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Gunter Graf, Elisabeth Kapferer et al. (Hrsg.): Der Capability Approach und seine Anwendung

Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Liebel, 08.01.2014

Cover Gunter Graf, Elisabeth Kapferer et al. (Hrsg.): Der Capability Approach und seine Anwendung ISBN 978-3-658-01271-7

Gunter Graf, Elisabeth Kapferer, Clemens Sedmark (Hrsg.): Der Capability Approach und seine Anwendung. Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen erkennen und fördern. Springer VS (Wiesbaden) 2013. 277 Seiten. ISBN 978-3-658-01271-7. D: 39,99 EUR, A: 41,11 EUR, CH: 50,00 sFr.
Reihe: Research.

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Thema

Der sog. Capability oder Capabilities Approach (CA), im Deutschen meist als Fähigkeiten- oder Befähigungsansatz bezeichnet, ist ein pragmatisch orientiertes Set von Theoriebausteinen und methodologischen Grundannahmen, die es ermöglichen (sollen), Ungerechtigkeit in und zwischen nationalen Gesellschaften zu vermessen und zu mehr sozialer Gerechtigkeit beizutragen. Er wurde in den vergangenen 30 Jahren von dem indischen, in den USA lehrenden Sozialökonomen Amartya Sen entwickelt (der dafür 1998 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurde) und seitdem von verschiedenen Autorinnen und Autoren, vor allem der US-amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum, in verschiedenen Varianten weiter ausgearbeitet. Die verschiedenen Varianten unterscheiden sich teilweise so stark, dass es trotz der übergreifenden Selbstbezeichnung CA kaum noch möglich ist, sie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.

Der Befähigungsansatz ist zunächst in der Auseinandersetzung mit entwicklungspolitischen Strategien der „Armutsbekämpfung“ entstanden, die auf wirtschaftliches Wachstum und materielle Güterverteilung fixiert sind. Er vertritt demgegenüber ein wesentlich komplexeres Verständnis von „menschlicher Entwicklung“, das verschiedene „objektive“ und „subjektive“ Aspekte der Lebensverhältnisse und insbesondere die Handlungsmöglichkeiten der Menschen in den Blick nimmt, und will zu ihrer Erweiterung beitragen. Im Unterschied zu den meisten bisherigen Gerechtigkeitstheorien liegt in den Gerechtigkeitskonzeptionen von Sen und Nussbaum der Akzent nicht auf der Ausgestaltung der institutionell gefassten Grundstruktur einer Gesellschaft und der mit ihr gegebenen Güterverteilung. Eine gerechte Umverteilung von Gütern gilt ihnen als eine zwar notwendige, jedoch nicht hinreichende Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit und ein „gutes Leben“. Stattdessen ist für sie die Frage zentral, ob und inwieweit eine Person über die nötigen Befähigungen (bei Sen ein aus dem jeweiligen sozialen und kulturellen Kontext sich ergebender „capability-set“, bei Nussbaum eine als universal verstandene Liste grundlegender „capabilities“) verfügt, um an den lebenswichtigen Gütern der Gesellschaft teilzuhaben und gewünschte Ziele zu erreichen. Der Begriff der Befähigungen hat eine objektive und eine subjektive Dimension. Mit ihm sind nicht nur persönliche Fähigkeiten und Kompetenzen gemeint, sondern auch externe Verwirklichungsbedingungen und -chancen. Erst in ihrem Zusammenwirken entstehen nach Sen und Nussbaum die Möglichkeiten für ein menschenwürdiges und gerecht zu nennendes Leben.

Der CA hat die Debatte um Gerechtigkeit innerhalb nationaler Gesellschaften ebenso wie in globaler Perspektive bereits erheblich beeinflusst. In der von Amartya Sen formulierten Variante hat er z.B. Eingang in den von den Vereinten Nationen vertretenen Human Development Index gefunden, auf dessen Basis alle zwei Jahre Rangfolgen von Ländern und Regionen mit unterschiedlichen Niveaus „menschlicher Entwicklung“ erstellt werden. In Deutschland und Österreich wurde der CA seit 2005 in den regierungsoffiziellen Armuts- und Reichtumsberichten, sowie in Deutschland im 13. und 14. Kinder- und Jugendbericht (2009, 2013) aufgegriffen, allerdings ohne immer sämtlichen Dimensionen des CA Rechnung zu tragen. In der deutschsprachigen Fachdiskussion wurde der CA bisher vor allem unter erziehungswissenschaftlichen Aspekten erörtert und hat in der empirischen Kindheits- und Jugendforschung (z.B. im LBS-Kinderbarometer und den World-Vision-Kinderstudien) dazu beigetragen, den Sichtweisen, Teilhabechancen und dem „subjektiven Wohlbefinden“ von Kindern und Jugendlichen größere Aufmerksamkeit zu widmen. Dabei wird nicht immer hinreichend beachtet, das der CA Wohlbefinden nicht nur als Wohlfühlen oder Glückszustand versteht, sondern auch Handlungsbedingungen und -möglichkeiten einschließt, sich für selbst gewählte Lebensziele und gerechtere soziale Verhältnisse einzusetzen. In der Kindheits- und Jugendforschung sowie in der Bildungs- und Sozialarbeitsforschung wird der CA zunehmend häufiger herangezogen und mit anderen Theorieansätzen verknüpft.

