Harald Werner: Wie die Gedanken in die Köpfe der Menschen kommen
Rezensiert von Prof. Dr. Klaus Hansen, 30.04.2014

Harald Werner: Wie die Gedanken in die Köpfe der Menschen kommen. Dialektik und Didaktik der politischen Bildung.
PapyRossa Verlag
(Köln) 2013.
189 Seiten.
ISBN 978-3-89438-534-7.
D: 12,90 EUR,
A: 13,30 EUR,
CH: 17,90 sFr.
Reihe: Neue kleine Bibliothek - 194.
Autor
Harald Werner ist Stahlbauschlosser mit Gesellenbrief und Erziehungswissenschaftler mit Promotion. Respektabler Arbeiteradel! Die außerschulische politische Bildung ist sein Metier. „Beauftragter des Parteivorstands ’Die Linke’ für politische Bildung“, heißt es auf dem rückseitigen Umschlag des Buches. Hört sich nach Apparatschik an. Ist Harald Werner ein Funktionär? Eher ein „Reflexionär“, weil er die Reflexion an die erste Stelle stellt.
Anti-Zeitgeist-Buch
Entgegen aller Bildungs-Propaganda, die von Politik und gesellschaftlichen Interessengruppen vorgetragen wird, verliert „Bildung“ immer mehr an Bedeutung in unserer Gesellschaft. „Der Bürger in der Wissensgesellschaft“, heißt es auf Seite 30, „wird hauptsächlich qualifiziert, ist aber immer weniger gebildet.“
Im Spiegel des zeitgemäßen Jargons der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung liest sich das so: Aus Lehrenden sind „Trainer“ und „Coaches“ geworden; aus Lernenden hat man „Kunden“ gemacht und die „Meetings“ genannten Kurzzeit-Seminare (Wochenend- und Wochen-Kurse sind „out“) finden in einer schönen neuen Lernwelt statt, wo mehrfarbige Mataplankärtchen auf plüschigen Pin-Wänden und lustige Powerpointfolien auf gute Stimmung machen: „Alles schön bunt hier!“ (S. 130) – Dem Autor ist nicht nur der instrumentelle Qualifikationsanspruch, sondern auch das Spaß-Diktat und Freizeit-Image solcher Maßnahmen verdächtig. Er sieht darin eine raffinierte Methode, die Fremdbestimmung in die Eigenregie der Manipulierten zu legen. (vgl. S. 132)
Schule des Souveräns
Das Buch plädiert für eine linke politische Volksbildung, die dialektisch, also in Widersprüchen zu denken lehrt und die Selbst- und Mitbestimmungsfähigkeit der Bürger, also ihre grundgesetzlich zugemutete Souveränität, zum Ziel hat. Diese Art von kritischer politischer Bildung sei heute selbst in Gewerkschaften und linken Parteien rar geworden.
Hintergründe
Der Autor ist ein Deutscher vom Jahrgang 1940. Nationalität und Jahrgang legen nahe, dass er ein in doppelter Hinsicht gebranntes Lern-Kind ist. In der Schule dominierte die defensive Vermeidungsmotivation: Man war aufmerksam und lernwillig, um Negatives abzuwenden, nämlich schlechte Noten und drakonische Strafen. Das prädestinierte von vornherein zu einer frühen Form des Bulimie-Lernens: Noch bevor die Gedanken den Kopf erreicht hatten, wurden sie notenwirksam ausgekotzt.
Als Student und junger Mann in den libertinären endsechziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde man mit überaus lässigen Lehr- und Lernmethoden konfrontiert, die nicht weniger oberflächlich waren als das Bulimie-Lernen: „Übermüdende Referate“ und „perspektivlose Diskussionen, in denen sich ein ausufernden Beitrag an den anderen reihte und sich keiner auf die vorangegangenen bezieht“ (S. 69), ließen wohl das bestimmende Erkenntnisinteresse des Autors heranreifen: „Wie die Gedanken in die Köpfe der Menschen kommen“ – und von dort aus Einfluss auf ihr Verhalten nehmen.
Wie macht man wirksame linke Seminare zur politischen Bildung?
Die Titelfrage des Buches, wie die linken, also kapitalismus- und herrschaftskritischen Gedanken in die Köpfe kommen, ist
- eine philosophische Frage – hier der marxistischen Philosophie;
- eine psychologische Frage – hier der kritischen Psychologie; Klaus Holzkamp ist der meistzitierte Psychologe des Buches;
- eine ästhetische Frage – hier wird die Brechtsche Theaterästhetik wiederholt angerufen, „Lehrstück“ und „Verfremdungs-Effekt“;
- eine didaktische Frage – hier spielen „exemplarisches Lernen“ (in der Tradition von Martin Wagenschein und Oskar Negt) und „Subjektorientierung“ eine Hauptrolle; letztere wird streng abgegrenzt von einer gefallsüchtigen „Teilnehmer-Orientierung“, der es mehr um Spaß und gute Laune, aber nicht um die Selbstermächtigung der Lernenden gehe. Betont wird in diesem Zusammenhang die neurobiologisch nachgewiesene Rolle der „persönlichen Unterweisung“, also des „Zeigens und Vormachens durch eine lehrende Person“, auch, wenn es sein muss, via „Frontalunterricht“, was „weder durch ein Buch noch ein digitales Medium“ ersetzt werden kann. (vgl. S. 61)
Paradoxologie
Wenn ich mit beiden Beinen auf festem Grund stehe und ihre Bewegungen am Firmament beobachte, muss ich den Eindruck gewinnen, die Sonne drehe sich um die Erde. Wenn ich lese, dass Wasser aus zwei leicht entflammbaren Gasen besteht, muss ich der Feuerwehr abraten, es einzusetzen. – Ein großer Gewinn dieses Buches ist die ständige Warnung vor der Verblendung durch bloße Anschauung. Maitre-Penseur Marx: „Wissenschaftliche Wahrheit ist immer paradox vom Standpunkt der alltäglichen Erfahrung, die nur den täuschenden Schein der Dinge wahrnimmt.“ (zit. n. S. 118) Gute politische Bildung ist in diesem Sinne immer auch Arbeit an der Ent-Täuschung.
Fazit
Der Autor warnt die politische Bildung vor Trendyness und willfähriger Anpassung an den Zeitgeist. Damit die Gedanken in die Köpfe kommen, bedürfen sie der sprachlichen und leibhaftig-sprecherischen Vermittlung durch stoffsichere und dialektisch versierte Personen aus Fleisch und Blut. Die Seminar-Mode, diese Leistung Bildern zu überlassen – Fotos, Folien, Filmen – lehnt er kategorisch ab: „Denken ist immer noch etwas, das aus Sprechen entsteht.“ (S. 151)
Für alle, die bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung arbeiten, ist das Buch ein Muss. Für alle, die bei der Friedrich-Ebert-Stiftung arbeiten, ist das Buch ein Geschenk. Wer bei Adenauer-, Naumann- und Seidel-Stiftung arbeitet, könnte sich, sofern man den linken Autor für satisfaktionsfähig hält, an dem Buch „abarbeiten“.
Rezension von
Prof. Dr. Klaus Hansen
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Zitiervorschlag
Klaus Hansen. Rezension vom 30.04.2014 zu:
Harald Werner: Wie die Gedanken in die Köpfe der Menschen kommen. Dialektik und Didaktik der politischen Bildung. PapyRossa Verlag
(Köln) 2013.
ISBN 978-3-89438-534-7.
Reihe: Neue kleine Bibliothek - 194.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15898.php, Datum des Zugriffs 22.03.2023.
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