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Sabine Schöneich: Schwierige Schüler?

Rezensiert von Prof. Dr. Uwe Rabe, 16.06.2014

Cover Sabine Schöneich: Schwierige Schüler? ISBN 978-3-407-62897-8

Sabine Schöneich: Schwierige Schüler? Wie Lehrer und Schüler besser zusammenarbeiten. Beltz Verlag (Weinheim, Basel) 2013. 192 Seiten. ISBN 978-3-407-62897-8.
Reihe: Basis-Bibliothek für Lehrer. Pädagogik - Unterricht.

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Thema

Seit es Schüler gibt klagen die Lehrer. Dieser Satz von Werner Spies (Schulpraxis 2/1987) galt damals für die 2000 Jahre davor und gilt auch für die knapp 30 Jahre danach: Lehrer beklagen sich. Oftmals lautet die Klagekurzformel: Schüler sind schwierig. Genau. Oder vielleicht doch nicht? Was ist, wenn man die schwierigen Schüler (SuS) in Frage stellt: Schwierige Schüler? Das tut Sabine Schöneich.

Autorin

Die Autorin ist ausgebildete Lehrerin und außerdem verfügt sie über Zusatzqualifikationen zur individualpsychologischen Beraterin und zur Supervisorin. Sie arbeitet in Hamburg, sowohl als Lehrerin als auch als Coach am dortigen Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung.

Entstehungshintergrund

Das Buch ist die neu ausgestattete Sonderausgabe des Titels ‚Schwierige Schüler?‘ von 2011 und ist 2013 als Teil einer Reihe ‚Basis-Bibliothek für Lehrer‘ wiederum bei Beltz in einem dekorativen Schuber erschienen. Zielgruppen sind vor allem Berufsanfängerinnen und -anfänger. Die anderen Titel dieser sechsbändigen Reihe sind:

  • Birte Friedrichs: Praxisbuch Klassenrat;
  • Thorsten Bohl/Diemut Kucharz: Offener Unterricht heute;
  • Vera Kaltwasser: Persönlichkeit und Präsenz;
  • Jochen Grell/Monika Grell: Unterrichtsrezepte;
  • Sabine Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen.

Aufbau

Nach einem Vorwort unterteilt die Autorin den zur Rezension anstehenden Band in zwei Teile, die jeweils zwischen 80 und 90 Seiten Text umfassen.

Im ersten Teil will die Autorin bei ihren an Fallbeispielen orientierten Überlegungen die Grundlagen der Individualpsychologie vermitteln; im zweiten Teil will sie eher für spezifische Themen Hilfestellungen anzeigen – nicht nur für Schülerinnen und Schüler, sondern auch für Eltern und für Lehrerinnen und Lehrer (LuL).

Vorwort

Die Autorin erläutert auf etwas mehr als einer Seite mit ersten Hinweisen ihre Arbeitsweise, die sie in den beiden Teilen des Buches dokumentiert. Sie beschreibt Unterrichtssituationen aus der Perspektive der Individualpsychologin, die mit ihrer am Verstehen orientierten Sichtweise eine Hilfestellung im pädagogischen (Schul-)Alltag bieten will: Geschrieben ist es für LuL; erreicht werden sollen Lehrer und Schüler – und auch Eltern.

