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Oliver Marchart: Die Prekarisierungsgesellschaft

Rezensiert von Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt, 22.01.2014

Cover Oliver Marchart: Die Prekarisierungsgesellschaft ISBN 978-3-8376-2192-1

Oliver Marchart: Die Prekarisierungsgesellschaft I. Prekäre Proteste. Politik und Ökonomie im Zeichen der Prekarisierung. transcript (Bielefeld) 2012. 290 Seiten. ISBN 978-3-8376-2192-1. D: 24,80 EUR, A: 25,50 EUR.
Reihe: Gesellschaft der Unterschiede - 8.

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Thema

Dass die Produktion von Reichtum in kapitalistischen Gesellschaften Armut und Ausschluss von den Möglichkeiten einer selbstständigen Reproduktion einschließt, ist ein seit Marx bekannter Tatbestand. Registriert werden muss in den modernen Wachstumsökonomien eine Zunahme von Beschäftigungsverhältnissen, die im soziologischen und ökonomischen Diskurs als prekär bezeichnet werden. Oliver Marchart untersucht in seiner Studie das Phänomen der Prekarisierung nicht als einen Randgruppen der Gesellschaft betreffenden Tatbestand, sondern als ein im Prinzip für die gesamte Gesellschaft gültiges Ereignis. Hintergrund der Studie ist ein Forschungsprojekt zu Protest, Medien und Prekarisierung, das vom Autor geleitet wurde.

Aufbau und Inhalt

Das Buch gliedert sich in insgesamt vier Kapitel.

Im ersten Kapitel mit der Überschrift „Die Dislozierung des Sozialen“ werden vier unterschiedliche Perspektiven auf Prekarisierung entwickelt. Die zentrale These ist hierbei die eines kontingenten Charakters der historisch-sozialen Entwicklungen, von denen die Prekarisierung des Sozialen ihren Ausgang nahm bzw. vorangetrieben wurde. So verweist die Regulationstheorie auf die Krise als Normalzustand kapitalistischer Akkumulation, weshalb die Überwindung der Krise durch eine vorübergehend stabile Reproduktion des Kapitalismus in den Mittelpunkt der Analyse rückt. Für den Autor ist hierbei wichtig, dass der regulationstheoretische Ansatz die Regulationsform der Prekarisierung auf die gesamte Textur des Sozialen (und nicht nur die Arbeitsverhältnisse) bezieht.

In Gouvernementalitätsstudien werden Prozesse des „Managements des Elends“ in den Blick genommen. Dabei werden marginalisierte Populationen Gegenstand gouvernementaler Technologien, die staatlich erzeugt werden. Die Vielzahl gouvernementaler Strategien, die experimentell erprobt werden, greifen tief in die Lebenswelt der Individuen hinein, die ihrerseits „aktiv an ihrer eigenen Subjektivierungsweise arbeiten“ (S. 51).

In der Theorie des Postoperaismus wird – so der Autor – die Kernthese verfolgt, dass der Ort der Arbeit sich durch organisatorische Dezentralisierung von der Fabrik auf die gesamte Textur des Sozialen und Kulturellen hinweg ausgedehnt hat. Dabei ist aus der Perspektive dieses Theorieansatzes von einer Universalisierung von Risikosubjektivierungen auszugehen, die Prekarisierungsphänomene auf die Gesamtheit der Arbeits- und Lebensbedingungen ausdehnt.

Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit Ausführungen über die „Pragmatische Soziologie: Der „dritte Geist“ des Kapitalismus und die projektbasierte Polis“. Mit dem „dritten Geist“ wird auf Netzwerke als Leitmetapher an Stelle des Marktes verwiesen, die aus Sicht der besprochenen Theoretiker zu einer „projektbasierten, allgemeinen Gesellschaftsorganisation“ als Ordnungsstruktur führen. Das Phänomen der Prekarität kann dabei als Nebenfolge einer vom Kapitalismus vereinnahmten Kritik bestimmt werden (in diesem Fall der Künstlerkritik).

Alle vier besprochenen Theorieansätze zeichnen sich durch eine deutliche Betonung des Konzepts der Kontingenz aus. Damit wird zugleich gegen Marx argumentiert, dessen Kritik der politischen Ökonomie als „ökonomischer Determinismus“ gekennzeichnet wird. Diese Diagnose erscheint etwas abenteuerlich, weil an keiner Stelle auf eine Kritik der in der Marxschen Analyse enthaltenen Bestimmungen Bezug genommen wird. Immerhin muss die Typologisierung der Ansätze als „post-marxistisch“ als Gütesiegel dienen, weil damit auf die große Bedeutung von Kommunikation und Medien hingewiesen wird. Wenn man davon ausgeht, dass nicht mehr der Markt, sondern Netzwerke die Gesellschaft bestimmen, dann wird Kommunikation zu einem immer bedeutsameren Faktor der Entwicklung kapitalistischer Produktivität und gesellschaftlicher Entwicklung.

Diese These bildet den Übergang zum zweiten Kapitel, in dem die vier besprochenen Theorieansätze dem Versuch einer Integration unterzogen werden. Dies kann aus Sicht des Autors nur deshalb möglich sein, weil alle Ansätze sich einem radikalen Relationismus verpflichtet sehen und damit „marxistische Vorstellungen eines unidirektionalen Determinationsverhältnisses zwischen ökonomischer Basis und politisch-ideologischem Überbau“ (S. 85) überwinden.

