Gisela Hauss, Béatrice Ziegler u.a. (Hrsg.): Eingriffe ins Leben
Rezensiert von Dr. Aurelia Weikert, 31.10.2014

Gisela Hauss, Béatrice Ziegler, Karin Cagnazzo, Mischa Gallati (Hrsg.): Eingriffe ins Leben. Fürsorge und Eugenik in zwei Schweizer Städten (1920 - 1950). Chronos Verlag (Zürich) 2012. 190 Seiten. ISBN 978-3-03-401135-8. 31,00 EUR. CH: 38,00 sFr.
HerausgeberInnen
Das der Publikation zugrunde liegende Forschungsprojekt „Städtische Fürsorge im Netz der Eugenik“, in dem die Herausgeberinnen zusammen arbeiteten, bringt Blicke aus den Wissenschaftsbereichen Geschichte und Soziale Arbeit zur Thematik zusammen. Herausgeberinnen sind Gisela Hauss, Institut für Integration und Partizipation an der Fachhochschule für Soziale Arbeit, Nordwestschweiz; Béatrice Ziegler, Institut Forschung und Entwicklung, Pädagogische Hochschule, Nordwestschweiz; Karin Cagnazzo, Verfasserin einer Dissertation zu Thema Sterilisations und Abtreibungspraxis im Kanton Bern 19181953 am Historischen Seminar, Universität Zürich; Mischa Gallati, ISEK Institut für Populäre Kulturen, Universität Zürich.
Thema und Hintergrund
Anhand der beiden Schweizer Städte, Bern und St. Gallen, werden etwa 30 Jahre Sozialpolitik und Eugenik entlang der drei Themen Vormundschaft, Jugendfürsorge und Gutachtertätigkeit bei Unfruchtbarmachung aufgerollt. So wie die Darstellung der Themen die Verflechtung der Ebenen Kommunalpolitik und Wissenschaft darlegen, sind die beschriebenen Maßnahmen und Diskussionen im Fürsorgebereich selbst auch Ergebnisse von eugenischen, medizinischen, psychiatrischen, pädagogischen, religiösen sowie finanziellen Ideen und Überlegungen.
„Arm aber ordentlich“ (44): Der Ausspruch könnte das Schweizer Pendant zur österreichischen Satire „Der Herr Karl“, 1961 von Helmut Qualtinger und Carl Merz sein. Der opportunistische Mitläufer aus dem kleinbürgerlichen Milieu in Österreich beschreibt eine seiner Frauenbekanntschaften folgendermaßen: Sie war Brillenträgerin, aber sonst war sie reinlich. Durchaus ernst gemeint ist o.a. Satz aber in einem Protokoll in einem Vormundschaftsbericht in St. Gallen aus dem Jahr 1920. Die unterstellte Koppelung von Armut und Unmoral zieht sich durch die gesamte hier beschriebene (aber nicht nur Schweizer) Sozialpolitik.
Aufbau
Der vorliegende Sammelband gliedert sich in drei, regional begründete, Teile:
- Fürsorgewesen in den Städten St. Gallen und
- Bern, sowie
- Gutachtertätigkeit bei Unfruchtbarmachung im Kanton Bern.
