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Jürgen Gedinat: Ein Modell von Welt

Rezensiert von Prof. Dr. Joachim Thönnessen, 21.03.2014

Cover Jürgen Gedinat: Ein Modell von Welt ISBN 978-3-86226-215-1

Jürgen Gedinat: Ein Modell von Welt. Unterwegs in der Globalisierung. Centaurus Verlag & Media KG (Freiburg) 2013. 185 Seiten. ISBN 978-3-86226-215-1. D: 19,80 EUR, A: 19,80 EUR, CH: 23,00 sFr.

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Thema

Thema des Buches ist die Macht der Globalisierung und ihre Dynamik. Das Buch bietet „Ansätze zu einem tieferen Verständnis dieser Macht“ (Gedinat, S. 7).

Autor

Jürgen Gedinat, geb. 1952 studierte Romanistik, Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie und promovierte in Philosophie. Er war Dozent am Départment de Philosopie an der Universität Brest und an der École Nationale Supérieure des Télécommunications Brest. An der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Bozen sowie an der International Business School Ljubljana ist er momentan als Dozent tätig. Zudem ist er Wissenschaftlicher Beirat der philosophischen Internetplattform eudia sowie Gründer und Leiter der Initiative Xynion (übernommen aus dem Klappentext des zu besprechenden Buches).

Entstehungshintergrund

Der allgemeine gedankliche Rahmen, in dem sich der Verfasser bewegt, ist geprägt durch eine kritische Einstellung ggü. den heutigen dominanten/dominierenden Formen des Denkens und durch die Suche nach anderen Denkformen. M.a.W.: Vor dem Hintergrund seiner erheblichen philosophischen Kenntnisse setzt sich Gedinat mit unserem Weltverständnis und mit Alternativen zum Handeln in der Welt auseinander (S. 11). Das Buch ist eher auf der Ebene (philosophischen) Verstehens und Denkens angesiedelt.

Aufbau

Es besteht aus insges. elf Artikeln (jeweils ca. 10-20 Seiten stark), einem Namens- und einem Sachregister. Wann genau die Artikel geschrieben wurden, ist aus dem Buch nicht ersichtlich. Insgesamt fasst Gedinat in seiner Veröffentlichung eine Auswahl von zu verschiedenen Anlässen geschriebenen Texten zusammen mit dem Ziel, eine „Philosophie der Globalisierung“ (S. 11) auszuarbeiten.

Ausgewählte Inhalte

Es soll und kann hier nicht der Inhalt aller elf Artikel wiedergegeben werden. Mir gefallen die ersten Artikel am besten, weshalb ich meine inhaltliche Darstellung auf diese drei Artikel fokussieren möchte.

Der erste Artikel heißt „Modellhaft“ und beginnt mit einer spannenden Geschichte über die Notlandung eines Transportflugzeugs in der Sahara, welche auf Robert Aldrichs Film „Der Flug der Phönix“ (1965) basiert. Interessant ist für Gedinat der Moment der Fassungslosigkeit und Bestürzung (der sich in einem „irren Gelächter“ manifestiert), als deutlich wird, dass der Flugzeugkonstrukteur, nach dessen Plänen das beschädigte Flugzeug repariert werden soll, ein Flugzeugkonstrukteur für Modellflugzeuge ist.

Es geht in diesem geschickt eingeleiteten Artikel also um Modelle – Modelle, die Mode, Wissenschaft, Kunst oder Wirtschaft benutzen, um die Wirklichkeit zu verstehen. Gedinat wundert sich zunächst darüber, dass wir dann laut aufschreien, wenn ein Modellflugzeugkonstrukteur ein „richtiges“ Flugzeug reparieren will, es aber in aller Ruhe akzeptieren, wenn die Welt über (immer neue) Modelle gedacht und gesteuert wird.

