Achim Stephan, Sven Walter (Hrsg.): Handbuch Kognitionswissenschaft
Rezensiert von Dr. Thomas Damberger, 22.11.2013
Achim Stephan, Sven Walter (Hrsg.): Handbuch Kognitionswissenschaft. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH (Stuttgart, Weimar) 2013. 582 Seiten. ISBN 978-3-476-02331-5. D: 69,95 EUR, A: 72,00 EUR, CH: 94,00 sFr.
Thema
In aller Regel wird Kognition mit Problemlösen und Intelligenz in Verbindung gebracht. Damit umfasst der Begriff all jene Funktionen, mit deren Hilfe wir uns intelligent verhalten und Probleme angemessen und effizient bearbeiten können (1). Spätestens seit den 1960er Jahren sind aus den ‚cognitive studies’, deren Gegenstand in erster Linie Wahrnehmung, Sprache, Gedächtnis und Problemlösen ist, ‚cognitive sciences’ geworden, die sich zusätzlich explizit mit den Aspekten Motivation und Emotion befassen (2). Zu den Teilgebieten der Kognitionswissenschaft gehören die Linguistik, die Physiologie bzw. Neurowissenschaften, die Psychologie, die KI-Forschung, die Anthropologie und die Philosophie. Das gemeinsame, verbindende Moment dieser sechs (Teil-)Disziplinen besteht in der computational-repräsentationalen Beschreibung geistiger Leistungen (3).
Herausgeber
Achim Stephan, Dr. phil. habil., und Sven Walter, Dr. phil., sind Professoren am Institut für Kognitionswissenschaft der Universität Osnabrück.
Aufbau und Inhalt
Das 582 Seiten umfassende „Handbuch Kognitionswissenschaft“ ist in fünf Teile gegliedert.
Teil 1 befasst sich mit den Ursprüngen und Anfängen der Kognitionswissenschaft. Thomas Sturm und Horst Gundlach stellen zu Beginn Reflexionen über die „Geschichte und Geschichtsschreibung der ‚kognitiven Revolution’“ an. Im Anschluss an begriffliche Vorbemerkungen zur Kognition befassen sich die Autoren mit dem, was in den 1970 Jahren gewissermaßen nachträglich als ‚kognitive Revolution’ Teil des Diskurses wurde. Unter ‚kognitive Revolution’ wird die ab den 1950er Jahren vorherrschende interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Anthropologie, Computerwissenschaft, Informatik, Neurowissenschaft, Psychologie, Philosophie u.a. bezeichnet (7). Die ‚kognitive Revolution’ ist dabei – so die Autoren – keinesfalls mit einer Überwindung des Behaviorismus gleichzusetzen, denn dieser hatte auch in der Psychologie nie die Dominanz und damit auch nicht die Stellung eines ancien régime, das revolutionär hätte überwunden werden müssen (14). Sturm und Gundlach gehen in ihrem historischen Abriss auch auf den Einfluss von Logik, Computertechnik und Informatik ein, dabei heben sie insbesondere die Rolle von informationsverarbeitenden Computern und der sie ermöglichenden wissenschaftlichen Theorien aus den Bereichen Logik und Kybernetik hervor (15). Computer dienen demnach einerseits als theoretisches Modell, dass die Funktion kognitiver Systeme erklärt, andererseits aber auch als methodisches Instrument; können doch mithilfe von Computersimulationen Problemlösungen durchgeführt werden, die als Erklärungshorizont für die Funktionsweise des menschlichen Geistes dienen können (15).
