Matthias Kaufmann: Kein Recht auf Faulheit
Rezensiert von Prof. Dr. Christian Brütt, 13.02.2014
Matthias Kaufmann: Kein Recht auf Faulheit. Das Bild von Erwerbslosen in der Debatte um die Hartz-Reformen.
Springer VS
(Wiesbaden) 2013.
333 Seiten.
ISBN 978-3-658-02084-2.
D: 39,99 EUR,
A: 41,11 EUR,
CH: 50,00 sFr.
Reihe: Theorie und Praxis der Diskursforschung.
Thema
Matthias Kaufmann (Verf.) analysiert anhand veröffentlichter Debattenbeiträge die diskursive Vorbereitung der Hartz-Gesetzgebung und der Agenda 2010 während der ersten rot-grünen Legislaturperiode in den Jahren 1998 bis 2002. Im Mittelpunkt steht dabei das Bild, das seitens der SPD von Erwerbslosen gezeichnet worden war. Um diese rekonstruieren zu können, hat Verf. 4600 Zeitungsartikel „vornehmlich gemäß den Vorlieben der Bundestagsabgeordneten“ (S. 60) aus Bild, Der Spiegel, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau gesichtet, von denen er 1700 genauer analysiert hat.
Autor
Matthias Kaufmann ist Redakteur bei Spiegel-Online im Ressort KarriereSpiegel.
Entstehungshintergrund
Die vorliegende Arbeit ist eine Dissertation an der Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie der Universität Leipzig. Der Verf. wurde von der Friedrich-Ebert-Stiftung gefördert.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist zwischen einleitenden ersten Kapitel und Fazit in vier Hauptkapitel gegliedert.
Im einleitenden ersten Kapitel entwirft Verf. zwei Thesen: Mit der ersten trifft er einer Aussage zur Neuorientierung der SPD, indem er davon ausgeht, dass die diskriminierenden Tendenzen gegenüber Arbeitslosen in einem Zusammenhang mit einem „veränderten Solidaritätsverständnis“ der Partei stehen könnten. Die zweite These umfasst eine Aussage zur Debattenstrategie der SPD, die auch als TINA-Formel („There is no alternative“) bekannt ist: Die diskriminierenden Äußerungen der SPD zu Erwerbslosen hätten demzufolge dazu gedient, die Hartz-Gesetze als alternativlose Reform darzustellen.
Das zweite und zugleich erste Hauptkapitel umfasst als „Grundlagen der Untersuchung“ Ausführungen zum Verhältnis von Politik und Medien sowie zur Methode der Untersuchung. Zunächst erläutert Verf. die grundsätzlichen Interdependenzen von Politik und Medien. In der Mediendemokratie fungierten Medien nicht nur als Grundlage der Meinungsbildung in der Bevölkerung, sondern gleichsam auch als Grundlage für die Politik, um sich ein Bild von den vermeintlich vorherrschenden Mehrheitsmeinungen zu machen. So beobachten die Medien die Politik, und die Politik beobachtet die Medien. Auf dieser Basis wechselseitiger Beobachtung, aber auch wechselseitigen Angewiesen Seins entsteht nicht nur eine strukturelle, sondern auch eine persönliche Nähe. Diese Interdependenz von Medien und Politik führe zu einem „politisch-medialen Elitenzirkel“ (S. 42), in dem sich der „wesentliche Teil der politischen Debatte“ abspiele (S. 48). Die „Debattenanalyse“ als „Verbindung der beiden Ansätze von Diskursanalyse und Wissenspolitologie“ (S. 55) führt Verf. ein, um die Wirkungen und Funktionen einzelner Äußerungen in der Debatte um Arbeitslose zu untersuchen. Es geht also nicht so sehr um Verständlichkeit, Wahrheit, normative Richtigkeit des Gesagten oder Wahrhaftigkeit der Sprecher_innen, sondern um eine Analyse eines politischen Deutungskampfes. Den dabei in Anschlag gebrachten Begriff des „Wissensmarktes“ übernimmt Verf. dem Ansatz der Wissenspolitologie nach Frank Nullmeier und Friedbert W. Rüb. Dabei betont Verf. jedoch nicht so sehr den idealen Markt, sondern eher die Formen seines Versagen, insbesondere im Falle der Marktschließung.
