Astrid Kaiser, Charlotte Röhner (Hrsg.): Kinder im 21. Jahrhundert
Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Liebel, 21.01.2014
Astrid Kaiser, Charlotte Röhner (Hrsg.): Kinder im 21. Jahrhundert.
Lit Verlag
(Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2013.
2. Auflage.
206 Seiten.
ISBN 978-3-8258-4407-3.
17,90 EUR.
Reihe: Beiträge zur Welt der Kinder - Band 8.
Thema
Das Thema Kinder und Kindheit hat in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts verstärkt Aufmerksamkeit gefunden. In den Sozial- und Erziehungswissenschaften haben sich neue Ansätze der Kinder- und Kindheitsforschung herausgebildet. Sie setzen sich mit überkommenen Kindheitsbildern auseinander und versuchen sich dem Leben der Kinder aus deren Perspektive zu nähern. Kindheit wird als historisches Phänomen begriffen, das immer wieder im Wandel ist und gerade zum Ende des 20. Jahrhunderts neue Konturen angenommen hat und die Kinder ebenso wie die Gesellschaften vor neue Herausforderungen stellt. Kinder werden als Akteure verstanden, die aktiv an ihrer eigenen Sozialisation mitwirken und in ihren Gesellschaften verstärkt auf Mitsprache drängen. In diesem Zusammenhang wird auch den Rechten der Kinder wachsende Bedeutung beigemessen.
Entstehungshintergrund
Der hier vorgestellte Sammelband ist erstmals im Jahr 2000 erschienen und nun 13 Jahre später unverändert neu aufgelegt worden. Absicht der Herausgeberinnen war, zu Beginn des 21. Jahrhunderts die neuen Konturen und Herausforderungen im Leben von Kindern zu erkunden. Sie beziehen sich ausdrücklich auf die berühmt gewordene, zuerst im Jahr 1900 erschienene Schrift der schwedischen Frauen- und Kinderrechtsaktivistin Ellen Key, die damals ein „Jahrhundert des Kindes“ beginnen sah. Am Ende des 20. Jahrhunderts konstatieren die Herausgeberinnen, dass die von Ellen Key aufgeworfenen Probleme weder gesellschaftlich noch politisch gelöst worden seien: „Weder Kinderrechte sind weltweit umgesetzt worden, noch ist das Bildungswesen der Vision Ellen Keys von einer die Kinder anregenden vielfältigen Lernumgebung näher gekommen“ (S. 3). Sie wollen mit ihrem Buch vor allem der Grundschulpädagogik und Grundschullehrer*innen Hinweise geben und Anregungen vermitteln, wie die Lebensrealität von Kindern zu Beginn des 21. Jahrhunderts verstanden und im Unterricht aufgegriffen werden kann.
Aufbau und Inhalt
In der Einleitung wenden sich Astrid Kaiser und Charlotte Röhner gegen die gerade in der Grundschulpädagogik weit verbreitete Ansicht, dass die Kinder nicht die „Agierenden ihres Lebens, sondern Opfer“ (S. 3) seien. Die in dem Band versammelten Beiträge sollen dieser vorurteilsvollen Ansicht entgegenwirken. Die durchgängige Perspektive ist dabei, „die Erfahrungs- und Handlungsweisen von Kindern nicht unter dem Defizitblick zu betrachten, sondern die Kompetenzen und Möglichkeiten von Kindern in der Auseinandersetzung mit ihrer Lebenswelt zu sehen und einzuschätzen“ (S. 4).
Der erste Teil ist dem „Kinderalltag im 21. Jahrhundert“ gewidmet. Beate Wischer und Rolf Wernig geben einen Einblick in die „Lebenswelten sozial randständiger Kinder“ und zeigen, warum eine mittelschichtorientierte Kinderforschung, insbesondere die verbreiteten Ansätze der von Piaget geprägten Entwicklungspsychologie, ihnen nicht gerecht werden kann. Ute Geiling und Friederike Heinzel fragen mit Blick auf die „Wendekindheit“, was von den kulturellen Erfahrungen der DDR bleibt, wobei sie sich auf die Ergebnisse eines eigenen Forschungsprojekts beziehen. Shin-ichi Terao berichtet, wie der rigide Lerndruck an Japans Schulen immer häufiger zu Streit, Quälereien und sogar Erpressungen zwischen den Schülern führen.