Der zweite Teil widmet sich den Teildisziplinen der Kognitionswissenschaft. Im einzelnen werden hier die Bereiche Anthropologie, Informatik, Linguistik, Neurowissenschaft, Psychologie und Philosophie behandelt. Exemplarisch sei hier auf Gordon Pipas Überlegungen zur theoretischen Neurowissenschaft verwiesen. Ziel der theoretischen Neurowissenschaft ist es „die Funktionen und Mechanismen des Gehirns, der neuronalen Informationsverarbeitung und letztlich der Kognition im Allgemeinen aufzudecken“ (85). Dabei zeichnet sie sich im Unterschied zu anderen Gebieten der Neurowissenschaft in erster Linie durch ihr Streben nach Abstraktion aus. Dadurch ist es möglich, unterschiedliche Modelle zu vereinigen und Synergien herzustellen. Pipa erläutert im Folgenden drei Modelle, mit deren Hilfe es möglich erscheint, die Funktionsweise des Nervensystems und die dort ablaufenden informationsverarbeitenden Prozesse verstehen zu können. Es handelt sich dabei im Einzelnen um beschreibende, mechanistische und interpretative Modelle (85). Mit Blick auf die Zukunft unterstreicht Pipa die zunehmend zentrale Bedeutung der theoretischen Neurowissenschaft. War es doch – so Pipa – in der Vergangenheit gerade die theorieorientierte Forschung in der Physik, Chemie oder Biologie, die zu großen wissenschaftlichen Durchbrüchen geführt habe. Damit sei ihr Stellenwert mindestens zu bedeutsam, wie rein explorative Studien (88).
Dan Zahavi und Ngan-Tram Ho Dac stellen das Feld der Neurophänomenologie vor. Basierend auf der Position des Biologen und Neurowissenschaftlers Francisco Varela geht es der Neurophänomenologie um die „verkörperlichte Natur des menschlichen Geistes im biologischen Organismus“ (139). Zugleich richtet sie sich gegen die vorherrschende Auffassung, die Kognition nahezu ausschließlich als informationsverarbeitenden Prozess versteht. Es geht der Neurophänomenologie damit auch – wenn auch nicht ausschließlich – um das bewusste Erleben des eigenen Denkens, Wahrnehmens, Handelns und Fühlens aus der Ersten-Person-Perspektive. Kognition und Bewusstsein, so eine These Varelas, können damit nicht unabhängig voneinander verstanden werden (139). Die Autoren zeichnen im Folgenden die Überlegungen des französischen Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty nach, ging es ihm doch gerade nicht darum, die Phänomenologie und damit die Erste-Person-Perspektive gegen die naturwissenschaftliche Erforschung bewussten Erlebens aus der Dritten-Person-Perspektive auszuspielen. Seine Überlegungen zielen vielmehr auf einen Dialog mit den empirischen Wissenschaften ab. Damit sucht Merleau-Ponty die Konfrontation, um an der empirischen Wissenschaft die Phänomenologie weiterzuentwickeln (140f.). Am Beispiel einer neurophänomenologischen Leitstudie stellen Zahavi und Ho Dac dar, „wie phänomenologische Methoden direkt in die Forschung miteinbezogen und erstpersonale mit drittpersonalen Daten kombiniert werden können“ (141).
Im dritten Teil des Handbuchs geht es um Strukturen kognitiver Systeme. Tarek R. Besold und Kai-Uwe Kühnberger stellen den Bereich „Konnektionismus, neuronale Netze und parallel distributed processing“ vor. Der Konnektionismus fasst komplexes Verhalten und mentale Prozesse als emergente Prozesse innerhalb von Netzwerken, in denen einfache Teilelemente miteinander in Verbindung stehen (164). Die Autoren zeichnen die historischen Anfänge des Konnektionismus anhand der Theorien und Experimente von Alexander Bain, Edward Thondike, Warren McCulloch und Donald Hebb nach. Insbesondere Hebbs 1949 formulierte Lernregeln, derzufolge sich Zellen, die gemeinsam feuern, miteinander vernetzen, lassen sich unmittelbar auf künstliche neuralen Netze übertragen. Mit Blick auf solche künstliche neurale Netze werden im Besonderen die Feedforwardnetze (165) und die rekurrenten Netze (165ff.) vorgestellt. Ihre Ausführungen lassen Besold und Kühnberger im nach wie vor ungelösten Bindungsproblem kulminieren. Dieses zeichnet sich durch die Frage aus, wie eine sensorische Integration überhaupt möglich ist. Zwei Lesearten dieses Problems werden dabei herausgestellt: 1. Wie genau schafft es das Gehirn, komplexe Umgebungseindrücke in einzelne Elemente aufzuspalten (168). Und 2.: Wie können im Zuge des Wahrnehmens eines Objekts unterschiedliche Sinneseindrücke zu einer holistischen bewussten Wahrnehmung führen (169).