Im dritten Kapitel stellt Kaufmann die Grundzüge des deutschen Sozialstaats, die Entwicklung und die Kritik des Politikfelds Arbeit sowie ausgehend und in Abkehr vom Berliner Grundsatzprogramm 1989 die Entwicklung des Menschenbildes der SPD und ihre arbeitsmarktpolitische Neuausrichtung in Richtung „Dritter Weg“ und „Neue Mitte“ dar.
Zehn Debattenstränge rekonstruiert Verf. im vierten Kapitel, darunter das weit bekannt gewordene Schröder-Diktum „Es gibt kein Recht auf Faulheit“. Es sind zum einen jene Debattenstränge, die entweder auf das Fehlverhalten der Erwerbslosen (Faulheit, Schwarzarbeit) oder die Fehlanreize des Sozialleistungssystems (Lohnabstand, Zielgenauigkeit der Leistungen) zielen und zum anderen jene Debattenstränge, die ausgehend von der Problemdefinition Fehlverhalten/Fehlanreize vermeintlich adäquate Lösungsvorschläge präsentieren (Fördern und Fordern, workfare-Politik der USA als Vorbild). Kaufman zeichnet nach, wie alternative Debattenbeiträge kaum wahrgenommen, also ausgeschlossen werden und folgert: „Der Wissensmarkt ist geschlossen“ (S. 290). Verf. schlussfolgert: „Erwerblose sind das Ziel deutlicher direkter wie indirekter Diskriminierung, deren Absender auch und nicht zuletzt sozialdemokratische Politiker sind.“ (S. 290) Verf. sieht darin eine Abkehr vom sozialdemokratischen Solidaritätsbegriff, wie er noch im Berliner Grundsatzprogramm von 1989 verankert gewesen sei.
In der Auswertung im fünften Kapitel hebt Verf. insbesondere drei Auslassungen hervor, die die Debatte prägte: erstens die Nicht-Thematisierung des Mindestlohns; zweitens die Konzentration auf mikroökonomische Aspekte bei Ausblendung volkswirtschaftlicher Entwicklungen; drittens die Auswirkungen des zunehmenden Drucks auf Erwerbslose auch auf Erwerbstätige.
Im abschließenden sechsten Kapitel beton Kaufmann, dass die von ihm festgestellte Schließung des Wissensmarktes und die damit einhergehende vermeintliche Alternativlosigkeit der Hartz-Gesetze nur durch die wirkungsmächtige Diskriminierung der Erwerbslosen zu erklären sei. In einem Ausblick bewertet Kaufmann die Folgen dieser Debattenpolitik: „Damit hat die SPD die Ungleichheit im Land verstärkt.“ (S. 314) Und auch heute noch sei eine Besinnung kaum feststellar: „Es scheint, als fiele es vielen Vertretern der SPD schwer, sich von den Hartz-Debatten auch nur teilweise zu lösen und argumentative Korrekturen vorzunehmen.“ (S. 315)
Diskussion
Was ist neu gewesen an der neuen Sozialdemokratie und ihrer Kritik an den Fehlanreizen des Sozialstaats und dem Fehlverhalten der vermeintlich faulen Erwerbslosen? Das Arbeitsprimat ist keine Erfindung der Schröder-SPD. So stellte bereits August Bebel, einer der Gründerväter der SPD, in „Die Frau und der Sozialismus“ apodiktisch fest: „Der Sozialismus stimmt mit der Bibel darin überein, wenn diese sagt: Wer nicht arbeitet soll auch nicht essen“ (Bebel 1974 [1879]: 414). Das ist inhaltlich der politischen Maxime zur Hartz-Gesetzgebung gleichbedeutend, die der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder formulierte: „Es gibt kein Recht auf Faulheit“ (Bild, 26.04.2001) Bebel folgte der Bibel, Schröder folgte aber nicht Bebel: Denn der wesentliche Unterschied besteht in der Qualität der Beschäftigungsverhältnisse und der Arbeit selbst. Bebel hatte diesen Qualitätsaspekt noch deutlich benannt. Bis zur aktivierenden Wende waren Qualitätsansprüche an Beschäftigungsverhältnisse und Inhalte der Arbeit im Arbeitsförderungsgesetz maßgeblich. In Bebels Worten: „Aber die Arbeit soll auch nützliche, produktive Tätigkeit sein. […] Ohne Arbeit kein Genuß, keine Arbeit ohne Genuß“ (August Bebel: Die Frau und der Sozialismus, Berlin: Dietz 1974 [1879]: 414, Herv. i.O). Das ist deutlich etwas anderes als die Aktivierungslogik nach dem Muster „Jede Arbeit ist besser als keine“. Auch die Sozialstaatskritik im Zeichen des „aktivierenden Staates“ hat weit zurückreichende Vorläufer. Bereits Joseph Townsend, der die meisten Ideen des bis heute weithin bekannteren Robert Malthus vorweggenommen hatte, formulierte vor knapp 230 Jahren in seiner Schrift „Über die Armengesetze“ (1786) die bis heute wirkmächtige und unter Sozialdemokratie der Neuen Mitte aufpolierte Hintergrundannahme der Armutspolitik: „Wo man Brot ohne Last und Mühe erwerben kann, führt der Weg über Müßiggang und Faulheit zur Armut, das zeigt sich überall.