Erster Teil

Der erste Teil ist in zehn Abschnitte unterteilt, deren Überschriften zumeist Satzellipsen oder Handlungsaufforderungen sind; sie lassen die Foken der Individualpsychologie erkennen und umreißen den jeweiligen Inhalt knapp, z.B. ‚Ballast über Bord werfen‘ oder ‚Mutlosigkeit erkennen‘. Der Autorin geht es nach eigenem Bekunden nicht um die Darstellung allgemeiner Erziehungsmethoden, sondern um die Erläuterung jeweils einzelner individualpsychologischer Methoden und Interventionsverfahren für den Umgang mit (einzelnen) Schülern. Diese Methoden leitet sie aus der Theorie vor allem des österreichisch-amerikanischen Psychologen Rudolf Dreikurs ab; dabei verfährt sie nach dessen Motto: ‚Jeder Individualpsychologe ist Optimist‘. Sie appelliert daran, auf Strafen und Drohungen zu verzichten, auf negative Kritik, auf das Verdeutlichen schlechter Angewohnheiten. Schöneich erläutert an diesen ausgewählten Sachverhalten die Sicht- und Arbeitsweise der individualpsychologisch geschulten Fachkraft. Deshalb finden wir viele Fallbeispiele: So will sie zum Beispiel das Prinzip ‚Ermutigung‘ am Fall verdeutlichen, weil sie am Fall den schwierigen Schüler als entmutigten Schüler beschreiben kann. Sie ist der Einschätzung, dass sich pädagogisch weitreichende Methoden an solchen Einzelfällen verdeutlichen lassen, denn sie versteht LuL als Lernberater, die sich immer neu auf einzelne Lernsituationen einstellen müssten. Das gelte auch für Kommunikationsprozesse. Auch solche Situationen ließen sich durch Lehrer beeinflussen. Sie legt den LuL nahe, sich auf die Bedeutsamkeit von Nahzielen (z.B. Aufmerksamkeit) zu besinnen und beschreibt die Bedeutung der unbewussten Zielentwicklung. Sie verlangt Aufmerksamkeit gegenüber Übertragungsmechanismen, denen man entgegensteuern könne, nachdem man sie entdeckt habe. Im nächsten Schritt entwickelt die Autorin erste Vorstellungen der Bedeutsamkeit eines Gemeinschaftsgefühls, die sie an der individualpsychologisch bereits früh vorgeschlagenen Instanz des Klassenrates beschreibt. Sie schlägt vor, auch schwierige Schüler zu ermutigen; sie sucht nach ‚wertvollen Momente‘ – dem Zufall im Bildungsprozess (Das könnte im Sinne Friedrich Copeis sein), den man wahrhaben und wahrnehmen müsse. Und umgekehrt will sie entmutigte Kinder erkennen lernen; sie legt nahe, nach Ursachen zu forschen, die in der Regel mit Angst zu tun haben: Ihnen will sie die Angst nehmen.

Zweiter Teil

Der zweite Teil arbeitet nach einem ähnlichen Verfahren wie der erste. Auch hier werden fallorientiert typische und individualpsychologisch zugängliche Verhaltensweisen von SuS (und an einigen Stellen von Eltern und LuL) beschrieben. Die Themen werden in auch hier in satzelliptischen Überschriften und Impulsen skizziert (z.B.: ‚Geschichten und bunte Klötze‘; ‚Einbeziehung der Familie‘). Hier stehen eher die LuL als Beratende im Mittelpunkt. Es geht um Gelassenheit im Machtkampf, die man auch durch Supervision erwürbe, wenn man Beziehungs- und Sachebenen voneinander trennen lerne. Es geht um individualpsychologisch orientierte Beratungsgespräche, deren Fokus das Verstehen von Verhalten sei: Das ursprüngliche (störende) Verhalten hatte einen Sinn. Die Beratung müsse an diesen Sinn herankommen, wenn sie anderes Verhalten vorschlagen will. Weil man es mit Kindern in der Entwicklung zu tun habe, sei es sinnvoll, in der Beratung über spezifische und kindgerechte verbale Modi Zugänge zu suchen: Durch Märchen und Kinderbücher. So würden für Kinder in Beratungsgesprächen Transferleistungen ermöglicht: Bilder werden angeboten, Märchen werden erzählt, auf Geschichten wird Bezug genommen. Diese Beratungen ‚schwieriger‘ Kinder könnten unter Einbezug der Familie fortgesetzt werden: Nach einem langen Fallbeispiel beschreibt Schöneich die Suche nach Lösungen, die von allen getragen werden. Zu solchen Lösungen sollten auch Eltern befähigt werden. Man müsste lernen, Eltern zu verstehen. Nachdem sie die Wahrnehmung darauf gelenkt hat, schwierige Kinder als entmutigte Kinder zu deuten, versteht Schöneich im Anschluss daran schwierige Eltern als entmutigte Eltern. Auch sie bräuchten positive Zuwendung und Verstärkung, weil auch sie unter Verdrängungen litten. Eine Aufgabe für Individualpsychologen in der Schule sei auch, Eltern zu ermutigen. Dazu müsse man Schuldzuweisungen vermeiden. Schöneich leitet den Leser und die Leserin weiter, wenn sie LuL ermutigen will, Unerwartetes zu tun und im Sinn der paradoxen Intervention Botschaften bewusst misszuverstehen. Sie erläutert den Sinn von selbsterfüllenden Prophezeiungen und ermuntert zum Abschied vom Perfektionismus. Man müsse nicht das Beste geben wollen, sondern das in unseren Kräften stehende. Wichtiger noch sei es nichts tun, was die Sachlage verschlimmert.

