Wolf-Dietrich Bukow, Markus Ottersbach et al.: Partizipation in der Einwanderungsgesellschaft
Rezensiert von Prof. Dr. Hartmut M. Griese, 05.03.2014
Wolf-Dietrich Bukow, Markus Ottersbach, Sonja Preissing, Bettina Lösch: Partizipation in der Einwanderungsgesellschaft.
Springer VS
(Wiesbaden) 2013.
190 Seiten.
ISBN 978-3-531-19842-2.
D: 24,95 EUR,
A: 25,65 EUR,
CH: 31,50 sFr.
Reihe: Interkulturelle Studien.
Thema
Nachdem sich der Terminus (Deutschland als) „Einwanderungsgesellschaft“ sowohl in der offiziellen Politik als auch in der Wissenschaft tendenziell durchgesetzt hat (es heißt allerdings immer noch „Zuwanderungsgesetz“), liegen auch immer mehr Studien und Publikationen vor, die sich speziell mit dem Thema „Integration in der Einwanderungsgesellschaft“ befassen – dieses Mal speziell mit „Partizipation“, ein Konstrukt, das zusammen mit „Gerechtigkeit“, immer mehr das Konzept der „Integration“ verdrängt (hat). Zuletzt hat z.B. die neue Niedersächsische Landesregierung offiziell verlauten lassen, dass man Abschied vom Begriff der „Integration“ nehmen will und stattdessen mehr von „Partizipation“ (Inklusion) und „Gerechtigkeit“ (Chancengleichheit) sprechen will. Ob dies konkrete Auswirkungen auf die (Migrations- und Integrations-) Politik und Pädagogik haben wird, muss abgewartet werden. Mit diesem Perspektivenwechsel ist man nun endlich dort angelangt, wo man sich teilweise vor 35 Jahren schon versucht hat zu verorten, nämlich: die diffuse Leerformel „Integration“ (als Container- und Staubsaugerbegriff) zu verwerfen (vgl. z.B. Schrader/Nikles/Griese 1976) und durch konkretere und politisch sensiblere Begriffe wie Chancengleichheit, Gerechtigkeit und gesellschaftliche Teilhabe zu ersetzen. Der Fortschritt, auch in Forschung und Wissenschaft, ist ein mühsamer Prozess, bekanntlich das „Bohren dicker Bretter“ (Max Weber), wobei auch umstritten ist und kontrovers diskutiert wird, inwieweit ein terminologischer Wandel (in der Konstruktion und Deskription der Wirklichkeit) auch zu einem Fortschritt in den politischen Folgen führt.
Autorenteam
Die vier Autoren sind allesamt Mitglieder von FiSt e.V., der „Forschungsstelle für interkulturelle Studien“ in Köln. Wolf-Dieter Bukow, deren Gründer, ist Emeritus und „Inhaber einer Forschungsprofessur am Forschungskolleg der Universität Siegen“; Markus Ottersbach ist Professor für Soziologie an der FHS Köln; Bettina Lösch lehrt als Privatdozentin und Akademische Rätin Politikwissenschaft an der Universität Köln und Sonja Preissing promoviert mit einem Stipendium als wissenschaftliche Mitarbeiterin im gemeinsamen Projekt „Partizipation in der Einwanderungsgesellschaft“.
Entstehungshintergrund
Die vorliegende Publikation ist quasi der Endbericht des Projektes der vier Autoren zum Thema „Partizipation in der Einwanderungsgesellschaft“, das an der Universität Köln und der Fachhochschule Köln „von März 2010 bis Juni 2011, von der ‚RheinEnergie Stiftung Jugend/ Beruf/ Wissenschaft‘ gefördert“, durchgeführt wurde. Der das Projekt ergänzende „Workshop“ sowie die „Abschlusstagung“ wurden in Kooperation mit der „RosaLuxembergStiftung NRW“ durchgeführt und vom „Verein für Angewandte Sozialwissenschaften“ VAS der FHS Köln unterstützt (S. 9). Das Projekt bezieht sich auf die sog. „Kalker Ereignisse“ von 2008 nach dem Tod eines Jugendlichen, worüber damals auch in überregionalen Medien berichtet wurde.