“ Malthus (1766-1820) formulierte das angeblich Sozialstaatsversagen in deutlichen Worten: „Man kann deshalb sagen, die Armengesetze bringen in einem gewissen Ausmaß die Armen, die sie unterhalten, selbst hervor.“ (Das Bevölkerungsgesetz, 1789: 45) Der Sozialstaat, also vermeintlich zu generöse Leistungen, mache die Menschen passiv. Wenn Passivität als Problem definiert wird, scheint „Aktivierung“ eine angemessene Antwort zu sein. Doch die Bündelung der Programmatik in dem Leitbild des „aktivierenden Staates“, das Rot-Grün 1998 ihrem Regierungshandeln allgemein und auch der konkrete Sozialpolitik zugrunde gelegt hatte, erwähnt Verf. nicht mit einem Wort. Das ist insofern erstaunlich, als dass mit der neuen Aktivierung zugleich die alte Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik als „passiv“ und „passiv machend“ nicht nur denunziert, sondern auch als eine Ursache der Arbeitslosigkeit behauptet worden war.
Die Debatte kreist also seit Jahrhunderten um die Frage der Fehlanreize des Systems und des Fehlverhaltens der Betroffenen. Was ebenso lange außen vor gelassen wird, ist die Frage nach dem Fatalismus, also die sich bei Betroffenen aus der Situation heraus aufbauende Erfahrung ihrer Handlungsohnmacht in Bezug auf die vorherrschende Norm erwerbszentrierter Lebensführung. Kaufmann deutet diese fehlende Perspektive an, indem er darauf hinweist, dass in der gesamten Debatte die Betroffenen oder Advokator_innen ihrer Position kaum gehört wurden. Ergänzend zu Kaufmanns Studie sei deshalb auf die Studie von Klaus Dörre / Karin Scherschel / Melanie Booth / Tine Haubner / Kai Marquardsen / Karen Schierhorn unter Mitarbeit von Marcel Müller: Bewährungsproben für die Unterschicht? Soziale Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik, Reihe International Labour Studies, Band 3, Frankfurt/New York: Campus 2013, ISBN 978-3-593-39797-9, 29,90 Euro verwiesen, die genau diese Perspektive hereinholen und die Erwerbsorientierung und die Bewältigungsstrategien der Betroffenen erforschen, indem sie die Betroffenen selbst fragen.
Fazit
Eine Aussage ist immer wieder zu betonen: „Debatte ist Deutungskampf“ (S. 55). Und der Deutungskampf beginnt nicht bei der Auswahl der Lösungsansätze, sondern bei Definition der Probleme. Die Stärke des Buches liegt nicht in der theoretischen Reflexion des Forschungsansatzes oder des Sozialstaats. Die Stärke des Buches liegt eindeutig im empirischen Teil. Dort werden wesentliche Stränge der Debatte, die im Vorfeld der Hartz-Gesetzgebung und der Agenda 2010 stattfand, anschaulich dargestellt. Gerade weil auch heute die Politik gerne die Alternativlosigkeit ihres Vorgehens betont, ist die Analyse Kaufmanns über das konkrete Fallbeispiel hinaus lehrreich.
Rezension von
Prof. Dr. Christian Brütt
Professor an der Hochschule Darmstadt, FB Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit
Website
Es gibt 4 Rezensionen von Christian Brütt.
Zitiervorschlag
Christian Brütt. Rezension vom 13.02.2014 zu:
Matthias Kaufmann: Kein Recht auf Faulheit. Das Bild von Erwerbslosen in der Debatte um die Hartz-Reformen. Springer VS
(Wiesbaden) 2013.
ISBN 978-3-658-02084-2.
Reihe: Theorie und Praxis der Diskursforschung.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15913.php, Datum des Zugriffs 14.01.2025.
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