Matthias Drilling, Patrick Oehler (Hrsg.): Soziale Arbeit und Stadtentwicklung
Rezensiert von Julia Raspel, Dr. Gaby Reinhard, 17.09.2015
Matthias Drilling, Patrick Oehler (Hrsg.): Soziale Arbeit und Stadtentwicklung. Forschungsperspektiven, Handlungsfelder, Herausforderungen.
Springer VS
(Wiesbaden) 2013.
428 Seiten.
ISBN 978-3-658-01945-7.
D: 49,99 EUR,
A: 51,39 EUR,
CH: 62,50 sFr.
Reihe: Quartiersforschung. Research.
Thema und Entstehungshintergrund
Eine Tagung zum Thema „Soziale Arbeit und Stadtentwicklung“ ist Grundlage der Herausgeber dieses gleichnamigen Sammelbandes, der das Verhältnis von Sozialer Arbeit und Stadtentwicklung fokussiert. Vorgestellt werden unterschiedliche Perspektiven raumbezogener Ansätze, Fallbeispiele insbesondere aus der Schweiz und auch aus Deutschland und es werden Herausforderungen für sozialraumorientierte soziale Arbeit formuliert.
Herausgeber
Dr. Matthias Drilling leitet das Institut Sozialplanung und Stadtentwicklung an der Hochschule für soziale Arbeit in Basel und Patrick Oehler, M. A. Community Development, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter an diesem Institut.
Aufbau und Inhalt
In der Einleitung begeben sich die Herausgeber auf „eine theoriegeschichtliche Spurensuche“ (S.13). Die Tradition der Kooperation von Stadtplanung bzw. Stadtteilentwicklung und Sozialer Arbeit wird im historischen Kontext über die Darstellung der Settlement-Bewegung, die Entwicklung des Community Organizing und die Gemeinwesenarbeit als dritter Methode in der Sozialen Arbeit über die Gemeinwesenarbeit als Arbeitsprinzip bis hin zu Quartiermanagement und sozialräumlichen Ansätzen eingeordnet. Im Anschluss daran werden vier Forschungsperspektiven vorgestellt.
Oelschlägel betont in seinem Beitrag die Notwendigkeit einer Beteiligung Sozialer Arbeit an Stadtentwicklungsprozessen, wollen Städte ihre Ursprungsfunktion der Integration nicht zugunsten einer zunehmenden Segregation verloren geben. Unter Rückgriff auf die langjährige Historie beschreibt er Gemeinwesenarbeit als Beitrag „zur Erweiterung der individuellen und kollektiven Handlungsfähigkeit der Menschen, zur aktiven Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen Leben und zur Verbesserung der Lebensbedingungen in den Stadtteilen“ (S. 51) in einer individualisierenden und entsolidarisierten Gegenwartsgesellschaft. Dabei setzt er sich ein für die Neu-Reflexion und den Einsatz eines traditionellen Begriffs: Parteilichkeit (mit der Stadtteilbevölkerung). Fehren erweitert in seinem Beitrag die parteiliche Perspektive Oelschlägels. Er betont Ressourcen nicht nur der lokalen Bürgerschaft sondern insbesondere der lokalen Institutionen ohne dabei zu vernachlässigen, dass gemeinwesenarbeiterische „Handlungsstrategien nicht im Lokalen stehen bleiben“ (S. 58) können. Um dies zu realisieren stellt er anhand des Essener Quartiermanagementmodells „Sphärenwechsler“ (S. 61) vor, Akteure, die als intermediäre Instanzen agieren, „die mit der zunehmenden Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme sich entwickelnden Sinngrenzen […] überbrücken und so eine Kommunikation zwischen Akteursebenen ermöglichen, die ohne diese Unterstützungsleistung nicht oder nur sehr eingeschränkt interagieren können“ (S. 62).
Fritsche und Wigger beschäftigen sich anhand eines fiktiven Beispiels mit professionellem Selbstverständnis und Erwartungen im Rahmen von Stadtplanungsprozessen. Zu Beginn ihres Beitrags rekonstruieren die Herausgeber Drilling und Oehler den historischen Zusammenhang zwischen Sozialer Arbeit und Stadtentwicklung und diskutieren dann, „welche Themen vonseiten der Sozialen Arbeit mit den Planungsdisziplinen verhandelt werden sollen“ (S. 96), etwa Fragen zu Sozialstruktur oder Beteiligung. Verhandelt wird dann, dass Soziale Arbeit im Rahmen ihrer Beteiligung an Stadtentwicklung sich vor allem ihrer selbst bewusst sein muss. Danach folgen praxisorientierte Beiträge, die sich meist orientiert an konkreten Fallbeispielen (insbesondere aus der Schweiz mit dem Schwerpunkt Basel) mit Handlungsfeldern, Zielgruppen, methodischen Zugängen und auch organisatorischen Fragen auseinandersetzen.