Entstehungshintergrund

Der hier zu besprechende Sammelband hat seinen Ausgangspunkt in einer Konferenz, die im April 2010 am Internationalen Forschungszentrum für Soziale und Ethische Fragen (ifz) in Salzburg in Kooperation mit dem Zentrum für Armuts- und Ethikforschung der Universität Salzburg, der Salzburg Ethik Initiative und dem in Innsbruck ansässigen Forschungszentrum von SOS-Kinderdorf International stattgefunden hatte. Er umfasst Ergebnisse dieser Konferenz und wurde um weitere ausgewählte Beiträge ergänzt. Die Herausgeber*innen sind wissenschaftliche Mitarbeiter*innen an diesen österreichischen Institutionen.

Aufbau

Nach einer übergreifenden Hinführung zum Thema gliedert sich der Band in zwei Teile.

  1. Der erste Teil („Zur Anwendung des Capability Approach“) widmet sich allgemeinen und grundlegenden Fragen, die zu stellen sind, wenn es um die Entwicklung von Befähigungen (capabilities) und die Operationalisierung des CA für empirische Forschungen geht. Er leistet damit eine theoretische Grundlegung für die folgenden Beiträge.
  2. Im zweiten Teil („Praktische Perspektiven“) geht es zum einen um exemplarische Anwendungen des CA in Kinder- und Jugendstudien, zum anderen wird auf mögliche Anknüpfungspunkte des CA in verschiedenen Tätigkeitsfeldern, die Kinder und Jugendliche betreffen, Bezug genommen.

Inhalt

Eröffnet wird der Sammelband mit einer ausführlichen Reflexion des Mitherausgebers Clemens Sedmak zu ethischen Fragen, die sich bei der Anwendung des CA in der empirischen Forschung sowie der sozialen und pädagogischen Praxis stellen. Entlang von Diskursen über angewandte Ethik geht der Autor auf die Tücken ein, die auftreten, wenn die dem CA zugrundeliegenden normativen Prinzipien auf ausgewählte Kontexte angewendet werden sollen.

Als Auftakt des theoretisch akzentuierten Teils thematisiert Ortrud Leßmann grundlegende methodologische Fragen, die sich bei der Umsetzung des CA in empirischen Untersuchungen stellen. Anschließend umreißt Franz F. Eiffe unter Bezug auf mehrere Studien, die sich auf Amartya Sen´s Analysekategorien beziehen, einige Schwierigkeiten, die sich vor allem bei der Operationalisierung von Armut in der empirischen Forschung stellen. Im folgenden Beitrag diskutiert Friedhelm G. Vahsen in einer vergleichenden und teils kritischen Betrachtung der Ansätze von Sen und Nussbaum, in welcher Weise der Begriff der „Agency“ für empirische Studien im Bereiche der Sozialen Arbeit nutzbar gemacht werden kann. Der erste Teil wird abgeschlossen mit einem Beitrag von Matthias Grundmann, Inga Hornei und Annekatrin Steinhoff, in dem am Beispiel zweier Untersuchungen gezeigt wird, dass die Bewertung und Deutung von Befähigungen durch die Akteure immer die spezifischen Kontexte ihres Lebens beachten muss.

Die Beiträge des zweiten Teils wenden sich Kindern und Jugendlichen in Situationen materieller, sozialer, kultureller oder körperlicher bzw. motorischer Benachteiligung zu und loten Möglichkeiten aus, die sich hier im Zusammenhang mit dem CA ergeben können. Kinderarmut als Mangel an Verwirklichungschancen steht im Mittelpunkt des Beitrags von Susanne Schäfer-Walkmann und Constanze Störk-Biber, der auf einer Studie der Autorinnen zu Kinderarmut in Baden-Württemberg beruht. Welchen Gewinn der CA für die Evaluierung von Kinder- und Familienhilfsprogrammen bringen kann, untersuchen Gunter Graf, Bernhard Babic und Oscar Germes Castro mit Blick auf Kinder, die in Nicaragua und Namibia von SOS-Kinderdorf-Einrichtungen betreut werden, wobei besonders die Notwendigkeit der Partizipation der Kinder am Evaluierungsprozess betont wird. Margherita Zander geht in ihrem Beitrag, der sich mit Studien zur Kinderarmut befasst, mit Blick auf die Förderung der Bewältigungsressourcen von Kindern auf mögliche Synergien zwischen dem CA und der Resilienzforschung ein. Am Beispiel eines Projekts im Rahmen des Bundesmodellprogramms Wirkungsorientierte Jugendhilfe zeigt Guido Osterndorff wie mit einer am CA orientierten Methode die Selbstreflexion institutionell betreuter Jugendlicher ebenso wie die ihrer Betreuungspersonen gefördert werden kann. Ursula Costa demonstriert, wie etliche Postulate des CA für handlungsorientierte und partizipativ angelegte ergo-therapeutische Behandlungen genutzt werden können.