Zu 1. Fürsorgewesen in St. Gallen
Fürsorge und Armenwesen in St. Gallen zeichnen sich durch eine Kooperation von städtischen und ehrenamtlichen Initiativen aus – so der Artikel „Städtisch Fürsorge in St. Gallen. Kooperation zwischen Amt und Ehrenamt“ von Gisela Hauss. Ausgangspunkt der städtischen Armenhilfe war die Armenkommission, die 1909 der Vormundschafts- und Armenverwaltung angegliedert wird. Nach dem Ausbau der Erkundungstätigkeit zur effizienteren Verwaltung der Gelder wird mithilfe des „Elberfelder Modells“ eine detaillierte Erfassung der Armen vollzogen sowie versucht, die Arbeitsfähigen zur selbständigen Beschaffung ihrer Lebensgrundlage zu bringen Ein weiterer Schritt der Rationalisierung wird mit dem „Strassburger Modell“ festgelegt, mit einer deutlichen Unterscheidung zwischen Amt und Ehrenamt (26), wobei die städtische Fürsorge jedoch auf ehrenamtliche Tätigkeit nicht verzichtet. Die etablierte Jugendschutzkommission ist bzgl. vormundschaftlicher Verfügungen auf die Vormundschaftsbehörden angewiesen. Belange der Jugendschutzkommission sind Erkundigungen einholen, Information der Strafbehörden und Anträge schreiben. Die Jugendschutzkommission kann durch Kontrolle, „Rat, Belehrung und Warnung“ (33) dem offiziellen Einschreiten der Behörden vorbeugen. Der Ausbau zu einem eigenständigen Jugendamt – wie beispielsweise in Bern – findet jedoch nicht statt. Die Zusammenarbeit von städtischer Fürsorge und ehrenamtlichen tätigen Vereinen gewährleistet ein engmaschiges Kontrollnetz für die Betroffenen, das von diesen aber wahrscheinlich schwer einzuschätzen und zu durchschauen ist.
Fürsorgerische Kontrolle von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen steht im nächsten Artikel „Die alltägliche Praxis der St. Galler Vormundschaft. Kinder, Jugendliche und Erwachsene unter fürsorglicher Kontrolle“ von Gisela Hauss im Zentrum. Die Autorin wertet 345 Fallakten aus den Jahren 1920, 1928, 1936 und 1944 aus, die nach Thematiken systematisiert werden. Bereits zu Beginn des 20. Jhdts. nimmt sich die bürgerliche Frauenbewegung des Kinderschutzes an. Mit dem 1912 in Kraft getretenen Schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB) werden einerseits die elterliche Gewalt auf Vater u n d Mutter übertragen, andererseits diese aber zugunsten staatlicher Aufsicht eingeschränkt. Recht auf Erziehung für die Eltern wird zur Pflicht derselben. Mangelnde Fähigkeit zur Erziehung – vor allem der Mütter – wird dabei oft als Ursache für Lebensverhältnisse in Armut herangezogen. So sind Vermerke, wie „arm, aber ordentlich“ (44), die Ausnahme, sie werden als Abweichung der erwarteten Norm gewertet; Armut wird v.a. moralisch gedeutet und in Zusammenhang mit unsittlichem Verhalten der Mutter oder sexuellem Missbrauch der Väter gegenüber ihren Töchtern gebracht. Diese Zuordnung von Gewalt und sexuellem Missbrauch, als Bild den unteren Bevölkerungsschichten zugeschrieben, bereitet die Grundlage für eugenische Argumentationen, nach der der Anstieg der Geburten in den sog. „verderblichen Milieus“ (46) als bevölkerungspolitische Bedrohung wahrgenommen wird. Die Verknüpfung von sog. schlechtem Milieu und sog. erblicher Belastung führt zu Kindeswegnahmen, mit dem Ziel, eine gesunde und glückliche Gesellschaft aufzubauen – so der Bericht aus dem Jahr 1929 (49) – und nicht das Wohlergehen der Kinder zu gewährleisten, wobei die Androhung der Kindeswegnahme auch als Disziplinierungsmittel eingesetzt wird. Die zuvor erwähnte elterliche Gewalt – wenn auch unter staatlicher Aufsicht – bezieht sich auf b e i d e Elternteile, d.h. ledige Mütter haben kaum Chancen ihr Kind zu behalten. Ähnlich geschlechtsspezifisch fallen Maßnahmen gegenüber Jugendlichen aus. Vor allem weibliche Sexualität wird als gefährdet und als gefährdend gesehen. Aber während weibliche Sexualität mit dem Blick auf Schwangerschaft und Fortpflanzung normiert wird, verlaufen die Normierungsdiskurse beim Mann auf seine erwartete Rolle als Familienerhalter. Wesentlich ist, dass im Laufe der Jahre psychiatrische Klassifikationen in der Fürsorge mehr und mehr an Bedeutung gewinnen. Dadurch geraten soziale Zusammenhänge in den Hintergrund und individuelle Diagnosen in den Vordergrund. Für Hauss zeichnet sich keine eindeutige und durchgängige eugenisch motivierte Fürsorgepolitik ab, die Maßnahmen hängen von den jeweiligen AkteurInnen ab, die sich hinsichtlich der Beurteilung der Fälle auch manchmal nicht einig waren.