Zum Ende entwickelt Schöneich eine gleichsam salutogenetische Perspektive, wenn sie ermittelt, dass LuL nicht nur Ermutigung praktizierten, sondern dass sie auch selber ermutigt würden: SuS geben etwas zurück. Schöneich will LuL sich in Zuversicht üben lassen. Wenn man dann sein Lernen verstetige, werde man mit SuS nicht mehr nur Beratungsgespräche führen, sondern komme zu fruchtbaren Dialogen – den Gesprächen auf Augenhöhe. Dazu reiche es aber nicht, nur die SuS zum Nachdenken anzuregen, damit die lernen und neu lernen können. Man müsse selbstreflexiv werden: Man brauche Distanz zum Geschehen. Der eigene Lebensstil müsse überdacht werden, und man sollte nach eigenen Anteilen schauen. Man sollte sich selbst im Rahmen von kollegialer Fallberatung oder von Supervision beraten lassen. Ziele seien Verstehen und Selbstverstehen.

Diskussion

Schöneich schreibt ein sehr praxisorientiertes Buch mit vielen guten Beispielen aus dem pädagogischen Alltag. Dabei orientiert sie sich an den Klassikern der Individualpsychologie (vor allem an Alfred Adler, Rudolf Dreikurs), und der Kommunikationsforschung, die sie wesentlich an Paul Watzlawick festmacht. Sie selber ist keine grundständig ausgebildete Psychologin, sondern nimmt als individualpsychologisch-pädagogische Beraterin wissenschaftliche Erkenntnisse der Individualpsychologie auf und wendet sie an: Es wird nach typischen individualpsychologischen Erklärungen von Verhalten gesucht. Die findet sie im Rückgriff auf diese Klassiker und auf die Zeit ihrer Zusatzausbildung: „Auch der Zeitraum, in dem ich meine Erfahrungen sammelte (1990er-Jahre und Beginn des neuen Jahrtausends), hat die Deutungen … meiner Arbeit geprägt“ (S.8). Das erklärt die zumeist ältere Literatur, die sie zu Rate zieht.

Sie verspricht, sämtliche wichtige Termini der Individualpsychologie zu erklären, und wahrscheinlich tut sie das auch. Wenn man aber in der Individualpsychologie nicht bewandert ist, dann fällt der Nachvollzug schwer. Welche sind denn diese Termini? Wie viele gibt es? Da hätten Erläuterungen gut getan: Zu Beginn fehlen eine Auflistung dieser Termini und deren Erläuterung.

Die Unterschiede zwischen den beiden Teilen des Buches fallen nicht gleich ins Auge. Das liegt daran, dass Schöneich keinen roten Faden entwickeln will, sondern nacheinander verschiedene individualpsychologische Interventionstechniken an immer wieder neuen Fällen erläutern möchte. Sie arbeitet beispielhaft.

Sie schreibt, dass sie ‚weniger allgemeine Erziehungsmethoden‘ erläutern will (S.14), macht dem Leser aber nicht ausreichend deutlich, warum sie das nicht tut. An dieser Stelle hätte sie die Relation zwischen Erziehungs- und Bildungsprozessen im Gegenstandsbereich der Erziehungswissenschaft auf der einen Seite und ‚Methoden für den Umgang mit Schülern‘ als Leistung der Individualpsychologie auf der anderen Seite erörtern können. So aber kommen die Curricula und die Didaktik, die erziehungswissenschaftlich begründeten Techniken des Lehrerverhaltens, methodische Überlegungen und die Prinzipien eines erziehenden Unterrichtes nicht vor. Das ist deshalb schade, weil sich dadurch der Eindruck einstellt, der erziehungswissenschaftlich orientierte und an Allgemein- und Fachdidaktik orientierte LuL-Ausbildungsweg reiche nicht hin. Das klingt ein wenig nach Konkurrenz zwischen Erziehungswissenschaft und Individualpsychologie: Hilfreicher wären Hinweise gewesen, wie sich individualpsychologische Momente in die LuL-Ausbildung integrieren ließen.