Er zitiert zunächst Einsteins „Man kann ein Problem nicht mit den gleichen Denkstrukturen lösen, die zu seiner Entstehung beigetragen haben“ (S. 15). Sodann verdeutlicht er, dass sein Vergleich hinkt: „Das Verhältnis zwischen zwei Arten von Flugzeugen ist nämlich wesentlich (kursiv v. Ged.) anders als das, was zwischen einem Wirtschaftsmodell und dem konkret handelnden Alltagsleben besteht“ (ebd.). Diesen Unterschied macht Gedinat im „bodenständigen Gespür“ fest, welches im einen Fall (Verhältnis von Modellflugzeug zu ‚realem‘ Flugzeug) vorhanden und im anderen Fall (Verhältnis zwischen einem Modell der Wirtschaft und der realen Praxis des Handelns) nicht vorhanden ist (ebd.): „Viele wissenschaftliche Modelle und besonders auch die der Betriebs- und Volkswirtschaft, sind gerade keine Gesetze, wie sie etwa die Aerodynamik bzw. die Aerokinetik kennt“ (S. 16).

Obwohl also vieles im (zwischen-) menschlichen Bereich modellhaft verstanden, gemessen und vorhergesagt wird (Gedinat zeigt dies am Beispiel der ‚Berechnung‘ des Konsumentenverhaltens, welches der Planungssicherheit von Unternehmen dient; vgl. S. 16), lassen sich solche dem mentalen Bereich zugehörigen Vorgänge nicht messen. „Was ist dann dieses Mentale, von dem das Kaufverhalten bestimmt wird? Etwas Geistiges, oder etwas Psychisches, vielleicht sogar etwas Seelisches? Das bleibt in solchen Modellen völlig unbestimmt…“ (S. 17). Und etwas weiter: „Viele Modelle, nach denen wir denken und handeln, gehen überall von ursächlichen Zusammenhängen aus“ (S. 18).

Diese und ähnliche Gedanken sind nicht neu. Neu hingegen ist, dass sie von Gedinat mit der Globalisierung in Verbindung gebracht werden und b) – mindestens genauso interessant – weitergedacht werden.

Von Globalisierung wird weiter unten ausführlich die Rede sein, weshalb an dieser Stelle das „Weiterdenken“ erläutert werden soll. Es geht Gedinat diesbezüglich um die Idee, dass es sich beim modellhaften Denken gar nicht um ein kausales Verständnis dreht, sondern um etwas ganz anderes! Gedinat zitiert wiederum Einstein: „Die Mathematik handelt ausschließlich von den Beziehungen der Begriffe zueinander ohne Rücksicht auf deren Bezug zur Erfahrung“ (ebd.). Für Gedinat heißt dies, dass „der Preis, der zu zahlen ist, um etwas Geistiges einer Berechenbarkeit zuzuführen, eben jene Rücksichtslosigkeit ist, die die Mathematik hinsichtlich der Erfahrung an den Tag legt“ (ebd.). Das irre Lachen des Flugnavigators in dem erwähnten Film und die emotionslose Neutralität des Ingenieurs haben damit ein- und denselben Grund: „…die Macht der Welt- und Erfahrungslosigkeit mathematischen Kalküls“ (S. 19).

In der Folge werden in dem Artikel noch viele weitere interessante Gedanken entwickelt (Stichworte: Die mangelnde Bodenhaftigkeit der Globalisierung; Ursachen der gegenwärtigen Krise; falsche Ratschläge für die jüngere Generation).

Der zweite Artikel des Buches heißt schlicht und einfach „Schatten“. In ihm geht es darum, dass wir „falsche Schatten für wahre Wesen“ halten (S. 32) und durch die uns umgebende Welt im Umbruch und den daraus resultierenden Stress immer häufiger in solche „Täuschungssituationen“ gebracht werden.

Zu den Dingen, die uns „geläufig, selbstverständlich und natürlich scheinen“ gehört beispielsweise unser Sicherheitsdenken (S. 33). Um die Sicherung unserer Lebensumstände kümmern sich Polizei, Militär, Gerichte und eine Vielzahl von Versicherungsverträgen. Wir haben offenbar den Wunsch, „Misslichkeiten, Widrigkeiten und Risiken aller Art unbedingt zu vermeiden“ (ebd.).

Vor diesem derartig skizzierten Hintergrund entfaltet Gedinat ein Gedankenmodell rund um die „heutigen konkreten Möglichkeiten eines Zukunftsentwurfs“, wobei er darauf achtet, die „false shadows“ nicht mit „true substances“ (ebd.) zu verwechseln. Konkret stellt er die Frage, ob „sustainable development“ ein Ausweg aus der Krise sein kann, die uns alle betrifft.