In einem Nachwort unternimmt der Mitherausgeber Günter Graf schließlich den Versuch, die roten Fäden zu verdeutlichen, welche die Beiträge des Sammelbandes miteinander verbinden. Dabei hebt er hervor, dass die in den Beiträgen erfolgende unterschiedliche Rezeption und kritische Reflexion der Postulate des CA nicht nur der Verschiedenheit der von den Autor*innen vertretenen Disziplinen und Erfahrungen geschuldet sind, sondern auch die interne Vielfalt des CA und seine disziplinären Bandbreite produktiv widerspiegeln. Im Vorwort hatten Günter Graf und die Mitherausgeberin Elisabeth Kapferer bereits darauf aufmerksam gemacht, dass die Bezeichnungen „Capability Approach“, „Capability-Ansatz“ und „Verwirklichungschancenansatz“ tendenziell stärker mit den Arbeiten von Amartya Sen, „Capabilities Approach“, „Capabilities-Ansatz“ und „Fähigkeitenansatz“ mit jenen von Marta Nussbaum in Verbindung gebracht werden. Um die spezifischen Sinngehalte des im CA eingeführten englischen Terminus zum Ausdruck zu bringen, erscheint mir im Deutschen der Terminus „Befähigung(en)“ am ehesten angemessen.

Diskussion

Der Sammelband ist theoretisch und methodologisch höchst anspruchsvoll und vor allem die voraussetzungsvollen Beiträge des ersten Teils sind für Leser*innen, die nicht mit dem CA und seinen verschiedenen Varianten vertraut sind, gewiss nicht immer leicht zu verstehen. Gerade die anwendungsbezogenen Beiträge des zweiten Teils sind aber eine gute Gelegenheit, sich mit den Grundgedanken des CA, mit seiner möglichen praktischen Relevanz und nicht zuletzt mit seinen normativ-ethischen Implikationen vertraut zu machen. Manche der auf die Praxis bezogenen Beiträge lassen zwar eine gewisse Distanz und kritische Selbstreflexion des eigenen Handlungsfelds vermissen, aber insgesamt tragen die Beiträge des zweiten Teils dazu bei, die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten des CA zu verdeutlichen. Von Vorteil ist, dass die meisten Beiträge sich nicht mit einer bloß nachahmenden „Anwendung“ begnügen, sondern sich auch mit den immanenten Schwächen, Widersprüchen und Übertragungsschwierigkeiten des CA auseinandersetzen.

Dies ist vor allem mit Blick auf Forschungs- und Handlungsfelder wichtig, die sich auf Kinder und Jugendliche beziehen und in denen deren „Agency“ und Partizipation besonderes Gewicht beigemessen wird. Sowohl in den Arbeiten von Sen als auch denen von Nussbaum wird jungen Menschen und ihren Handlungskompetenzen, -potentialen und -rechten bislang nur geringe Aufmerksam zuteil. Zu Recht ist diesen beiden Autor*innen angekreidet worden (im vorliegenden Band erneut vor allem in dem Beitrag von Graf, Babic und Germes Castro, S. 179 ff.), zu pauschal vorauszusetzen, dass zumindest Kinder nicht fähig seien, eigene Entscheidungen zu treffen, und dass die Kindheit in erster Linie dazu diene, zukünftige Handlungsfreiheiten im Erwachsenenalter vorzubereiten, also eher eine instrumentelle Funktion habe. Der hier vorgestellte Sammelband trägt gerade durch die vielfältigen praktischen Beispiele dazu bei, dieser erwachsenenzentrierten Perspektive entgegenzuwirken.

Fazit

In seiner Kombination von theoretischen und praxisbezogenen Beiträgen trägt der Sammelband in vorzüglicher Weise dazu bei, die Bedeutung des Capability-Ansatzes für die Untersuchung und Förderung der Handlungspotentiale von Kindern und Jugendlichen, insbesondere solchen in sozial benachteiligten Lebenslagen, kennenzulernen und zu beurteilen.

Rezension von
Prof. Dr. Manfred Liebel
Master of Arts Childhood Studies and Children’s Rights (MACR) an der Fachhochschule Potsdam, Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften
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Es gibt 104 Rezensionen von Manfred Liebel.

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Zitiervorschlag
Manfred Liebel. Rezension vom 08.01.2014 zu: Gunter Graf, Elisabeth Kapferer, Clemens Sedmark (Hrsg.): Der Capability Approach und seine Anwendung. Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen erkennen und fördern. Springer VS (Wiesbaden) 2013. ISBN 978-3-658-01271-7. Reihe: Research. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15739.php, Datum des Zugriffs 13.10.2024.


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