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Angelika Pollmächer, Hanni Holthaus: Wenn Menschen mit geistiger Behinderung älter werden

Rezensiert von Prof. Dr. Erik Weber, 11.07.2014

Cover Angelika Pollmächer, Hanni Holthaus: Wenn Menschen mit geistiger Behinderung älter werden ISBN 978-3-497-02363-9

Angelika Pollmächer, Hanni Holthaus: Wenn Menschen mit geistiger Behinderung älter werden. Ein Ratgeber für Angehörige. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2013. 149 Seiten. ISBN 978-3-497-02363-9. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR, CH: 28,50 sFr.

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Thema

Die Tatsache, dass nach den mörderischen Gräueltaten der Nationalsozialisten die erste Generation behinderter Menschen, insbesondere diejenigen, denen man eine sog. geistige Behinderung attestiert, derzeit älter, alt und gar hochbetagt wird, spiegelt sich zwar in vielerlei statistischen Erhebungen wider, scheint aber noch lange nicht im Bewusstsein aller zentral Handelnder in diesem Feld geraten zu sein. Umso begrüßenswerter ist es daher, wenn sich Veröffentlichungen mit diesem Thema auseinandersetzen. Hier geschieht es weniger auf einer wissenschaftlichen Ebene, als vielmehr im Sinne eines unprätentiösen Ratgebers für Angehörige, die mit dem Thema in Verbindung kommen.

Autorinnen

Die beiden Autorinnen dieses Bandes sind einerseits bereits etablierte Autorinnen im Reinhardt-Verlag, wenn es um die Belange von Kindern und Jugendlichen mit sog. geistiger Behinderung geht, andererseits denken, argumentieren und schreiben sie aus der Perspektive betroffener Mütter, denn beide sind Mütter von Kindern mit Trisomie 21. Neben ihren eigentlichen Berufen (Angelika Pollmächer arbeitet als Redakteurin einer Zeitschrift, Hanni Holthaus als Dozentin in der Erwachsenenbildung) und ihrem Dasein als Mütter, die sich sämtliche im Buch aufgeworfenen Fragen sicher einst einmal selbst stellen mussten, haben sie im Reinhardt-Verlag bereits zwei Ratgeber-Bände gemeinsam verfasst: Eine über das Erwachsenwerden von Jugendlichen mit einer Behinderung [vgl. Holthaus/Pollmächer (2007). Wie geht es weiter? Jugendliche mit einer Behinderung werden erwachsen. München, Reinhardt-Verlag] und einen über die Perspektiven des Eltern-Seins in den ersten Jahren mit einem behinderten Kind [vgl. Pollmächer/Holthaus (2005). Auf einmal ist alles anders! Wenn Kinder in den ersten Jahren besondere Förderung brauchen. Münche, Reinhardt-Verlag].

Entstehungshintergrund

Das Buch ist aus der Tatsache heraus entstanden, dass es wenig konkrete Ratgeber-Bände rund um das Thema älter werdende Menschen mit einer sog. geistigen Behinderung gibt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Themen Eltern-Sein, Ablösung und Älterwerden von Menschen mit einer sog. geistigen Behinderung ist zwar breit diskutiert und rezipiert, erreicht aber betroffene Eltern wohl weniger direkt.

Aufbau und Inhalt

Der Band gliedert sich, nach einem einfühlsamen Vorwort von Henning Scherf, Bürgermeister a.D. der Hansestadt Bremen, in acht größere Unterkapitel:

Unter der Überschrift „wachsende Ringe“ geben die Autorinnen eine erste Orientierung über Sinn und Zweck ihres Ratgebers. Sie geben damit eine Übersicht über die folgenden Kapitel, die sich an verschiedenen Phasen des Alterns orientieren. Kapitel zwei beispielsweise ist mit der Überschrift „die Zeit ist reif“ versehen. Hier geht es um das Einordnen erster Anzeichen des Alterns, um Lebenszyklen und den als wichtig erachteten Blick zurück. Kapitel drei hat die Überschrift „altersgerecht leben“ und stellt verschiedene mögliche Wohnsettings für älter werdende Menschen mit einer sog. geistigen Behinderung von der Familie bis zum Seniorenheim vor. Verschiedenste Einblicke in sog. „Fallgeschichten“ verdeutlichen die Gedanken der Autorinnen und bereits in diesem Kapitel wird auf sozialrechtliche Rahmenbedingungen verwiesen. Das Folgekapitel vier widmet sich darauf aufbauend ganz dem Thema Tagesgestaltung („den Tag gestalten“), indem der Übergang ins Rentendasein und das Thema Freizeitgestaltung im Mittelpunkt stehen.

Einen weiteren wichtigen möglichen Aspekt im Kontext des Älterwerdens von Menschen mit einer sog. geistigen Behinderung, dem der medizinischen und pflegerischen Notwendigkeiten, wird in Kapitel fünf nachgegangen. Psychische, körperliche und pflegerelevante Aspekte werden hier in den Mittelpunkt gerückt. Vielleicht etwas überraschend folgt dann ein sechstes Kapitel mit der Überschrift „die Zügel aus der Hand geben“. Hier geht es um die Gestaltung von Selbstbestimmungspotenzialen der älter werdenden Menschen mit sog. geistiger Behinderung. Einen größeren Stellenwert nehmen in diesem Kapitel zudem Fragen rund um das Thema der gesetzlichen Betreuung ein.