Wir stehen unter aktuellem wirtschaftlichem Leistungsdruck sowie unter dem Druck, der Menschheit zukünftige Lebensgrundlagen zu sichern. In einem dritten, „geradezu übermächtigen Druck“ (S. 35), „dominiert der Druck wirtschaftlichen Durchkommens den des Überlebens der Menschheit“ (ebd.). Gedinat fragt: „Wie wollen wir, dermaßen unter Druck, sicher sein, dass wir uns bei all´ unserem globalen Austausch von Waren, Ideen und Kulturen am Ende nicht doch täuschen? Nichts scheint hier mehr gefragt zu sein als Sicherheit“ (ebd.).

Am Beispiel der Herstellung von Trinkwasser entwickelt Gedinat nun seine Sicht der Dinge. Er fasst zusammen: Ökologie geht zusammen mit Nachhaltigkeit und ökonomisch mit real, „mit anderen Worten, das Ökonomische ist das Reale. Nachhaltigkeit, die nicht ökonomisch orientiert ist, ist nicht real, um nicht zu sagen, unrealistisch oder sogar ‚ideologisch‘“ (S.36). Sodann geschieht wieder dieser Akt des Weiterdenkens, i.d.S. des Findens eines größeren Zusammenhangs der Argumentation: Denn damit sich solch´ ein Verständnis von „nachhaltigem Wachstum“ durchsetzt, damit dies überhaupt so sein kann, „braucht es eine Weltsicht“, die sich selber auf lückenloses Planen und konsequentes Einrichten versteht. Dieses Selbstverständnis teilen besonders Ingenieure, Manager und Politiker (S. 37).

Letztlich geht es Gedinat darum, aufzuzeigen, dass wir „den Druck, unter dem die gesamte heutige Welt faktisch steht, nicht verstehen können, solange wir uns dabei wie bisher nur an konkret fassbare Projekte und Maßnahmen halten… Informationen über Sachverhalte führen nicht zu einer Einsicht in (kursiv v. Ged.) deren Grundzüge und Verfassung“ (S. 38).

Und dann geht Gedinat - und das gefällt mir bei ihm ungemein gut – wieder zurück zum Anfang des Artikels, zu den Schatten. Er fragt: „Was also, wenn uns der Druck, unter dem wir stehen, so zusetzt, dass wir nicht nur falsche Schatten nicht von wahren Wesen unterscheiden können, sondern dass unsere Wahrnehmung durch den Druck unempfindlich geworden ist für (kursiv v. Ged.) den Druck?“ (S. 38f). Und wenn das zutreffen würde: Wie sollen wir diese Situation dann überhaupt zur Kenntnis nehmen?

Gedinat entwickelt einen Lösungsvorschlag für diese Misère unter Rückgriff auf Hannah Arendts Überlegungen in ihrem Buch „Vita activa“ und auf G.W. Leibniz (der im Original zitiert wird). Arendt trifft die Unterscheidung zwischen Erkennen und Verstehen. Das berechnende Erkennen, „das die Technisierung der Welt vorantreibt, (begreift) eine Steigerung der Abhängigkeit von seinen Konstrukten als eine Befreiung von den Hemmnissen und Beschränkungen der Natur“ (S. 41). Dieses Denken kann aber nicht zu einem „auslotenden Verständnis seiner selbst“ ebd.) kommen, was genau unser Problem ausmacht.

