entkräften. So haben wir in unserer Studie (Griese/ Schulte/ Sievers 2007) z.B. von „partieller oder sektoraler Integration“ gesprochen, was auf das Gleiche hinaus läuft.
Wichtig auch der Hinweis, dass „eine vollständige Zugehörigkeit zum Aufnahmeland möglich ist, auch wenn kulturelle Unterschiede bestehen“ (S. 103) – dies ist ebenfalls durch viele Äußerungen von Betroffenen belegt, die genau dies unter „Integration“ verstehen: „Dazu gehören“ und – nicht oder – seine „kulturelle Identität“ leben und bewahren zu können. Nebenbei bemerkt sei noch, dass die von Bauer erwähnte (erwünschte?) „hundertprozentige Zugehörigkeit zum Aufnahmeland“ bestenfalls ein Idealtypus, aber niemals Realität sein kann (vgl. hierzu die Stigmatheorie). Das „Zugehörigkeitsgefühl“ ist auch ein individuelles und vom jeweiligen Anspruchsniveau an Integration abhängiges Merkmal, das sich nicht vergleichend messen lässt. Hier gäbe es genügend Anlässe für Diskussionen.
In der „Zusammenfassung“ (S. 115ff) betont Bauer noch mal, dass ihre Studie sich auf die „subjektiven Erfahrungen“ (Wahrnehmungen) der Probanden „in Bezug auf ihre Identifikation und ihr Zugehörigkeitsgefühl“ beziehen, dass sich „zwei besondere Kontaktsituationen … herauskristallisiert haben: Spracherwerb und Kindererziehung“ und dass die „Verbundenheit mit Deutschland“ auf „Akzeptanz und Gleichbehandlung“ beruht – nicht neu, kann aber durchaus immer wieder betont werden – sowie dass „Einbürgerung“ nicht unbedingt mit Zugehörigkeit korreliert. Zur „identifikativen Integration“ gehören aber immer „soziale Anerkennung und gleichberechtigte Behandlung“ bzw. die „Akzeptanz kultureller Unterschiede“ (S. 117f).
Diskussion
Die Hinweise bzw. Erkenntnisse von Bauer, dass sich „zwei Befragte … als Ausländer betrachten (als solche typisiert werden, H.G.) – obwohl beide eingebürgert sind“ (S. 104) hätte mit Verweis auf andere Studien (exemplarisch Griese/ Schulte/ Sievers 2007) intensiver diskutiert werden müssen. Übrigens: „Gemeinsame Werte“, die Bauer für „identifikative Integration“ oftmals einfordert, sind in einer pluralistischen (!) und liberalen Gesellschaft nicht Voraussetzung für Anerkennung und Respekt – eher eine gemeinsame Berufung und Orientierung auf das Grundgesetz.
Der Begriff der „Mehrfachintegration“ (zusammenfassend z.B. auf S. 106) hätte mit Blick auf und Kritik an Esser und weitere Studien vertieft werden müssen, da er wahrscheinlich die Realität des Zugehörigkeitsgefühls, oder besser: des Zugehörigkeitwunsches vieler Einwanderer trifft: Objektiv und subjektiv „Dazu gehören“ (vgl. dazu Griese/ Schulte/ Sievers 2007) und in seinem (kulturell, religiös, ethnisch usw.) Anderssein anerkannt und respektiert zu werden. Hinzu kommt, dass „sich das Kriterium ‚Staatsbürgerschaft‘ in den Interviews nicht als ein ausreichender Indikator zur Messung der Identifikation erwiesen“ hat (S. 107) – auch ein nicht uninteressanter und diskussionswürdiger Aspekt. Diese tendenziellen (mehr ist das nicht) Erkenntnisse wären wunderbar geeignet zur abschließenden Hypothesenbildung und für weiter führende Fragestellungen.
Es hat an vielen Stellen der Arbeit den Anschein, dass Bauer zu sehr normativ denkt und so auch argumentiert oder dass sie immer von „beiden Kulturen“ spricht (z.B. am Ende S. 118), obwohl doch immer mehr Einwanderer sich nicht „zwischen den Kulturen“ stehend sehen, sondern ein „sowohl als auch“ oder darüber hinaus gehend eine „Drittkultur“ entwickeln oder sich einen „Dritten Stuhl“ basteln (vgl. Pollock/ Van Reken/ Pflüger: „Third Culture Kids“ und Tarek Badawia: „Der Dritte Stuhl“) – nach längerem Aufenthalt und in der Zweiten Generation.
Fazit
Abgesehen von dem m. E. Missverständnis, dass mittels weniger Interviews bzw. mit qualitativen Methoden keine Hypothesen verifiziert oder falsifiziert werden können und dass eine theoretische Orientierung an Esser im Grunde genommen quantitative Erhebungsinstrumente fordert, liegt eine respektable Masterarbeit vor, die jedoch wenig theoretische Querverweise (als Ergebnis basalen theoretischen Wissens), kaum weiter führende Diskussionen oder eine tiefer gehende Kritik an der dominanten Forschung in der Folge von Esser und deren (politische) Bedeutung für den Migrations- und Integrationsdiskurs hervor bringt. Wenn man die Studie als qualitativen Pretest nimmt und im Anschluss daran entsprechende Hypothesen und Forschungsfragen formuliert hätte, die aus den Ergebnissen im Vergleich zu vorliegenden Erkenntnissen ähnlicher Studien zum Thema hervorgehen, wäre m. E. eine vortreffliche Arbeit daraus geworden. Mit Blick auf Mayring schreibt Huber sogar: „So können mit Hilfe qualitativer Inhaltsanalyse Hypothesen und Theorien gebildet werden“ (S. 49) – warum hat sie sich nur nicht daran gehalten? Allerdings wird in der Studie deutlich, welche Relevanz vor allem das Verhalten „der Deutschen“, der Einheimischen (des „Systems“), der „Etablierten“ (Elias/ Scotson 1990) für das hat, was man „Integration“, „Zugehörigkeitsgefühl“ oder „Identifikation“ bzw. „identifikative Integration“ der „Einwanderer“, der „MigrantInnen“, der „Fremden“ oder der „Außenseiter“, nennen mag.
Literatur
- Badawia, Tarek (2002): Der Dritte Stuhl. Frankfurt
- Elias, Norbert und John L. Scotson (1990): Etablierte und Außenseiter. Frankfurt
- Griese, Hartmut M./ Schulte, Rainer/ Sievers, Isabel (2007): ‚Wir denken deutsch und fühlen türkisch‘. Sozio-kulturelle Kompetenzen von Studierenden mit Migrationshintergrund Türkei. Frankfurt
- Pollock, David E./ Van Reken, Ruth/ Pflüger, Georg (2003): Third Culture Kids. Aufwachsen in mehreren Kulturen. Marburg
Rezension von
Prof. Dr. Hartmut M. Griese
Leibniz Universität Hannover, Philosophische Fakultät, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie.
ISEF-Institut (Institut für sozial- und erziehungswissenschaftliche Fortbildung
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Es gibt 85 Rezensionen von Hartmut M. Griese.
Zitiervorschlag
Hartmut M. Griese. Rezension vom 29.07.2014 zu:
Alexandra Bauer: Identifikative Integration. Über das Zugehörigkeitsgefühl von Migranten und Migrantinnen zu ihrer Aufnahmegesellschaft. ibidem-Verlag
(Hannover) 2013.
ISBN 978-3-8382-0382-9.
Reihe: Kultur - Kommunikation - Kooperation - 14.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15705.php, Datum des Zugriffs 14.09.2024.
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