Silke Birgitta Gahleitner, Karl Wahlen et al. (Hrsg.): Biopsychosoziale Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe
Rezensiert von Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner, 06.06.2014

Silke Birgitta Gahleitner, Karl Wahlen, Oliver Bilke-Hentsch, Dorothee Hillenbrand (Hrsg.): Biopsychosoziale Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe. Interprofessionelle und interdisziplinäre Perspektiven. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2013. 250 Seiten. ISBN 978-3-17-022487-2. 39,90 EUR.
Herausgeberinnen und Herausgeber
- Silke Birgitta Gahleitner, Dr. phil., ist Professorin für Klinische Psychologie und Sozialarbeit mit dem Schwerpunkt Psychotherapie und Beratung an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin sowie Professorin für Integrative Therapie und Psychosoziale Interventionen im Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit der Donau-Universität Krems
- Karl Wahlen, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, hat die langjährige Leitung eines Fachbereichs Psychosoziale Dienste.
- Oliver Bilke-Hentsch, Dr. med., MBA, Kinder- und Jugendpsychiater, ist Chefarzt der Modellstation SOMOSA Winterthur.
- Dorothee Hillenbrand, Dipl.-Psych., ist Psychologische Psychotherapeutin und Supervisorin.
Thema
Für effiziente und gelingende Jugendhilfemaßnahmen ist eine gezielte Diagnostik unabdingbar. Deshalb wächst das Interesse an systemübergreifender Diagnostik. Welche Hilfen, welche Interventionen unter welchen Umständen gut und richtig sind, muss in Hilfeplanungsprozessen beantwortet werden. Dazu will das Buch einen Beitrag leisten.
Aufbau und Inhalt
Im ersten Teil des Buches werden interdisziplinäre und interprofessionelle Aspekte Biosozialer Diagnostik vorgestellt und diskutiert. Es werden Sichtweisen von verschiedenen Professionen beleuchtet und deren Beiträge pointiert heraus gearbeitet: die Perspektive der Sozialen Arbeit (Gahleitner), der Psychologie (Wahlen), der Medizin (Bilke-Hentsch) und des Jugendamtes (Wahlen). Daraus leitet sich die Notwendigkeit einer interprofessionellen Kooperation in Diagnostikprozessen der Kinder – und Jugendhilfe ab, die aber meist nicht befriedigend institutionalisiert ist.
Im zweiten Teil werden kategoriale, biografie- und lebensweltorientierte Zugänge zur Diagnostik im Kinder- und Jugendbereich jeweils vorgestellt. Anhand der Verschlüsselung der Diagnosen nach ICD-10 werden die Bedeutung, die Notwendigkeit und die Grenzen einer klassifizierenden Diagnostik erarbeitet (Hennicke). Abgeleitet von diesem amtlichen zertifizierten Klassifikationssystem werden anschließend die sechs Achsen des multiaxialen Klassifikationsschemas für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters (MAS) besprochen, die weite Verbreitung gefunden haben (Hennicke).
Relativ neu in der Diskussion ist die internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen (ICF-CY). Die Bedeutung dieses Systems für den interdisziplinären Dialog wird mit einem für die Praxis konstruierten Einschätzbogen vorgestellt (Mohn-Kästle und Amorosa).
Aus der Sichtweise einer tiefenpsychologisch und psychodynamisch orientierten Theorie entstand die operationalisiert psychodynamische Diagnostik im Kindes- und Jugendalter (OPD-KJ). Sie erlaubt eine multimodale Therapieplanung und die Dokumentation der Fortschritte; Grundstruktur und eine exemplarische Fallvignette werden vorgestellt (Bilke-Hentsch, von Wyl und Weissensteiner).
Die nächsten beiden Kapitel besprechen im Rahmen einer sozialpädagogischen Diagnose Aspekte der Einzelfallhilfe, wie Hilfen zielgenauer angeboten werden können und wie der Hilfebedarf festgestellt werden kann. Beide vorgestellten Instrumente erfassen nicht nur individuelle Faktoren des Kindes, sondern auch Risiken und Ressourcen der Erziehungssituation der Eltern (Multiaxialen Diagnosesystem Jugendhilfe (MAD-J), Wahlen und Jacob; Sozialpädagogische Diagnose-Tabellen, Hillmeier und Britze).