Gesellschaftstheorie wird aus dieser Perspektive zur Diskurstheorie und politische Analyse zur Diskursanalyse, was zur Konsequenz hat, dass Ökonomie und Staat als Schnittmengen von Diskursen rekonzeptualisiert werden müssen, die eine traditionelle Unterscheidung von Basis und Überbau durchkreuzen. Oliver Marchart greift das diskursanalytische Konzept auf und konkretisiert es am Beispiel der Menschenrechte und der Auseinandersetzungen um Inklusion. Die Kategorie der Äquivalenz verweist dabei darauf, dass soziale Gruppen ihr Recht auf Rechte einfordern und diesen Forderungen (konfliktorisch) im Prinzip demokratischer Äquivalenz Rechnung getragen wird. Unter Rückgriff auf hegemonietheoretische Ansätze entwickelt der Autor die These, dass sich neue hegemoniale Formationen durch soziale Kämpfe – sowohl von „oben“, als auch von „unten“ -herausbilden. Damit wird Prekarisierung als ein vornehmlich ökonomisches Phänomen abgelöst durch einen Begriff von Prekarität, der diese auch politisch und kulturell konstituiert sieht.

Dies führt über zum dritten Kapitel des Buches, in dem „Prekarisierung im Blick der Diskursanalyse“ zum Gegenstand gemacht wird. Unter Rückgriff auf das Diskursmodell der Essex School werden vom Autor die Logiken politischer Diskursproduktion untersucht, wobei er im Unterschied zu Foucault einen deduktiven Zugang als legitim ansieht, weil in jede Diskursanalyse Vorwissen um die Bedeutung des untersuchten Korpus eingeht. Marchart zeigt am Beispiel der Euro-May-Day Bewegung einen gegen-hegemonialen Diskurs, in dem sich die Prekarisierten in antagonistischer Abgrenzung zur öffentlichen Debatte als politisches Subjekt definieren.

Im abschließenden vierten Kapitel des Buches werden „Medien des Protests“ wie bspw. der Schutzheilige der Prekarisierten San Preccario, ein von der Gruppe Chainworkers erfundenes soziales Medium, untersucht. Dabei geht es um die Herstellung von Beziehungen und Interaktionen zwischen den Akteuren einer sozialen Bewegung und – wie ein weiteres Unterkapitel überschrieben ist – um die Selbstinfragestellung und Entsubjektivierung der Prekaritätsproteste. Marchart zeigt Beispiele (Ich-Streik) dieser permanenten Hinterfragung der Identität der Protestbewegung.

Damit ist der Übergang vom „Protest der Prekären zur Prekarität des Protests“ eingeleitet, der das abschließende Resümee des Buches darstellt. Oliver Marchart sieht hier im Unterschied zu einer funktionalistischen Sichtweise auf neue Protestformen grundsätzliche Verschiebungen hin zu einer projektbasierten Polis, die als Vorboten (Hoffnungsträger?) eines neuen identitätskritischen Verständnisses von sozialem Protest gesehen werden können. Marcharts Diagnose postfordistischer Gesellschaften als Prekarisierungsgesellschaften würde dann in neuen prekären Protesten eine Ausdrucksform finden, die – so der Autor abschließend – zwar noch nicht als hegemoniales Projekt bezeichnet werden können, sich aber vielleicht auf dem Weg dorthin befinden.

Diskussion und Fazit

Oliver Marchart hat ein theoretisch anspruchsvolles und höchst informiertes Buch vorgelegt, das zugleich einige provozierende Thesen enthält. Dem Rezensenten stellt sich im Anschluss an die Lektüre allerdings die Frage, was denn gewonnen wäre, wenn die von Marchart geschilderten Phänomene prekären Protests hegemonialen Charakter gewinnen würden. Ging es im Anschluss an die Marxsche Kritik der Politischen Ökonomie noch um die Überwindung einer Produktionsweise, die auf der Zerstörung von Natur und Arbeit basiert, so bleibt die Frage nach den Zielen des Protests neuer sozialer Bewegungen offen. Die Frage, warum ausgerechnet der bürgerliche Staat, der mit Eigentum und Recht Konkurrenzverhältnisse regiert, die (auch) Prekarität erzeugen, nun zum – diskurstheoretisch veredelten – Subjekt von Inklusion im Sinne eines Menschenrechtsanspruchs wird, lässt sich auch als Eingeständnis lesen, dass an der Prekarisierungsgesellschaft so viel nicht auszusetzen ist. Oliver Marchart ist Professor für Soziologie an der Kunstakademie Düsseldorf und es liegt nahe, dass er die Medien des Protests in den Mittelpunkt seiner Studie rückt. Die von ihm aufgezeigten Entwicklungen, Verschiebungen und neuen Identitätsbildungen sind unleugbare Phänomene gegenwärtiger sozialer Bewegungen. Sie als Hoffnungsträger zu werten ist wohl nur dann möglich, wenn der Protest als Ausdruck einer Gegenwehr verstanden wird, die ihre Legitimation aus sich selbst heraus bezieht. Das hat mit Marx und seiner Kritik der Politischen Ökonomie des Kapitalismus tatsächlich nichts mehr zu tun. In diesem Sinne basiert das Buch von Marchart auf einer generellen These, die zu prüfen wäre: den Kapitalismus als den Globus beherrschende Produktionsweise gibt es nicht (mehr).

Rezension von
Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt
Professor i.R. für Sozialmanagement, Verwaltung und Organisation am Fachbereich Sozialarbeit der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe Bochum
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Es gibt 46 Rezensionen von Norbert Wohlfahrt.

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Zitiervorschlag
Norbert Wohlfahrt. Rezension vom 22.01.2014 zu: Oliver Marchart: Die Prekarisierungsgesellschaft I. Prekäre Proteste. Politik und Ökonomie im Zeichen der Prekarisierung. transcript (Bielefeld) 2012. ISBN 978-3-8376-2192-1. Reihe: Gesellschaft der Unterschiede - 8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15716.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.


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