Im zweiten Teil wird gefragt: „Was bewegt Kinder?“ Heike Rusch skizziert unter dem Titel „Die Invasion des Straßensports“ die Konturen einer neuen Bewegungskultur. Astrid Kaiser fragt nach den „Idolen, Stars und Helden von Grundschulkindern“ und den Bedeutungen, die diese für die Kinder haben. Charlotte Röhner geht unter dem Titel „Jungen im Netz“ den Prozessen von Selbstsozialisation im virtuellen und realen Raum nach. Detlef Pech, Angela Könnecke und Michael Herschelmann erklären, warum der „Kinderkummer“ ernster zu nehmen sei. Natalie Naujok geht den „alltagspädagogischen Vorstellungen“ von Grundschüler*innen nach. Karin Merkens zeigt anhand einer Untersuchung über Kinderfreundschaften, „warum Kinder Freunde brauchen“.
Im dritten Teil wird gefragt: „Was wissen Kinder? Was können Kinder?“ Petra Milhoffer untersucht das „Sexualwissen von Kindern im Spannungsfeld sexueller Sozialisation“; sie kommt zu dem Schluss, dass sie mehr wissen, als wir vermuten, und skizziert mögliche Konsequenzen für eine von Partnerschaftlichkeit getragene Koedukation. Marlies Hempel geht den „Zukunftsvorstellungen von Kindern“ nach. Gerhard H. Duismann, Dirk Plickat und Yvonne Feldvoß vermitteln einen Einblick in die Bedeutungen von „Arbeit und Technik im Horizont von Kindern“ und machen Vorschläge, wie die damit verbundenen Erfahrungen, Denkweisen und Emotionen im Unterricht aufgegriffen werden könnten. Birgit Brandt untersucht die „Interaktionskompetenz im Mathematikunterricht der Grundschule“. Silke Pfeiffer geht den „philosophischen Horizonten von Kinderfragen“ nach.
Im vierten Teil werden „Forschungsperspektiven der Kinderforschung“ präsentiert. Kristin Westphal skizziert unter dem Titel „Füße im Wind“ bisherige und mögliche Forschungsansätze zur Raumaneignung von Kindern. Im abschließenden Beitrag reflektiert Astrid Kaiser über das „Verhältnis von Kinderforschung und Pädagogik“; die Kinderforschung stehe vor der Aufgabe, „zu einer differenzierten Sicht von Kindern zu kommen, welche die Vielfalt nicht unterdrückt und gleichzeitig das Gemeinsame benennt“ (S. 194).
Diskussion und Fazit
Im Unterschied zur Kindheitsforschung, die sich in erster Linie mit den in einer Gesellschaft dominierenden Kindheitsbildern auseinandersetzt, versteht sich der vorliegende Band als Beitrag zu einer Kinderforschung, die das konkrete und vielfältige Leben von Kindern in den Blick nimmt. Er gibt einen guten Überblick über entsprechende Forschungen, vor allem zu Kindern im Grundschulalter und im Bereich der Grundschulpädagogik.
Da der Band seit seinem erstmaligen Erscheinen nicht überarbeitet wurde, sind allerdings nicht alle präsentierten Forschungsergebnisse auf dem letzten Stand, z.B. in der Medienforschung mit Kindern. Auch das Layout hätte in der 2. Auflage von Fehlern bereinigt und lesefreundlicher gestaltet werden können.
Rezension von
Prof. Dr. Manfred Liebel
Master of Arts Childhood Studies and Children’s Rights (MACR) an der Fachhochschule Potsdam, Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften
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Es gibt 104 Rezensionen von Manfred Liebel.
Zitiervorschlag
Manfred Liebel. Rezension vom 21.01.2014 zu:
Astrid Kaiser, Charlotte Röhner (Hrsg.): Kinder im 21. Jahrhundert. Lit Verlag
(Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2013. 2. Auflage.
ISBN 978-3-8258-4407-3.
Reihe: Beiträge zur Welt der Kinder - Band 8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15967.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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