Eine andere Vorgehensweise stellt Völter in den Mittelpunkt ihres Beitrages: Biografieorientiertes Verstehen und Verständigen als ganzheitlich, lebensweltlich und dialogisch orientierte Fallarbeit.
Die nächsten beiden Kapitel richten den Blick in die Schweiz. Schröder, Jenkel und Schmid stellen EQUALS (Ergebnisorientierte Qualitätssicherung in sozialpädagogischen Einrichtungen), ein teilstandardisiertes Instrument zur interdisziplinären Zielvereinbarung und Unterstützung des Hilfeplanverfahrens vor und veranschaulichen die Anwendung an einem Fallbeispiel. Das Verfahren ist computerbasiert genauso wie das Verfahren zur Diagnostik zur Erfassung der Lebenswelt und Lebensfeld (Pantucek).
Eine multimodale Fallerfassung und Hilfestellung bei der Interventionsplanung leistet das Störungsübergreifende Diagnostik-System für die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (SDS-KJ) (Borg-Laufs). Die funktionale Verhaltensanalyse orientiert sich am SORCK-Modell; es werden aber auch weitere Bereiche (z.B. System, Beziehungen, Ressourcen) erfasst.
Baumann und Epple thematisieren die immer noch diskutierte Frage einer systemischen Diagnostik. Sie bezeichnen das Verhältnis zwischen systemisch und Diagnostik als keine Liebeshochzeit, aber eine Vernunftehe mit Entwicklungspotenzial. Sie beschreiben die Grundhaltungen und charakterisieren systemische Diagnostik auf drei Ebenen (Individuum, Hilfesystem, Beratungsprozess).
Im letzten Kapitel dieses Teils wird nochmal ein diagnostikrelevanter Teilaspekt dargestellt: die sonderpädagogische Diagnostik als Teil des Beratungsauftrags von Klinikschulen. In der Beispielschule (Berliner Schule in der Charité) sind die Mehrzahl der unterrichteten Kinder Patienten der Kinder- und Jugendpsychiatrie (Vogler und Vierock).
Abschließend wird in einem eigenen Teil der Vorschlag für ein biopsychosoziales Rahmenverbund-Modell unterbreitet (Gahleitner und Homfeldt). Es umfasst mehrere Schritte, von der ersten Suchrichtung und interprofessionellen Verständigung über die Erfassung der sozialen Komplexität des Falls (Fallverstehen und biografische Kontextualisierung) zu Strukturierungsvorschlägen für die Hilfeplanung.
Diskussion
Das Buch entstand durch die Anregungen aus einem Diskussionsforum in den Jahren 2009 bis 2011 in Berlin, in dem ein kollegialer Austausch über Disziplingrenzen hinweg erfolgte.
Im ersten Teil des Buches werden die Belange der unterschiedlichen Disziplinen sowie deren jeweiliger Beitrag zu einem Ganzen deutlich, aber auch die Notwendigkeit und das Bedürfnis vieler Fachleute nach einer intensiveren Zusammenarbeit. Dazu braucht es das Verständnis der anderen Disziplinen und einen Austausch auf Augenhöhe.
Am Anfang jeder Hilfe steht die Diagnostik, die als Prozess den gesamten Hilfeweg begleitet und evaluiert. Diagnostik ist zu Unrecht (manchmal noch) ein Unwort in der Arbeit des Jugendamtes (auch dies wird deutlich); es ist ein Beitrag zur Qualitätssicherung.
Die vielfältigen Ansätze der Diagnostik und seine Dokumentationssysteme werden im zweiten Teil deutlich, aktuelle und zukunftsweisende Konzepte sowie erprobte Diagnostikmodelle werden aufgezeigt. Der abschließende Teil bekräftigt, diese auch zu nutzen. Der Herausgeberkreis und mit ihnen die Autorinnen und Autoren werden dem Anspruch gerecht, einen aktuellen Überblick zu geben und zu neuen fachlichen Perspektiven und Verfahrensweisen anzuregen.
Fazit
Ein Buch, das zur Qualitätssicherung in der Kinder- und Jugendhilfe beiträgt. Es bietet viel Wissenswertes.
Rezension von
Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner
ehem. Leiter der Interdisziplinären Frühförderstellen in Dorfen, Erding und Markt Schwaben im Einrichtungsverbund Steinhöring
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