Der vierte Teil thematisiert das Feld der kognitiven Leistungen. Niels Birbaumer und Tamara Matuz beleuchten das Forschungsfeld „Brain-computer-interfaces (BCI) zur Kommunikation und Umweltkontrolle“. Hierbei wird elektronische, magnetische oder metabolische Hirnaktivität genutzt, um Sprachprogramme zu steuern, motorische Prothesen und andere externe Maschinen zur Umweltkontrolle zu nutzen (239). Ein BCI-System besteht dabei aus Komponenten, die in drei Kategorien eingeteilt werden können: Input-, Decodierung- und Outputkomponente. Bei der Inputkomponente geht es um das Erfassen der Gehirnaktivität, dies kann sowohl invasiv – also mithilfe einer direkten Verbindung zum Gehirn stattfindet – als auch nicht-invasiv beispielsweise mithilfe des Elektroenzephalogramms (EEG) geschehen (240). Die Decodierung findet mithilfe von Algorithmen statt. Als Outputkomponenten dienen beispielsweise Prothesen, Rollstühlen Sprachprogramme etc. Birbaumer und Matuz stellen im Folgenden mehrere Möglichkeiten der BCI-Kontrolle vor, beispielsweise die langsamen kortikalen Potenziale, den sensomotorischen Rhythmus oder das häufig zur Kommunikation eingesetzte sog. P300-Potenzial, mit dem es dem Benutzer möglich ist, durch Konzentration einzelne Buchstaben aus einer Buchstabenmatrix auszuwählen (240ff.). Die Autoren verweisen aber auch auf die Möglichkeit der Wiederherstellung motorischer Fähigkeiten z.B. mithilfe von Neuroprothesen. Künstliche Gliedmaßen können so durch Konzentration gesteuert werden. Desweiteren apostrophieren Birbaumer und Matuz verschiedene Möglichkeiten der weiteren Anwendung von BCI-Systemen; genannt sei hier das Steuern eines Internetbrowsers oder das Verwenden einer drahtlosen Fernübertragungstechnologie zur Fernsteuerung eines Roboters (244f.).
Ipke Wachsmuth stellt den Stand der Forschung im Bereich Mensch-Maschine-Interaktion vor. Es handelt sich dabei um ein interdisziplinäres Gebiet, das die Disziplinen Informatik, Medienpsychologie, Kognitionswissenschaft, aber auch die Bereiche Techniksoziologie, KI-Forschung, Design u.a. betrifft. Hauptsächliches Interesse der Mensch-Maschine-Interaktion ist „die Entwicklung von Methoden und konkreten Technologien, die dem Menschen die Nutzung technischen Systeme und die Steuerung komplexer Anwendungen erleichtern“ (361). Wachsmuth richtet sein Augenmerk auf autonome Roboter, aber auch auf sog. embodied conversational agents, also auf technische Systeme, die menschenähnlich konzipiert sind und dem Nutzer eine dialogische Kommunikation mit der Maschine ermöglichen (362f.). Die Agenten können über Eigenschaften verfügen, die man unter Begriffe wie „‚Wissen’‚Überzeugung’, ‚Motivation’“ (363) usw. subsummieren kann. Zusätzlich wird daran gearbeitet, eine bessere Interaktion mit Maschinen zu ermöglichen, indem diese mit einer modellierten Persönlichkeit versehen werden. Interessant sind Wachsmuths Ausführungen zu einer sich verändernden Vorstellung von Technik. Während bisher technische Artefakte – und damit eben auch das computergestützte Werkzeug – in Techniksoziologie und -philosophie als Medien betrachtet wurden, verändert sich mit der Entwicklung der verkörperten Konversation Agenten (möglicherweise) der Mediencharakter. Das einstige Medium scheint zunehmend zu einem Interaktionspartner zu werden. „Damit verschiebt sich [auch] die Sicht, dass Menschen ‚Benutzer’ einer Anwendung sind, zu der einer Sicht von ‚Partnerschaft’ mit künstlichen Agenten. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass diese künstlichen Agenten als fähig betrachtet werden können, in Mensch-Technik-Kooperationen wie autonom handelnde Entitäten die Initiative zu ergreifen“ (364).
