Claudia Globisch: Radikaler Antisemitismus
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfram Stender, 25.02.2014

Claudia Globisch: Radikaler Antisemitismus. Inklusions- und Exklusionssemantiken von links und rechts in Deutschland.
Springer VS
(Wiesbaden) 2013.
369 Seiten.
ISBN 978-3-531-17563-8.
39,95 EUR.
Reihe: Research.
Thema
Schon wieder ein Beitrag zur Antisemitismusforschung aus der Werkstatt der Wissenssoziologie! Seit Klaus Holz mit seiner Studie „Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung“ im Jahr 2001 den Anfang machte, hat es gleich eine ganze Reihe von akademischen Qualifikationsarbeiten (u. a. Radvan 2010; Schäuble 2012) mit dieser Forschungsperspektive gegeben. Mit dem Buch von Claudia Globisch liegt nun eine weitere empirische Studie vor, die Antisemitismus als kulturelle Semantik begreift.
Autorin
Claudia Globisch ist Assistenzprofessorin am Institut für Soziologie der Universität Innsbruck. Bei dem Buch handelt es sich um die überarbeitete und aktualisierte Fassung ihrer Doktorarbeit, die 2009 am Institut für Soziologie an der Philosophischen Fakultät und dem Fachbereich Theologie der Universität Erlangen eingereicht wurde.
Aufbau und Inhalt
Systematisch vergleichende Analysen des Antisemitismus in unterschiedlichen politischen Spektren sind rar. Diese Forschungslücke will Globisch schließen, indem sie Texte aus dem neonazistischen und rechtskonservativen sowie aus dem antiimperialistischen und globalisierungskritischen Spektrum „ab der deutsch-deutschen ‚Wende‘ von 1989“ (S. 22) untersucht. Damit will sie zugleich die zuerst von Klaus Holz formulierte These prüfen, dass es sich beim Antisemitismus um eine kulturelle Semantik handelt: „Wenn in beiden Spektren trotz unterschiedlicher Selbstbeschreibungen die gleichen antisemitischen Muster vorkommen, und dies, obwohl die linken Selbstbeschreibungen für sich in Anspruch nehmen, nicht antisemitisch, nicht nationalistisch und antifaschistisch zu argumentieren, dann wäre die These einer generalisierten antisemitischen Semantik tragfähig“ (S. 21).
Im ersten Teil des Buches diskutiert Globisch den Forschungsstand zum Antisemitismus und kritisiert, eng der Holzschen Argumentation folgend, die „kausalen“ und „funktionalen Erklärungsansätze“ in der Antisemitismusforschung, die allesamt den Antisemitismus als eigenständige kulturelle Dimension des Sozialen verfehlten. Um diese zu erfassen, rekurriert die Autorin allerdings – darin von Holz abweichend, der sich auf die Luhmannsche Systemtheorie bezieht – auf den Semantikbegriff der pragmatischen Lebenswelttheorie, weil in ihr der Zusammenhang von Text und Handlungskontext, Antisemitismus und politischem Milieu erhalten bleibe. Gleichwohl beharrt auch Globisch auf der Autonomie der Semantikanalyse: die Struktur wird im Text und nicht im Kontext generiert.
Im zweiten, empirischen Teil der Arbeit orientiert sich Globisch methodologisch an der Objektiven Hermeneutik, wählt also einen rekonstruktiven Forschungszugang und ein sequenzanalytisches Auswertungsverfahren. Sie erprobt dieses in 13 Fallstudien. Die untersuchten Texte aus dem rechten Spektrum sind dem Parteiorgan der NPD, „Deutsche Stimme“, der „National-Zeitung“, „Nation & Europa“, „Junge Freiheit“, dem Neonazi-Fanzine „Fahnenträger“ sowie der Internetseite der NPD entnommen. Insbesondere die Artikel aus dem NPD-Spektrum knüpfen nahtlos an den Vernichtungsantisemitismus der NSDAP an und sind an widerwärtiger, offen menschenverachtender Hetze kaum zu übertreffen. Beispielhaft sei der Text „Geistiger Giftpilz der Gemeinschaftszersetzung“ genannt, in der der NPD-Funktionär Jürgen Gansel Theodor W. Adorno als Feind und Zersetzer des „deutschen Volkes“ hinstellt, dessen „Gift“ bis heute wirke. In allen Texten aus dem rechten Spektrum wird ein jüdisches Kollektiv als Anti-Prinzip zur deutschnationalen „Volkgemeinschaft“ konstruiert.
Für die Untersuchung des linken Antisemitismus entnimmt Globisch Texte aus der Parteizeitung der MLPD, „Rote Fahne“, dem ehemaligen Zentralorgan der FDJ, „Junge Welt“, der trotzkistischen Zeitschrift „Linksruck“, der antiimperialistischen Zeitschrift „So oder So“, dem Attac-Rundbrief „Sand im Getriebe“ sowie der linksautonomen Zeitschrift „radikal“. Typisch für den linken Kontext ist, dass die homogenisierenden und ethnisierenden Kollektivkonstruktionen mit klassentheoretischen und kapitalismusbezogenen Freund-/Feindschemata verknüpft werden. Der Antisemitismus wird in das antiimperialistische Weltbild eingebaut. Er bezieht sich auf Israel und den Zionismus als Ganzes, solidarisiert sich mit dem „palästinensischen“ oder „arabischen Volk“ und unterstellt dem imaginierten jüdischen Täterkollektiv eine besondere Nähe zur feindlichen Klasse, dem Kapitalismus und den zu bekämpfenden Ideologien des Rassismus, Nationalismus und Faschismus.