Gutmann/Untner (Quartiermanagement am Beispiel von Salzburg) stellen mit Blick auf die Entwicklung „Neuer“ Quartiere die Aufgaben Sozialer Arbeit heraus (Partizipationsförderung, Lebensweltorientierung, Interessensvermittlung). Auch Back (am Beispiel von Freiburg) hebt mit Blick auf die Wohnraumversorgung die intermediäre Stellung der sozialen Arbeit im Rahmen der Gemeinwesenarbeit bzw. des Quartiermanagements hervor. „Wenn Soziale Arbeit eine Funktion in einem solchen Moderationsprozess hat, dann nicht als Moderator, sondern als VermittlerIn von Interessen“ (S. 159).
Die Analyse und das Zusammenspiel von Partizipationsprozessen und Sozialraumanalysen greifen Kirsch-Soriano da Silva und Stoick (am Beispiel Wien) auf. Um lebensweltliche Perspektiven von Männern und Frauen gleichermaßen in Planungsprozessen zu berücksichtigen ist nach Bizan eine „Gender-Kompetenz“ (S. 181) notwendig (Fallbeispiel Ulm). Wie wichtig es ist, Kinder und Jugendliche an Planungsprozessen zu beteiligen und für sie u.a. öffentliche Erfahrungs- und Gestaltungsräume zu erhalten, zeigen Streuri (Kinderpartizipation) und Fuchs (mobile Jugendarbeit). Dabei werden konkrete Beispiele, methodische Zugänge und Konfliktthemen insbesondere vor dem Hintergrund eines zunehmend verdichteten städtischen Raumes diskutiert (am Beispiel von Basel).
Jos und Wernli stellen im Anschluss daran sehr konkret Aufgaben und Organisation Baseler Stadtteilsekretariate vor. Hier knüpft Rüthimann mit ihrem Beitrag der Quartierkoordination in Zürich an und stellt fachlich-methodische Grundlagen (Fachkonzept Sozialraumorientierung nach Hinte) und konkrete Vorgehensweisen und Handlungsfelder der Quartierkoordination als intermediäre Funktion zwischen Lebenswelt und System vor.
Bei Steiner geht es dann mit Blick auf eine stärke Kooperation zwischen Stadtplanung und Sozialer Arbeit um die Zielgruppe der obdachlosen Menschen (am Beispiel Basel), die in der Stadtteilentwicklung insbesondere gekennzeichnet durch „Verdrängungen, Verschiebungen, Vergessen und Ignorieren der Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt im öffentlichen Raum haben“ (S.245). Die Interessen und die Perspektiven der Verwaltung stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Dössegger (am Beispiel der integralen Stadtteilentwicklung in Basel) verbunden mit der Skizzierung integrierter Organisations- und Arbeitsformen sowie beispielhafter Handlungsfelder. Haab, Luterbach und Heimann (Stadtentwicklung in Basel Nord) prüfen abschließend bei einem durch den Chemiekonzern Novartis initiierten Stadtteilentwicklungsprozss insbesondere „zentrale Projekte dieser Entwicklung auf ihren ideologischen Charakter hin“ (S. 261).
Im Abschnitt „Herausforderungen“ diskutieren Hohenstatt und Becker das Label ‚Recht auf Stadt‘. Hohenstatt legt dar, dass darunter vielschichtige Mobilisierungen und Proteste stattfinden, denen allen jedoch eine grundsätzliche Forderung nach Partizipation inhärent ist. Um „in diese konflikthaften Verhältnisse zu intervenieren“ (S. 238), die mit Stadtentwicklung einhergehen können, sind interdisziplinäre Forschungs- und Handlungsansätze notwendig. Becker schließt mit einer Charakterisierung zentraler Entwicklungen moderner Gesellschaften wie etwa Outsourcing oder Public Private Partnership an und skizziert die Einflüsse auf Soziale Arbeit.
Völter, Herden und Tille stellen mit Blick auf weitere Akteure in Stadtentwicklungsprozessen die „potentielle Ressource“ (S. 307) Hochschule in den Fokus und beleuchten Vorteile und Herausforderung die aus einer Kooperation von Universität (Beispiel Alice Salomon Hochschule Berlin) und umliegendem Stadtteil entstehen können.
Kriese geht in seinem Beitrag der Frage nach, welche Verantwortung Immobilieninvestoren als diejenigen tragen, „die einen großen Einfluss auf die gebaute Umwelt, die soziale Zusammensetzung des städtischen Lebensraums und somit auf das Leben im Quartier haben“ (S. 329).