Aufbau
Der Band beginnt mit einer Einleitung der vier Autoren über die „Kalker Ereignisse“; es folgen fünf thematisch-inhaltlich unterschiedliche Beiträgen zur Fragestellung des Projektes, eine Analyse der Vorgänge und Perspektiven, über Probleme einer Stadtgesellschaft in der globalisierten Postmoderne sowie zu Jugendprotesten und politische Partizipation und zur sozialpädagogischen Perspektive und deren Schlussfolgerungen. Den Abschluss bildet eine dokumentierte öffentliche „Diskussion der vier Autoren zu den ‚Kalker Ereignissen‘“ zum Thema „Verpasste Chancen?“.
Inhalte und Erkenntnisse
Die Reihe „Interkulturelle Studien“ hat sich zum Ziel gesetzt, „wegweisende Beiträge, die neben den theoretischen Grundlagen insbesondere empirische Studien zu ausgewählten Problembereichen interkultureller als sozialer und damit auch politischer Praxis“ betreffen, zu publizieren, um dadurch den „kulturalistisch verengten oder für marktförmige Anwendung zurechtgestutzten Interkulturalitätsbegriff … (durch) eine dezidiert kritische Perspektive in der Interkulturalitätsforschung“ zu ersetzen (S. 2, Text zur Reihe).
In der „Einleitung“ (S.7ff) werden die „Kalker Ereignisse“ von 2008 kurz rekonstruiert und beschrieben, und es wird die Idee zum Forschungsprojekt sowie die Fragestellung und das Erkenntnisinteresse in Form von Fragen formuliert: „Welche Nachwirkungen haben die ‚Kalker Ereignisse‘ tatsächlich gehabt und was sind die Gründe dafür?“. Welche Prozesse liefen ab und wie werden diese von den verschiedenen Akteuren (Kommune, Polizei, Sozialarbeit, Medien, Jugendliche) interpretiert? Forschungsmethodisch kommen neben etlichen Gesprächen vor Ort vor allem die Analyse von „Medienberichten“ und „Internetdokumenten“ sowie „leitfadengestützte Interviews“ mit Betroffenen und „Gruppendiskussionen“ zum Einsatz (S. 8). Den Abschluss des Projektes bildete ein „Workshop im Stadtteil“ Kalk (Köln).
Die Berichte auf dem Workshop lieferten dann auch die Basis für die Beiträge in dem Band. Über die Projektergebnisse informiert Sonja Preissing („Ein Ereignis im Stadtteil und viele kontroverse Perspektiven. Analysen zum Geschehen im Januar 2008 in Köln-Kalk“); es folgt von Wolf-Dieter Bukow ein theoretischer Artikel aus soziologischen Perspektive „Über die Schwierigkeiten einer Stadtgesellschaft, sich in der Postmoderne auf einen zunehmend globalisierten Alltag einzustellen“ sowie ein sozialpädagogisch orientierter Beitrag von Markus Ottersbach zu „Zivilgesellschaftliche Partizipation Jugendlicher – Eine Herausforderung für die Soziale Arbeit“ und eine „politikwissenschaftliche Analyse“ von Bettina Lösch „Jugendprotest als Form politischer Artikulation. Wer partizipiert an Demokratie und wer ist berechtigt zur Politik?“.
Zuletzt ist, wie bereits erwähnt, die „Diskussion der vier Autoren zu den ‚Kalker Ereignissen‘“ abgedruckt (S. 159-177). Da in dieser Abschlussrunde nochmal die wesentlichsten Erkenntnisse der Stadtteilstudie zur zivilgesellschaftlichen Partizipation zum Tragen kommen, beschränke ich mich bei der Wiedergabe der Inhalte und Erkenntnisse vor allem darauf.