Zu 2. Fürsorgewesen in Bern
Mischa Gallati beschreibt in seinem Artikel „Vormundschaft und Jugendfürsorge in der Stadt Bern – institutioneller Aufbau“ die Organisation der kommunalen Vormundschaft in Bern. Auch hier entwickelt sich diese im 19. Jhdt. aus der privaten Organisation einer zünftigen und bürgerlichen Gemeinschaft in Form der Vormundschaft über unverheiratete Mütter, kollidiert allerdings mit der zunehmenden Zahl unehelicher Geburten und der parallel dazu geringer werdenden Bereitschaft der Bürger und Bürgerinnen ehrenamtliche Vormundschaften zu übernehmen. Als Ergebnis des SZG 1912 beginnt der institutionelle Ausbau der kommunalen Sozialpolitik und ist 1920 abgeschlossen. Auch wenn sich zwischen 1913 und 1930 die Zahl der Beschäftigten vervierfachte, bleibt die zumeist von Frauen ehrenamtlich geleistete Arbeit ein bedeutender Teil (90). Auffallend ist die lange Wirkungsdauer der führenden Mitglieder der Vormundschaftskommission, sei es der Präsident Otto Steiger – bis weit in die 1950er Jahre – oder der Jurist Ferdinand Hunziker – bis 1949. Karrieren, die im restlichen Europa bedingt durch das Ende der Nationalsozialistischen Herrschaft beendet oder doch zumindest unterbrochen waren, währen in Bern bis zum Tod der Verantwortlichen oder mindestens bis zu deren Pensionierung. Erst 1933 wird die Juristin Martha Schlumpf als erste Frau in die Kommission berufen und bis 1964 bleibt kontinuierlich eine einzige Frau in der Vormundschaftskommission vertreten (93)! Das 1920 gegründete Jugendamt dient der organisatorischen Zusammenführung verschiedener Jugendfürsorgeeinrichtungen. Seit 1921 kümmern sich eine Fürsorgerin und ein Informator (ein ehemaliger Polizeioffizier) um die eingehenden Anzeigen wegen Kindesgefährdung. Im Unterschied zur Armenpflege setzt Bern in der Jugendfürsorge und Vormundschaft schon bald auf professionelle und fest angestellte Fürsorgerinnen. Wenn auch im Zentrum die Befürsorgung der unehelichen Kinder steht, wird 1915 eine zweite Amtsvormundschaft eingerichtet, die sich um eheliche Kinder kümmert. Das zwischen 1903 und 1961 existierende Armeninspektorat als weitere Abteilung der Fürsorgedirektion kann ebenfalls Amtsvormundschaften übernehmen. Der Armeninspektor kann neben Sammelvormundschaften auch Unterstützungsbeiträge für betroffene Familien oder Kinder beschließen. Gallati betont am Ende seines Artikels die Unterschiede im Vormundschaftssystem: einem professionalisierten System bei Kindern und Jugendlichen steht ein nach den Mustern des 19. Jhdts. funktionierendes System bei Erwachsenen mit großteils privaten Vormundschaften gegenüber – bis 1962 die Amtsvormundschaft für Erwachsene eingeführt wird.
In seinem zweiten Artikel beschreibt Mischa Gallati „Die Praxis der Berner Vormundschaftsbehörden“. Gallati beginnt mit dem Paradoxon jeglicher Fürsorgemaßnahmen: gerade durch partielle Ausschlüsse, Kontrolle, Disziplinierung und Normierung soll der komplette Ausschluss aus der Gesellschaft verhindert, bzw. der Weg für eine Reintegration geebnet werden (106)! Die beschriebenen Maßnahmen beziehen sich auf Bevormundungen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen (a); Einweisungen in Anstalten, wobei den Behörden ein ausdifferenziertes System von Anstalten und Heimen zur Verfügung steht (b); Eheverbote (c); und schließlich Sterilisation und Kastration (d), als radikalster Eingriff und zugleich auch im rechtlichen Graubereich angesiedelt.