Das Netzwerk 4057 aus Basel beschreiben Keller und van Vulpen in ihrem Beitrag als Beispiel für die Rolle Sozialer Arbeit im herausfordernden Kontext von Bildungslandschaften.
Mit nachhaltiger Stadtentwicklung beschäftigen sich die letzten drei Beiträge.
Weiss und Blumer widmen sich der „gesellschaftspolitischen Utopie“ (S. 359) des sozial nachhaltigen Bauens und stellen anhand eines eigenen Forschungsprojekts vor, wie sich Nachhaltigkeit und das ‚Soziale‘ in der Planungsphase verankern und aus der vermeintlichen Utopie Wirklichkeit werden lässt.
Die Autor*innengemeinschaft um Martin beschreibt unter dem Dach sozialer Nachhaltigkeit die Erneuerung einer Siedlung in Bern. Dabei macht sie deutlich, was Grundlage einer solchen nachhaltigen Sanierung sein muss – der politische Wille (zu einer partizipativen Stadtteilgestaltung). Soziale Arbeit ist dabei „Fachverständige für soziale Sachverhalte“ (S. 397).
Hongler und Kobi beschäftigen sich abschließend mit Sozialmonitoring von Neubaugebieten in Agglomerationsgemeinden. Am Beispiel von Zürich erläutern sie wie ein begleitendes Monitoring und die partizipative Umfeldgestaltung in dem betreffenden Gebiet kombiniert werden, um so einen Wissenstransfer für andere Gemeinden zu ermöglichen.
Diskussion und Fazit
Der Schwerpunkt des Buches liegt darauf, Soziale Arbeit als aktiven Part von Stadtentwicklung zu diskutieren. Der Sammelband zeichnet sich durch ein heterogenes Autorenfeld (Soziologie, Geografie, Erziehungswissenschaft, Vertreter*innen verschiedener Handlungsfelder) aus und so bildet die Auswahl der Beiträge das sozialarbeiterische Diskussionsfeld ab, das sich nicht nur im Kontext von Stadtentwicklung zwischen parteilich und intermediär aufspannt. Viele Autor*innen heben im Bereich der integrierten Stadtentwicklung jedoch die intermediäre Funktion der sozialen Arbeit positiv hervor. Einprägsam aber manchmal hilflos anmutend ist der von vielen Autor*innen erbrachte Hinweis auf das notwendige reflektorische Moment Sozialer Arbeit, sie muss sich insbesondere ihrer eigenen Position in der Gemengelage um „Stadtentwicklung“ bewusst sein. So fällt letztlich auch die Positionierung der Herausgeber aus, sie habe „immer wieder ihren Gegenstand zu bestimmen, sich ihres Auftrags bewusst zu sein und das dafür angemessene methodische Vorgehen theoriegeleitet zu reflektieren“ (S. 106). Dabei geben einige Beiträge konkrete Hinweise, wie Soziale Arbeit agieren kann, andere bieten ein theoretisches Konstrukt oder machen vertraut mit Figuren wie der Henri Lefebvres und seiner Bedeutung für den Kontext. Darüber hinaus hält der Band auch Zusammenfassungen über städtische Entwicklungen (im globalen Kontext) und erste Einführungen in diesbezüglich zentrale Begrifflichkeiten wie gentrification oder Segregation vor. Vielfältige Beispiele insbesondere aus dem schweizerischen Raum zu strategischen und methodischen Vorgehensweisen, Handlungsfeldern und Fragestellungen in der Praxis runden das vorliegende Buch ab. Nachteilig fallen die mancherorts fehlenden Quellen z.B. zu Sozialraumorientierung auf.
Rezension von
Julia Raspel
M.A., Universität Duisburg-Essen,
Institut für Stadtteilentwicklung,
Sozialraumorientierte Arbeit und Beratung (ISSAB)
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Dr. Gaby Reinhard
Universität Duisburg-Essen
Institut für Stadtteilentwicklung,
Sozialraumorientierte Arbeit und Beratung
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Zitiervorschlag
Julia Raspel, Gaby Reinhard. Rezension vom 17.09.2015 zu:
Matthias Drilling, Patrick Oehler (Hrsg.): Soziale Arbeit und Stadtentwicklung. Forschungsperspektiven, Handlungsfelder, Herausforderungen. Springer VS
(Wiesbaden) 2013.
ISBN 978-3-658-01945-7.
Reihe: Quartiersforschung. Research.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15848.php, Datum des Zugriffs 11.11.2024.
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