Deutlich werden in dem (vor allem medial konstruierten) migrationspolitisch brisanten Stadtteilkonflikt vor allem die widersprüchlichen und kontrovers debattierten Perspektiven sowie die divergenten Interessenlagen der unterschiedlichen Akteure, wodurch auch die „asymmetrische Machtverteilung“ im Stadtteil zu Tage tritt. Weiter wird deutlich, dass recht unterschiedliche Sprachen gesprochen werden, einerseits die der „Jugendlichen und Heranwachsenden“, andererseits die der (erwachsenen) kommunalen Vertreter. Wolf-D. Bukow formuliert in seinem Beitrag diese beiden Erkenntnisse kurz und knapp in den Thesen: „Man kann die ‚Kalker Ereignisse‘ aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten“ (S. 69) und „Es ist in diesem Quartier ‚normal‘, dass man aneinander vorbei redet“ (S. 160). „Die Pointe besteht darin, dass die einen sagen, ‚Wir sind Kalker Jungs‘ und die anderen sagen ‚Ihr seid unintegrierte Fremde‘“ (S. 10).
Sonja Preissing sieht die Kalker Vorgänge in ihrem Eingangsstatement zur Diskussion vor allem als Medienereignis, als einen medial gesteuerten Diskurs über „Kalk als Problemviertel“ und „sozialen Brennpunkt“ sowie als eine Ausländer(kriminalitäts)debatte. Die „Soziale Arbeit“ hat zwar „spontan darauf reagiert“ (Ottersbach, S. 160), aber ohne Konzept, während die Kommune, so Bukow, „von der Situation keine Ahnung (hat)“ (S. 161). Der anschließend initiierte „Dialog der Kulturen“ (mit Vertretern von Kirchen und Moscheen, aber ohne Jugendliche!) zeige, so Lösch (ebd.), dass reflexartig „kulturalisiert“ werde und die Ereignisse als „ein Problem verschiedener Kulturen“ gesehen und interpretiert werden. Die jungen Leute werden tendenziell als Objekte und Problem definiert, nicht als mündige Staatsbürger. Dabei spielen „Medien und Kommune“ gewissermaßen einen Doppelpass und schaukeln sich gegenseitig auf (S. 164).
Nach Bukow lassen sich „klassische Rassismen“ beobachten. Es dominiert eine „nationalistisch geprägte Perspektive“, die er „hermeneutischen Nationalismus“ nennt (S. 166). Beim analytischen Blick auf die Aktivitäten und Reaktionen der Jugend(sozial)arbeit wird deren „doppeltes Mandat“ erkenntlich: Unterstützung und Kontrolle (Ottersbach) (ebd.). In der Diskussion über die Erkenntnisse aus dem Projekt schält sich eine These heraus, die in Bezug auf ihre Übertragbarkeit auf ähnliche Konflikte theoretisch-stadtsoziologisch zu diskutieren wäre: „Es gibt … einen generellen Konflikt zwischen dem, was die Kommune und dem, was die Bürger wollen“ (S. 171). Es gibt quasi ein „Bündnis der Herrschenden“ sowie ein Top-down-Konzept von Partizipation (vgl. dazu auch meine früheren ideologiekritischen Überlegungen zu „Partizipation – ein Trojanisches Pferd?“, Griese 2006).
Diskussion
Das Projekt offenbart, dass die Stadt Köln „kein umfassendes Entwicklungs- und Strukturkonzept hat“ (S. 175), dass der „Integrationsplan“ der Stadt nur wenig mit der „Integrations“-Praxis gemein hat und dass die Akzeptanz des Terminus „Einwanderungsgesellschaft“ ebenso wenig mit der Realität der „Partizipation“ bzw. Gleichbehandlung der Einwanderer, auch wenn sie hier geboren sind, zu tun hat, dass „Gerechtigkeit offenbar da aufhört, wo Macht anfängt“ (S. 174), dass immer noch bzw. in der Regel auf kommunaler Ebene „klassische Rassismen“ und seltsame Top-Down-Vorstellungen von „Partizipation“ vorherrschen.