Der Blick auf gesellschaftlichen Ausschluss interessiert v.a. hinsichtlich des Bemühens der Behörde eine Politik der Freiwilligkeit zu betreiben. (a) Sogenannte freiwillige Entmündigung bedeuten einfachere Verfahren; zwischen 1926 und 1950 werden unter diesem Titel 93,2 % der Frauen und 94,4 % der Männer entmündigt (113). Allerdings widerspricht diesem Bild der Umstand, dass in Bern – im Unterschied zu St. Gallen – im Falle von freiwilligen Entmündigungen stets ein zweiter Entmündigungsgrund angeführt wird. So wird v.a. jungen Frauen nahegelegt, den Entmündigungsantrag selbst zu stellen und gleichzeitig als zweiter Grund beispielsweise Geisteskrankheit angeführt. Somit kann die entsprechende Maßnahme – je nach Bedarf – als freiwillige oder unfreiwillige angeführt werden (114). (b) Aus ihren Familien weggenommene Kinder werden zumeist in Pflegefamilien untergebracht, dies mit dem Hinweis, dass eine Fremdunterbringung kostengünstiger als eine Heimunterbringung wäre. Genauso wie Kinder können auch Erwachsene in Anstalten festgesetzt werden, als Grund reicht oft die Abhängigkeit von Unterstützungsgeldern und einen Widersetzung gegenüber behördlichen Anweisungen. (c) Nachdem Geisteskranke in keinem Fall als ehetauglich bezeichnet werden, obliegt es der Psychiatrie Ehefähigkeitszeugnisse auszustellen. Allerdings lassen die föderalistischen Strukturen der Schweiz für die Betroffenen oft Schlupflöcher. (d) Erst ab 1931 werden Sterilisation und Kastration, die bis dahin im Kanton Bern in keiner Weise gesetzlich geregelt sind, als freiwillige Maßnahme und mit einem psychiatrischen Gutachten zulässig. Mit diesem verbindlichen Kreisschreiben des Regierungsrates sollen aus finanziellen Überlegungen angeordnete Sterilisationen verhindert werden. Interessant ist jedoch ein Blick auf die diskutierten Fälle der Vormundschaftskommission und deren Begründungen: Kastration wird als Strafe angeführt; Sterilisationen werden unter einem finanziellen – Belastung für die Armenkasse – sowie unter einem eugenischen Aspekt – Weitergabe der erbliche Belastung an die Kinder – diskutiert. Sterilisationen werden zur Bedingung für eine Eheerlaubnis, Abtreibung oder Entlassung aus der Anstalt. Die postulierte Freiwilligkeit wird von Gallati in doppelter Hinsicht hinterfragt, zum einen als Druckmittel, wie oben angeführt, für Eheerlaubnis, Abtreibung und Anstaltsentlassung, zum anderen beschreibt er einen Fall, in dem einem Mann der Wunsch nach einer Kastration verweigert wird, weil ihm unterstellt wird, damit nur seine Anstaltsentlassung erwirken zu wollen. Unmündige dürfen und können also keine mündigen Entscheidungen treffen.