Der fünfte und letzte Teil widmet sich den neueren Entwicklungen im Feld der Kognitionswissenschaft. John-Dylan Haynes stellt das Brain reading vor. Dieses zielt darauf ab, die Gedanken einer Person mithilfe von Neuroimagingmessungen der Hirnaktivität zu erfassen (510). Unter „Gedanken“ werden dabei bewusste und unbewusste mentale Zustände verstanden, bspw. Wahrnehmungen, Vorstellungen, Erinnerungen, Emotionen oder Absichten. Hirnaktivitäten werden gemessen, die Daten an einen Mustererkennungsalgorithmus weitergegeben, der anschließend überprüft, ob bestimmte Gedanken vorhanden sind bzw. erkannt werden können (511). Zwar können auf diesem Wege prinzipiell visuelle Wahrnehmungen, bildliche Vorstellungen, Aufmerksamkeit, Erinnerungen, Emotionen etc. decodiert werden, jedoch ist es nicht möglich, „beliebige Gedanken aus der Hirnaktivität beliebiger Personen [zu] dekodieren“ (511). Gründe dafür liegen u.a. in der begrenzten Auflösung gängiger Neuroimagingverfahren und in der hohen Plastizität menschlicher Hirnprozesse, um nur einige wenige zu nennen. Haynes sieht Anwendungsfelder und -möglichkeiten des brain reading im Bereich der Gehirn-Computer-Schnittstellen, Lügendetektoren aber auch im Neuromarketing (512).
Fazit
Das „Handbuch Kognitionswissenschaften“ bietet einen ausgesprochen breiten Überblick über das weite Feld dieses interdisziplinär angelegten Forschungsfelds. In insgesamt 69 Beiträgen, untergliedert in fünf große Teile, werden neben den Strukturen kognitiver Systeme die Perspektiven der hauptsächlichen Teildisziplinen auf die Kognitionswissenschaft vorgestellt. Darunter zählen die Anthropologie, Informatik, Linguistik, Neurowissenschaft, Psychologie und Philosophie. Die einzelnen Beiträge bringen kurz, aber nicht verkürzt das Wesentliche auf den Punkt. Für Kognitionswissenschaftler und an der Kognitionswissenschaft Interessierte ein hilfreiches Nachschlagewerk bietet das Handbuch zugleich eine Einführung in diesen hochaktuellen und überaus spannenden Forschungsbereich.
Rezension von
Dr. Thomas Damberger
Professur für Bildungs- und Erziehungswissenschaften im Kontext der Digitalisierung an der Freien Hochschule Stuttgart
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Es gibt 19 Rezensionen von Thomas Damberger.
Zitiervorschlag
Thomas Damberger. Rezension vom 22.11.2013 zu:
Achim Stephan, Sven Walter (Hrsg.): Handbuch Kognitionswissenschaft. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH
(Stuttgart, Weimar) 2013.
ISBN 978-3-476-02331-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15808.php, Datum des Zugriffs 02.11.2024.
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