Carsten Dethlefs: Soziale Gerechtigkeit in Deutschland
Rezensiert von Prof. Dr. Dr. habil. Peter Eisenmann, 04.04.2014
Carsten Dethlefs: Soziale Gerechtigkeit in Deutschland. Eine historische Analyse des kontraktualistischen Gerechtigkeitsverständnisses nach John Rawls in der deutschen Wissenschaft und Politik.
Metropolis Verlag
(Weimar bei Marburg) 2013.
459 Seiten.
ISBN 978-3-7316-1025-0.
D: 39,80 EUR,
A: 41,00 EUR,
CH: 52,90 sFr.
Reihe: Hochschulschriften - Band 142.
Thema
Das Buch greift die Frage nach der Mitwirkung von Wissenschaft und Politik bei der Erzeugung von sozialer Gerechtigkeit als Thema auf und will diese unter dem Aspekt einer bisher so – nach Aussage des Autors – noch nicht vorliegenden Untersuchung behandeln. Gemeint ist damit insbesondere eine historische Betrachtungsweise einer eher politikwissenschaftlichen oder rechtshistorischen Disziplin, wenngleich die historische Entwicklung der sozialen Marktwirtschaft den wirtschaftswissenschaftlichen Impetus offenbart.
Autor
Carsten Dethlefs ist aufgrund eines in seiner Kindheit festgestellten Gehirntumors blind; 2004 schloss er sein Fachhochschulstudium als Diplomkaufmann ab, studierte Wirtschaftswissenschaften an der Fernuniversität Hagen, war Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. und promovierte 2011 zum Dr. rer. pol. an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. Main.
Entstehungshintergrund
Das Buch geht auf die an der genannten Universität eingereichte Dissertation zurück, deren offensichtlich erkenntnisleitendes Interesse in der Auseinandersetzung mit dem Denken von John Rawls zu finden ist. Zudem verhehlt der Autor nicht, dass "die Themenwahl auch nicht gänzlich eines persönlichen Hintergrundes" (S.15) entbehrt. So weist er darauf hin, dass er "als Mensch mit einem Handicap … es bisher häufig [habe] erleben müssen, von Politik und Wissenschaft als Objekt der Gerechtigkeit behandelt zu werden" (ebd.).
Aufbau
Das Buch eröffnet mit einem Vorwort, ehe der Autor zunächst mit einer Einleitung, dem sich Vorbemerkungen und eine Darstellung des Forschungsstandes anschließen, in die Thematik einführt.
Das Werk gliedert sich sodann in drei Haupteile auf.
- Der erste Teil liefert eine Einführung in das politisch-philosophische Gedankengut von John Rawls,
- der zweite Teil wendet sich einer historischen Betrachtung des kontraktualistisch-egalitaristischen Gerechtigkeitspostulats in der deutschen Nachkriegsgeschichte zu,
- während der dritte Teil die soziale Gerechtigkeit in Gegenwart und Zukunft zu analysieren unternimmt.
Während der erste Teil lediglich mit zwei Kapiteln untergliedert ist, verfügt der zweite Teil über sieben Hauptkapitel, die wiederum bis zu fünf Unterkapitel aufweisen. Der dritte Teil kennt nur zwei Hauptkapitel mit jeweils zwei Unterkapiteln. Den Abschluss bilden ein Abstrakt, sowie jeweils ein Literatur- und ein Internetquellen-Verzeichnis.
Inhalt
Dethlefs unternimmt es, zunächst die Begrifflichkeit ‚Gerechtigkeit‘ näher zu erläutern, ehe er sein methodologisches Vorgehen beschreibt und auf den aktuellen Forschungsstand eingeht. Im nachfolgenden ersten Teil wendet er sich John Rawls zu, kommt auf dessen Verständnis von Gerechtigkeit als Fairness zu sprechen und versucht ihn in den Gerechtigkeitsdiskurs einzuordnen. Hierbei erkennt er, dass die Rawls’sche Gerechtigkeitstheorie einigen Interpretationsspielraum lässt, wohl als ausgewogen zwischen extremen Positionen, wie sie seiner Meinung nach Friedrich August von Hayek und Martha C. Nussbaum zusammen mit Amartya Sen vertreten, anzusiedeln sei. Gemeint ist insbesondere die Heranziehung der Rawls´schen Gedanken hinsichtlich der Verwirklichung eines Wohlfahrtsstaates, der sich demzufolge sowohl befürworten wie auch widerlegen ließe.
Der zweite Teil der umfangreichen Ausführungen von Dethlefs wendet sich dem kontraktualistisch-egalitaristischen Gerechtigkeitspostulat im Nachkriegsdeutschland zu und stellt im Grunde nichts anderes dar, als die historische Betrachtung der Entwicklung der Sozialstaatsidee innerhalb der Sozialen Marktwirtschaft – angefangen bei Wilhelm Röpke, über Walter Eucken und Müller-Armack bis zu hin Ludwig Erhard. Schließlich misst er deren Ideen an den einem Ordoliberalismus verschriebenen Gerechtigkeitsvorstellungen von John Rawls und stellt fest, dass letztere am ehesten dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft nahe kommen, weil hier die Voraussetzungen für eine gerechte Gesellschaft am eindeutigsten erkennbar seien.