Zu 3. Gutachtertätigkeit bei Unfruchtbarmachung im Kanton Bern
Karin Cagnazzo beschäftigt sich in ihren beiden Artikeln „Der institutionelle Kontext der Sterilisationspraxis im Kanton Bern 1918-1953“ und „Entrechtung bis in die Eingeweide. Psychiatrische Sterilisationsentscheide im Kanton Bern“ mit dem Zusammenhang von Abtreibung und Sterilisation, sowie der Frage, wer Entscheidungsfindung und -macht zu diesen Praxen innehat. Im Kanton Bern ist Sterilisation im untersuchten Zeitraum gesetzlich nicht geregelt. (Im Unterschied zum Kanton Waadt, in dem 1929 eine Gesetz zur Zwangssterilisation erlassen wird.) So wie auch im vorigen Abschnitt beschreiben die Debatten bzgl. Zulässigkeit und Gewährung von Sterilisation einen großen Bogen: von Überlegungen bzgl. erhöhtem Gesundheitsrisiko für Frauen aufgrund mehrere Schwangerschaften und Geburten, über finanzielle Belastung der Armenkassen, über die Vermeidung von Geburten von sogenannten minderwertigen Personen bis hin zur Empfehlung der Sterilisation als Maßnahme gegen Überbevölkerung im Sinne von Malthus. Richtlinien aus dem Jahr1927 und ein Kreisschreiben aus dem Jahr 1931 definieren und kontrollieren die Bedingungen der Sterilisation und schreiben Ärztinnen und Ärzten Handlungsfreiheit bei Sterilisationsfällen zu. 1938 entscheiden sich eine Vertretung der Berner Justiz-, der Armen- und der Sanitätsdirektion gegen eine gesetzliche Regelung der Sterilisation. (Auch die im Schweizerischen Strafgesetzbuch 1942 geregelten Bedingungen für eine Abtreibung lassen die Frage der Sterilisation offen.) Bis in die 1950er Jahre haben die Armen- und Sanitätsdirektion im Kanton Bern die Aufsicht über die ärztliche empfohlenen Sterilisationen. Rein finanzielle Gründe reichen nicht aus, gesundheitliche – bei verheirateten Frauen – und „Zeichen körperlicher und geistiger Minderwertigkeit“ (153) – bei unverheirateten – müssen zudem angeführt werden. Die Sterilisation minderjähriger Frauen ist nur bei bestimmten medizinischen Indikationen legal. Die von Cagnazzo untersuchten Fälle in der psychiatrischen Universitätsklinik Waldau in Bern sowie jene von der Sanitätsdirektion des Kanton Bern vorgelegten Abtreibungsgesuchen beschreiben die Praxis und erhärten ihre These, dass Sterilisationen in Zusammenhang mit Abtreibungen stattfinden: Abtreibung wird nur im Falle anschließender Sterilisation gewährt; die Aussicht auf eine Eheerlaubnis wird an das Einverständnis der Betroffenen zur Sterilisation gekoppelt. Dass Sterilisation auch als Disziplinierungsmaßnahme angewendet wird, zeigt das Beispiel, in dem eine Abtreibung mit nachfolgender Sterilisation abgelehnt, sondern die Sterilisierung erst nach der Geburt gewährt wird. Die Frage, warum im Zeitraum 1938 bis 1953 keine eugenischen Argumente für eine Sterilisation angeführt werden, im Unterschied zum Zeitraum davor, beantwortet Cagnazzo mit der Diskussion um die gesetzliche Regelung der Unfruchtbarmachung bzw. mit der Überlegung, dass Sterilisation rechtlich als Körperverletzung betrachtet werden könnte. Das Kreisschreiben aus dem Jahr 1931 verschärft bereits die Indikationen: Sterilisation darf nur mehr bei schweren medizinischen Indikationen und nicht mehr bloß aufgrund finanzieller, eugenischer und sozialer Indikation durchgeführt werden. Der Verzicht eugenischer Argumentation könnte nach Cagnazzo auch auf eine Sensibilisierung der Ärzteschaft zurückzuführen sein, allerdings implizieren die psychiatrischen Gutachten Anliegen der Eugenik (176). Trotz nachweislichem Druck, der auf Frauen und Männer ausgeübt wird, um ihre Einwilligung zur Sterilisation zu erreichen, zeigen die Akten Möglichkeiten des Widerstandes. Verweigerung zur Zustimmung bedeutet allerdings oft eine Verlängerung des Aufenthaltes in der Verwahrungsanstalt, der psychiatrischen Klinik. Die Zustimmungsverweigerung kann auch mit dem Argument der Gefahr der Haltlosigkeit begründet werden: Das verbreitete Vorurteil, dass sterilisierte Frauen keine Angst vor einer Schwangerschaft haben müssen, deshalb besonders häufig wechselnden Geschlechtsverkehr hätten und somit den gesellschaftlichen Normen widersprächen, wird von Frauen angeführt, um einer Sterilisation zu entgehen. Insgesamt gelingt es Männern häufiger als Frauen, sich einer Sterilisation zu widersetzen. 90% der sterilisierten Personen sind Frauen, wobei hauptsächlich Frauen sterilisiert werden, die bereits ein oder mehrere Kinder geboren haben.