Der dritte hier zu besprechende Artikel führt die in den beiden ersten Aufsätzen entfalteten Gedanken weiter. Er heißt: „Vom Halt weltweiten Handels“. Zunächst legt Gedinat dar, dass wir uns auf dem Weg der Globalisierung befinden – und dass es dazu keine wirkliche Alternative gibt (S. 49). Wir – das sind in diesem Fall alle, die von der Globalisierung betroffen sind. Also alle: „Technik und Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, Medien und private Existenz kommen zunehmend darin überein, die Globalisierung auf irgendeine Art zu nutzen und zu betreiben. Aus der global ausgerichteten Interessengemeinschaft dieser unterschiedlichen Lebensbereiche ergeben sich jene Beziehungen und Verhältnisse, die unsere heutige, vernetzte Wirklichkeit ausmachen“ (ebd.). Festzumachen ist dabei ein Prinzip der Globalisierung, dass in all´ diesen Lebensbereichen zum Tragen kommt: „…das empirische Überschreiten und Abbauen von Grenzen“ (S. 50), für das „die Informatisierung und Digitalisierung unserer gesamten Existenz, d.h. des Mensch-Seins, ein Anzeichen ist“ (ebd.). Dabei gilt Sustainable Development „offiziell“ als Möglichkeit, die Entgrenzung insbes. in wirtschaftlicher Sicht voranzutreiben ohne ihre Quellen (Rohstoffe, Energien) zu gefährden (S. 53).

Gedinat nimmt nun in seiner weiteren Argumentation Nietzsche zu Hilfe und dessen Gedanken „der dauernde Vorteil ist dem flüchtigen vorzuziehen“ (ebd.). Und nach weiteren Erörterungen führt Gedinat aus: „Daher können wir sagen: Eine Menschheit, die ihren Fortbestand will, muss auf den Gedanken kommen, dass der dauernde Vorteil dem flüchtigen vorzuziehen ist. Hier liegt der Ursprung der Sitte, bzw. des Ethos“ (S. 54). Oder mindestens genauso deutlich: „Nur wo die Verbindlichkeit der Gemeinschaft dem Einzelnen Grenzen für (kursiv v. Ged.) seine Wesensfreiheit setzt, ist Sitte, die an ihr selbst die Fortdauer der Gemeinschaft verbürgt. Der aber entzieht sich flüchtiger Vorteil“ (ebd.).

Als nächstes verdeutlicht Gedinat – verkürzt formuliert – dass der flüchtige Vorteil ein Mittel ist, um die Globalisierung durchzusetzen. Die Steigerung des Nutzens verlangt das „überwältigende Überwinden“, welches darauf aus ist, alles, worauf es bei seinem Vorgehen trifft, „als etwas zu begreifen, das ihm im Wege ist, und das es demzufolge zu entfernen gilt“ (ebd.). Alles, auf was es trifft, wird „in die Flüchtigkeit des reibungslosen Funktionierens“ gedrängt (S. 58).

Vieles mehr müsste hier von den Gedanken Gedinats wiedergegeben werden, doch ist an dieser Stelle der Hinweis angebracht, das Buch unbedingt zu lesen! Wie anschaulich Gedinat dann die Auswirkungen der soeben geschilderten Entwicklungen auf den Einzelnen in seinen/ihren Mikrobeziehungen veranschaulicht (vgl. S. 58), das ist schon wirklich „erste Qualität“.

Diskussion

Am vorangegangenen Satz ist deutlich erkennbar, dass Jürgen Gedinat Buch mir hervorragend gefallen hat. Allerdings meine ich hiermit vor allem die drei ersten Aufsätze. Die übrigen beziehen sich in einem teilweise sehr weit hergeholten Verständnis auf das Thema „Globalisierung“ und lassen doch einiges an Konsistenz, vor allem auch an Bezug zu empirischen Fakten, vermissen. Aber ich bin sicher, es finden sich andere Interessenten (solche mit ausgeprägt philosophischem Interesse z.B. für Leibniz oder für Heidegger) mit größerem Gefallen an diesen Artikeln als ich es habe. Hervorheben möchte ich noch, dass die Umschlaggestaltung mit der Abbildung eines ungewöhnlichen Fortbewegungsmittels aus dem Jahre 1913 ausgesprochen gelungen ist und gut zu dem Inhalt des Buches passt.

Fazit

Ich halte das Buch vor allem wegen der ersten drei Aufsätze für unbedingt empfehlenswert.

Rezension von
Prof. Dr. Joachim Thönnessen
Hochschule Osnabrück, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Studium der Philosophie und Soziologie in Bielefeld, London und Groningen; Promotion in Medizin-Soziologie (Uniklinikum Giessen)
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ISSN 2190-9245