Die weiteren Kapitel stellen lediglich die historische Entwicklung von sozialer Gerechtigkeit im Ablauf der aufeinanderfolgenden Dekaden dar. Hierbei werden jeweils die politischen und ökonomischen Gedankenschwerpunkte herausgegriffen, wie zum Beispiel der sozialliberale Ansatz der siebziger Jahre oder aber die Rahmenbedingungen für die Schaffung von sozialer Gerechtigkeit nach der deutschen Wiedervereinigung; letztlich wird auf die Entwicklungen des beginnenden 21. Jahrhunderts mit der Etablierung von Agenda 2010, Hartz IV oder auf die Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise am Ende der ersten Dekade eingegangen.
Im letzten Teil seiner Ausführungen entfernt sich der Autor von den Entwicklungen in Deutschland und wendet sich übergelagerten Problembereichen, wie etwa den Gegebenheiten aufgrund von Globalisierung und deren Auswirkungen auf das Verständnis von Gerechtigkeit, daraus resultierenden Defiziten und möglichen Lösungsansätzen zu. Dabei kommt wiederum das Denken von John Rawls ins Spiel, indem auf dessen Vertragstheorie rekurriert wird und daraus Lösungsvorschläge abgeleitet werden. Last but not least erscheint es dem Autor unumgänglich auch die Energieversorgung und die Erzeugung von Energie in den Zusammenhang zur Nahrungsmittelproduktion unter dem Gesichtspunkt möglicher defizitärer gerechter Verteilung zu stellen.
Abschließend weist Dethlefs der Wissenschaft bei der Eruierung der Frage nach der sozialen Gerechtigkeit durchaus eine wichtige Rolle zu, wie er dies explizit mit der Einbringung des Gedankenguts von Rawls demonstriert. In gewisser Weise erkennt er hier eine Verflechtung von Wissenschaft und Politik – nicht zuletzt um verträgliche Lösungen bezüglich einer Verwirklichung von sozialer Gerechtigkeit erarbeiten zu können. Ausgehend von den theoretischen Überlegungen des amerikanischen (Sozial)Philosophen Rawls müsste die Wissenschaft laut Dethlefs größtmögliche Objektivität anstreben, soziale Sachverhalte zeitgebunden interpretieren, unabhängig und selbständig agieren, sowie verantwortungsbewusst forschen und publizieren, um schließlich ihren aufklärerischen Charakter bewahren zu können (vgl. S. 434).
Diskussion
Das Buch von Carsten Dethlefs stellt sich als eine in großer Fleißarbeit erstellte Abhandlung zur Entwicklung der sozialen Gerechtigkeit in der Bundesrepublik Deutschland dar. Es übernimmt das theoretische Gedankengebäude von John Rawls als wissenschaftlichen Aufhänger für die Messung von dem, was sich in Deutschland seit 1945 unter dem Leitziel der sozialen Gerechtigkeit entwickelt hat. Dabei zeigt es in ausführlicher Weise zunächst die theoretischen Grundannahmen von Rawls auf, versucht diese auf die jeweiligen Entwicklungsepochen deutend zu transferieren, Rückschlüsse zu ziehen und schließlich kontraktualistische Problemlösungen einerseits und wissenschaftliche Objektivität ganz im Sinne von Rawls andrerseits einzufordern.
Fazit
Das Buch von Dethlefs liefert umfangreiches Material hinsichtlich der historischen Entwicklung von sozialer Gerechtigkeit in Deutschland. Zudem verdeutlicht es den Zusammenhang zwischen dem Entstehen und der Verwirklichung der Idee von der Sozialen Marktwirtschaft im Laufe der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland vor und nach der Wiedervereinigung. Darüber hinaus wird die gesamte Thematik in das Denken von Rawls sowohl eingebettet wie auch daran gemessen.
Die umfangreiche Abhandlung ist stilistisch gelungen, liest sich problemlos (wenn auch mit vielen Druckfehlern versehen) und ist für jeden Studienanfänger aller sozialwissenschaftlichen Fächer wie auch sonstiger an der historischen Entwicklung Deutschlands Interessierter ohne Einschränkung zu empfehlen.
Rezension von
Prof. Dr. Dr. habil. Peter Eisenmann
Professor (em.) für Andragogik, Politikwissenschaft und Philosophie/Ethik an der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt, Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften
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Zitiervorschlag
Peter Eisenmann. Rezension vom 04.04.2014 zu:
Carsten Dethlefs: Soziale Gerechtigkeit in Deutschland. Eine historische Analyse des kontraktualistischen Gerechtigkeitsverständnisses nach John Rawls in der deutschen Wissenschaft und Politik. Metropolis Verlag
(Weimar bei Marburg) 2013.
ISBN 978-3-7316-1025-0.
Reihe: Hochschulschriften - Band 142.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15884.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.
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