Diskussion und Fazit
Das besonders Spannende am vorliegenden Sammelband ist die Kontinuität einer eugenisch dominierten Sozialpolitik über einen Zeitraum von fast 40 Jahren. Diese Kontinuität hat es im restlichen Europa so nicht gegeben hat. Dies in zweierlei Hinsicht: zum einen lässt sich die beschriebene Politik mit jener des Nationalsozialistischen Regimes in Punkto Grausamkeit und Menschenverachtung nicht vergleichen, zum anderen werden die personellen Kontinuitäten und Berufskarrieren in den Ländern der Nationalsozialistischen Herrschaft durch das Kriegsende 1945 zweifellos zumindest unterbrochen wenn nicht doch beendet. In Bern und St. Gallen bleiben leitende Funktionen im Fürsorgewesen oft 30 Jahre, d.h. bis weit in die 1950er Jahre mit ein und derselben Person besetzt. Die Kontinuität am Anfang der Fürsorge- und Sozialpolitik von ca. 1920 bis nach 1950 stellt einen weiteren Unterschied zum Nationalsozialismus dar. Die Länder des Nationalsozialismus vollziehen ab 1933, 1939 und folgend massive Einschnitte in sozialpolitische und fürsorgerische Politik und Maßnahmen. Insofern kann der Verzicht auf eugenische Argumentationen in psychiatrischen Gutachten zwischen 1938 und 1953 auch mit einer Abgrenzung gegenüber nationalsozialistischer Politik zu tun haben.
Die Betonung, dass Eugenik nicht allein bestimmend ist für sozialpolitische Maßnahmen in Bern und St. Gallen, sondern es sich um ein Zusammenwirken von Eugenik, Medizin, Pädagogik und Ökonomie handelt, ist meines Erachtens müßig. Ist und war für eugenische Maßnahmen doch stets das Zusammenspiel verschiedener Faktoren das Ausschlaggebende. Selbst die enge Definition von Eugenik als Verbesserung des Erbgutes legt nahe, dass die diversen Maßnahmen der Verbesserung in verschiedenen Bereichen und wissenschaftlichen Disziplinen angesiedelt sind: wie etwa in der Medizin, Psychiatrie, Pädagogik oder Sozialpolitik – und dies sowohl auf der akademisch theoretischen wie auch praktischen Ebene. Dem im abschließenden Artikel „Eugenische Praxis im Kontext machtvoller Institutionen. Vergleiche und Verbindungslinien“ vorgebrachten Gedanken von Béatrice Ziegler und Gisela Hauss, dass die Fürsorgepolitik das Wohl der einzelnen davon Betroffenen aus den Augen verlieren – wie die Fallgeschichten zeigen –, ist entgegenzuhalten, dass dies ja wohl nie die Absicht der kantonalen Fürsorge- und Sozialpolitik war, sondern es um das Erreichen bevölkerungspolitischer Ziele nach einer gesunden und leistungsfähigen Gesellschaft ging.
Rezension von
Dr. Aurelia Weikert
Sozialanthropologin und Politikwissenschafterin. Vortrags- und Autorinnentätigkeit zu den Themen Bevölkerungspolitik, Bioethik, Eugenik, Frauengesundheit, Fortpflanzungs- und Gentechnologien, Körperpolitik. Lehrbeauftragte am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien. Mitarbeiterin bei Miteinander Lernen - Birlikte Ögrenelim, Beratungs-, Bildungs- und Psychotherapiezentrum für Frauen, Kinder und Familien
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Zitiervorschlag
Aurelia Weikert. Rezension vom 31.10.2014 zu:
Gisela Hauss, Béatrice Ziegler, Karin Cagnazzo, Mischa Gallati (Hrsg.): Eingriffe ins Leben. Fürsorge und Eugenik in zwei Schweizer Städten (1920 - 1950). Chronos Verlag
(Zürich) 2012.
ISBN 978-3-03-401135-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15707.php, Datum des Zugriffs 29.03.2023.
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