Letztlich überschreiben die Autorinnen ihr Kapitel sieben mit „Abschied nehmen“. Wenn Eltern nicht mehr können, wenn die Themen Tod und Sterben auf die Tagesordnung geraten und wenn letzte Dinge zu regeln sind, ist das sicher eine besondere zusätzliche Erschwernis, die hier abschließend thematisiert wird. Mit dem Schlusswort in Kapitel acht beschließen die Autorinnen ihren Ratgeber.

Es folgt ein knappes Literaturverzeichnis und eine ausführliche Liste mit Adressen, wichtigen themenrelevanten Websites und Buchempfehlungen der Autorinnen. Ein Sachregister schließt den band ab.

Im Verlauf des Bandes werden an ausgewiesenen Stellen immer wieder sog. Fallgeschichten skizziert, die die dargestellten Sachverhalte illustrieren sollen. Zudem werden in vom Text abgehobenen Kästen wichtige Punkte in Form von Reflexionsfragen oder Checklisten zusammengefasst. Dies dient dem vertieften Verständnis der dargestellten Aspekte und gibt zudem Raum für nützliche Tipps.

Diskussion

Dem Band der Autorinnen Angelika Pollmächer und Hanni Holthaus ist ein engagiertes Vorgehen zu entnehmen. Sie wissen, wovon sie sprechen, sind sie doch einerseits versierte Autorinnen, andererseits eben Mütter von Kindern mit einer Behinderung. Dies können sie voneinander trennen, dennoch ist ein parteinehmender Ratgeber entstanden, der für andere Eltern im Kontext der Fragen um Ablösungsprozesse und das Älterwerden ihrer Kinder sehr nützlich sein kann. Das Ergebnis ist somit ein wirklicher Rat-Geber für ganz konkrete Situationen, die rund um das Thema Älterwerden im Kontext einer sog. geistigen Behinderung auftreten können. Beispielsweise sind ihre Anmerkungen und nützlichen Tipps zum Thema des Betreuungsrechts sehr transparent und praxisnah dargestellt. Viele Praxisbeispiele illustrieren immer wieder die dargestellten Sachverhalte.

Ein kritischer Blick auf die Frage, aus welcher Praxis sich diese Beispiele generieren, sucht der Leser/die Leserin aber vergebens: Hier geht es nicht um die kritische Bestandsaufnahme der Praxis der Behindertenhilfe, sondern um Antworten auf konkrete Fragen im bestehenden System.

Das ist einerseits richtig und notwendig, andererseits zeichnet sich der Band dann aber leider durch die völlige Abstinenz der aktuellen Inklusionsdiskussion aus. Hier wird Vieles eindimensional in den bestehenden Wohn- und Betreuungsstrukturen gedacht, der Begriff der Teilhabe wird völlig unzureichend aufgenommen (vgl. eine lediglich halbe Seite zu diesem Thema auf Seite 57), ähnliches gilt für den Aspekt der Selbstbestimmung (vgl. S. 91). Die Darstellung notwendiger Hilfen im Alter bleiben daher sehr einrichtungsbezogen.

Man hätte sich beispielsweise eine breitere Darstellung von Methoden der Zukunftsplanung vorstellen können, bevor konkrete Hilfen angeboten werden. Dem Aspekt der Beratung fehlt leider eine Differenzierung, denn beispielsweise die Frage einer von den großen Trägern der Behindertenhilfe unabhängiger Beratung wird hier gar nicht erst gestellt.

Im Schlusswort des Bandes findet sich die Einschätzung, dass Diskriminierungen und Ausgrenzungen von Menschen mit einer sog. geistigen Behinderung in unserer Zeit eher die Ausnahme seien (vgl. S. 136). Ohne genauer herzuleiten, wie die Autorinnen zu dieser Einschätzung gelangen, ist hier jedoch erheblicher Zweifel anzumelden: Strukturelle Diskriminierungen sind beispielsweise auch bereits dann bereits gegeben, wenn Eltern für ihre älter werdenden Kinder mit einer sog. geistigen Behinderung keine Wahl zwischen verschiedenen Angeboten der Anbieter der Behindertenhilfe haben. Diese Diskussion wird in dem ansonsten hilfreichen Ratgeber leider versäumt und es bleibt der Eindruck haften, als sei dies auch nicht im tieferen Bewusstsein der Autorinnen.

Fazit

Dem engagierten und detailreichen Ratgeber für Eltern von älter werdenden Menschen mit einer sog. geistigen Behinderung ist eine weite Vorbereitung zu wünschen, denn es gelingt den Autorinnen, die in diesem Kontext auftretenden Fragen praxisnah zu beantworten. Wer eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dieser Thematik sucht, auch unter Bezugnahme auf die Themen Selbstbestimmung im Alter, Teilhabe im Alter und Beratung im Sinne anbieterunabhängiger Vorgehensweise, der sollte unbedingt weitere Literatur heranziehen. Es wäre zu wünschen, dass bei einer evtl. Neuauflage des Buches die aktuelle sozialpolitische Diskussion um die Ausgestaltung der Aufträge, die sich aus der UN-Behindertenrechtskonvention ergeben, deutlicher in den Ratgeber einfließen könnte.

Rezension von
Prof. Dr. Erik Weber
Diplom-Heilpädagoge, Professur Inklusive Bildungsprozesse bei geistiger und mehrfacher Behinderung
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Es gibt 9 Rezensionen von Erik Weber.

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ISSN 2190-9245