Als Ergebnis hält Globisch fest, dass in beiden politischen Spektren die Struktur des modernen Antisemitismus, die bereits Holz an Schlüsseltexten aus der Geschichte des Antisemitismus herausgearbeitet hatte, reproduziert wird. Es handele sich dabei um eine spezifische Inklusions- und Exklusionssemantik mit kontextabhängigen Variationen. Rechts wie links wird die „Wir-Gruppe“ als moralisch integrierte Gemeinschaft und essentiell gutes Opferkollektiv konstruiert, die jüdische Fremdgruppe als amoralische Gesellschaft und essentiell böses Täterkollektiv. Während aber im rechten Spektrum die ethnische Differenz zwischen Wir-Gruppe und jüdischer Fremdgruppe explizit benannt wird, muss links die Ethnisierung durch die Verwendung der Termini „Israel“ und „Zionismus“ camoufliert werden.
Der Antisemitismus, so das Fazit, ist also eine generalisierte kulturelle Semantik, die kontextspezifisch variiert: inhaltlich variabel, strukturell identisch – quod erat demonstrandum.
Diskussion
Ich beschränke mich auf zwei Einwände, die beide das Vorhaben einer Wissenssoziologie des Antisemitismus im Allgemeinen betreffen: die Entmaterialisierung des Antisemitismusbegriffs und der Verzicht auf „kausale Theorie“.
Wenn doch der Antisemitismus nur ein Text wäre! Er ist aber eine menschenverachtende und -vernichtende Praxis. Kaum jemand hat dies so klar und deutlich zum Ausdruck gebracht wie Hannah Arendt: „Der Antisemitismus ist genau das, was er zu sein vorgibt: eine tödliche Gefahr für Juden und nichts sonst“ (Arendt 1995, S. 32). Davon – von der sozialen Praxis der Antisemiten, der Indifferenz und Ambivalenz der Mehrheit, den Gewalterfahrungen von Jüdinnen und Juden – bleibt in der wissenssoziologischen Antisemitismusforschung nichts übrig. Die Konzentration auf den Text impliziert die Abstraktion vom Kontext, der gesellschaftlichen Realität und ihren Akteuren. „Der Begriff des Hundes bellt nicht“, dieser Satz von Hegel wurde bereits gegen Holz´ Wissenssoziologie des Antisemitismus vorgebracht; er bleibt weiterhin richtig: „Die Semantik des Antisemitismus tötet nicht“ (Wyrwa 2003). Um den Hass und den Vernichtungswillen der Antisemiten zu begreifen, bedarf es anderer Wege und begrifflicher Mittel, z.B. der psychoanalytischen Sozialpsychologie und der kritischen Gesellschaftstheorie, die bei Globisch – wie schon bei Holz – nur in Travestie vorkommen, als Denken von gestern, als „kausale Theorie“.
Textanalysen, wie sie in diesem Buch mit beachtlicher Präzision und Detailgenauigkeit vorgeführt werden, sind immer spannend zu lesen und für die politische Bildungsarbeit gegen Antisemitismus gut zu gebrauchen. Sie klären über die Struktur antisemitischer Texte auf. Sie klären darüber auf, wie antisemitische Legitimationsmuster in milieuspezifische Weltbilder eingefädelt werden. Der Erkenntniswert dieser Forschung ist unbestritten. Allerdings kann und will sie zur Analyse der gesellschaftsgeschichtlichen Genese des Antisemitismus nichts beitragen und auch nichts zur Analyse der sich verändernden gesellschaftlichen Konstellationen des Antisemitismus. Gegen diese Selbstbeschränkung auf kognitive Sinngebilde wäre auch nichts einzuwenden, ginge der Verzicht auf „kausale Theorie“ nicht mit einer ans Lächerliche grenzenden Verzerrung der kritischen Antisemitismusforschung einher. Dass eine Soziologie des Antisemitismus etwas anderes ist als eine Sozialpsychologie des Antisemiten, wusste bereits Otto Fenichel. Wenn daraus aber auf Seiten der Soziologie ein Totalverzicht auf „kausale Theorie“ abgeleitet und sogar zum wissenschaftlichen Programm erhoben wird, wird der ohnehin grassierenden Theorieverdrossenheit die Absolution erteilt. Für die soziologische Antisemitismusforschung ist dies à la longue ein Desaster. Nach anderthalb Jahrzehnten wissenssoziologischer „Beschreibungen“ antisemitischer Texte ist ihr Neuigkeitswert verbraucht. In dieser Situation könnte es nicht schaden, sich endlich wieder den „Erklärungen“, also der Arbeit an den gesellschaftskritischen, „kausalen“ Theorien des Antisemitismus zuzuwenden.
Fazit
Wer die innere Logik antisemitischer Texte verstehen will, findet in dem Buch von Claudia Globisch scharfsinnig analysierte Kostproben aus dem rechten wie dem linken politischen Spektrum in Deutschland. Wer hingegen die ungebrochene Virulenz des Antisemitismus im 21. Jahrhundert begreifen will, muss ein anderes Buch lesen.
Literatur
- Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (4. Aufl.), Ffm. 1995
- Klaus Holz: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001
- Heike Radvan: Pädagogisches Handeln und Antisemitismus. Eine empirische Studie zu Beobachtungs- und Interventionsformen in der offenen Jugendarbeit, Bad Heilbrunn 2010 (s. auch Rezension in socialnet.de)
- Barbara Schäuble: „Anders als wir“. Differenzkonstruktionen und Alltagsantisemitismus unter Jugendlichen. Anregungen für die politische Bildung, Berlin 2012 (siehe auch Rezension in socialnet.de)
- Ulrich Wyrwa: Rezension zu: Holz, Klaus, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung. Hamburg 2001, in: H-soz-u-Kult, 19.11.2003, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-4-102
Rezension von
Prof. Dr. Wolfram Stender
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