Zu fragen, zu diskutieren bzw. durch weitere Studien zu (er)klären wäre, ob vergleichbare Erkenntnisse auch in ähnlich gelagerten und als Migrations- oder Kulturkonflikte titulierten Ereignisse in anderen Städten und/ oder Kommunen zu beobachten sind und ob es sich hierbei also um ein generelles Problem von „Einwanderungsgesellschaften“ handelt sowie ob dann dafür tendenziell Struktur- und Handlungsgesetzmäßigkeiten zu erkennen sind.
Besonders gelungen finde ich, dass am Projektende eine Abschlussdiskussion aller wissenschaftlich verantwortlich am Projekt Beteiligten stattfindet und diese öffentliche Diskussion dann, quasi als Fazit und Ergebnis der Studie (wenn sicher auch überarbeitet) abgedruckt wird. Gewünscht hätte ich mir eine (erkenntnis)theoretische Auseinandersetzung mit dem für das Projekt und seine Ergebnisinterpretation zentralen Konzept der „Perspektive“ sowie dessen Relevanz zur Erklärung von Phänomenen in globalisierten und postmodernen Gesellschaft (vgl. Beitrag Bukow). Ein Verweis auf den klassischen Artikel von G.H. Mead über „Die objektive Realität von Perspektiven“ (1927!) wäre da sicher – auch für die Leser – angebracht und weiter führend gewesen.
Interessant und erkenntnistheoretisch weiterführend scheint mir der Terminus „hermeneutischer Nationalismus“ von Wolf-Dieter Bukow, der Phänomene wie Ethnisierung und Kulturalisierung, Fremdbildkonstruktionen und implizite Rassismen auf den Begriff bringt.
Fazit
Ich will hier nur anmerken und mir – vermutlich vergebens – wünschen, dass diese Studie vor allem von kommunalen Vertretern und Politikern gelesen werden sollte, die in ihrem beruflichen Alltagshandeln mit der Idee und der Realität der „Einwanderungsgesellschaft“ und ihrer Folgen zu tun haben – am besten gekoppelt an eine Veranstaltung zur beruflichen Fortbildung.
Aber in jedem Fall ist das Buch auch für Migrationsforscher in Bezug auf Fragestellung, methodisches Vorgehen und Erkenntnisse lesenswert und zu empfehlen. Weiter zeigt sich hier auch die Fruchtbarkeit interdisziplinärer (mehrperspektivischer!) Forschungsteams und Studien. Derlei Studien gelingen aber nur dann, das sei auch noch – quasi als Fußnote – angemerkt, wenn die verantwortlichen Leiter und Mitarbeiter im Projekt ähnliche wissenschaftlich-theoretische Positionen, Wirklichkeitskonstruktionen und politisch-ideologische Einstellungen vertreten – nur so funktioniert bekanntlich auch eine gute (vierköpfige) Rock-Band.
Literatur
- Griese, Hartmut M.: Partizipation – ein Trojanisches Pferd? In: Thema Jugend. Zeitschrift für Jugendschutz und Erziehung. Heft 1/ 2006.
- Mead, George H. (1927): Die objektive Realität von Perspektiven. In: Ders. (1969): Philosophie der Sozialität. Vorwort und Einleitung von Hansfried Kellner. Frankfurt.
- Schrader, Achim/ Nikles, Bruno/ Griese, Hartmut M (1976): Die Zweite Generation. Sozialisation und Akkulturation ausländischer Kinder an deutschen Schulen, Königstein.
Rezension von
Prof. Dr. Hartmut M. Griese
Leibniz Universität Hannover, Philosophische Fakultät, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie.
ISEF-Institut (Institut für sozial- und erziehungswissenschaftliche Fortbildung
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Zitiervorschlag
Hartmut M. Griese. Rezension vom 05.03.2014 zu:
Wolf-Dietrich Bukow, Markus Ottersbach, Sonja Preissing, Bettina Lösch: Partizipation in der Einwanderungsgesellschaft. Springer VS
(Wiesbaden) 2013.
ISBN 978-3-531-19842-2.
Reihe: Interkulturelle Studien.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15731.php, Datum des Zugriffs 14.09.2024.
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