Andererseits schult das Buch den Blick auf die Schwierigkeiten des einzelnen Schülers; man lernt ‚Fälle‘ zu analysieren. Daraus kann man für sich Handlungsalternativen entwickeln, wenn man im eigenen Unterricht auch einen ‚Fall von‘ wahrnimmt. Der Blick auf SuS kann sich ändern, wenn man nicht mehr auf den Blick des Schülers hat, der Schwierigkeiten macht, sondern auf die Schwierigkeiten, die der Schüler hat und die in seinem momentanen Verhalten zum Ausdruck kommen.

Das ist besonders hilfreich bei SuS der Grundschule, weil sich da Verhalten noch nicht verfestigt hat und weil da auffälliges Verhallten noch nicht die Regel sein dürfte. Die Mehrzahl der dargestellten Fälle bezieht sich auf Kinder im Grundschulalter und auf SuS der Orientierungsstufe. Dabei wird bereits hier deutlich, dass die Autorin von ‚SuS‘ spricht, aber hier wie auch später häufig ‚Grundschüler‘ meint. Das Buch liest sich als Leitfaden eher für Grundschullehrer und wohl auch eher für LuL zu Beginn ihrer Tätigkeit.

Weil sich Schöneich auf die Klassiker bezieht und auf ihre Ausbildungssituation vor zwanzig Jahren, kann man vermuten, dass sich in ihrer Sichtweise seitdem die Erklärungen für das Verhalten ‚schwieriger Schüler‘ nicht verändert haben. Und das Verhalten, das die SuS schwierig macht, wird dann wohl auch kein neues Verhalten sein. Auch das gesellschaftliche, schulorganisatorische und curriculare Umfeld wird keinen Einfluss auf Verhalten haben, so dass man es als neu und schwierig einstufen kann. Es gibt keine neue Typologie schwierigen Verhaltens.

Wenn sie das wirklich so meint, wie man das jetzt nur vermuten kann, dann wäre es hilfreich gewesen, das deutlich mitzuteilen. Denn: Die Nachrichten aus der Sekundarschule zeigen in eine andere Richtung, in eine Richtung von Multiproblem-SuS, von multifaktoriellen Unterrichtsstörungen und von Ausstiegsszenarien von SuS. In wie weit sich eine individualpsychologische Beratung in solchen Kontexten anbietet, wird leider nicht erörtert.

An einigen Stellen analysiert Schöneich einzelne Strukturmomente der Individualpsychologie im Rückgriff auf Systemtheorie und systemisches Denken. Leider geht sie nicht näher auf die Unterschiede der beiden Ansätze ein: Schule als Funktionssystem, so wie sie die Systemtheorie versteht, verlangt und produziert spezifische Handlungs- und Verhaltensmuster, die der Individualpsychologie nicht zugänglich sein dürften. Und Systemtheorie ist etwas anderes als der systemische Ansatz z.B. in der Psychotherapie oder der Beratung.

Fazit

Das zur Rezension anstehende Buch gehört in eine Reihe anspruchsvoller und theoretisch abgesicherter Ratschlagsliteratur. Es propagiert eine besondere Form des Lernens am Modell, indem es Fall nach Fall vorstellt und eine Erklärung für Verhalten gibt, die ein verändertes Verhalten als Antwort vorschlägt. Aus jedem Beispiel ist eine Lehre zu ziehen. Wenn jemand Hilfestellung sucht für den eigenen Unterrichtsalltag, der gekennzeichnet ist von gelegentlichen bis häufigen Auffälligkeiten einzelner SuS, ist er mit diesem Werk bestens beraten, denn die Autorin liefert überlegte und nachvollziehbare Hinweise auf produktives Agieren im schulischen Zusammenhang. Diese Hinweise sind erprobt und stammen aus der eigenen Beratungs- und Unterrichtstätigkeit der erfahrenen Beraterin und Lehrerin, die sich durch Fachkenntnis und noch mehr Empathie für SuS, LuL und Eltern auszeichnet.

Allerdings erfährt man nichts über aktuelle Problemlagen in den Schulen, über Bullying und grassierende Langeweile als Dauerzustand, über Aufmerksamkeitsstörungen und Ressentiments, kurz über neue Schwierigkeiten, die Schüler machen, weil es möglicherweise doch neue Probleme gibt.

Rezension von
Prof. Dr. Uwe Rabe
ehemaliger Professor für Erziehungswissenschaft an der FH Münster
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Es gibt 19 Rezensionen von Uwe Rabe.

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ISSN 2190-9245