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Marcel Erlinghagen, Karsten Hank: Neue Sozialstrukturanalyse

Rezensiert von Dr. Annette Harth, 14.04.2014

Cover Marcel Erlinghagen, Karsten Hank: Neue Sozialstrukturanalyse ISBN 978-3-8252-3994-7

Marcel Erlinghagen, Karsten Hank: Neue Sozialstrukturanalyse. Ein Kompass für Studienanfänger. Wilhelm Fink Verlag (München) 2013. 250 Seiten. ISBN 978-3-8252-3994-7. D: 16,99 EUR, A: 17,50 EUR, CH: 24,00 sFr.
Reihe: UTB - 3994. Soziologie studieren.

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Autoren und Thema

Beide Autoren haben an der Ruhr-Universität Bochum Sozialwissenschaft studiert, sind seit kurzer Zeit Professoren für Soziologie (Marcel Erlinghagen an der Universität Duisburg-Essen, Karsten Hank an der Universität zu Köln) und Forschungsprofessoren am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin. Eine gute Berufsphase also, um auf der Basis eigener Vorlesungen ein Lehrbuch für Studienanfänger_innen zu schreiben.

Bereits der Titel des Buches „Neue Sozialstukturanalyse“ macht aber auch einschlägig Erfahrene neugierig: Was, bitte schön, soll denn „neu“ sein an der Analyse der Sozialstruktur? Sie gehört seit den Anfängen der Sozialforschung zum Kernbereich und ist bis heute eines ihrer größten und grundlegendsten Felder geblieben. Es gibt zahlreiche ältere und auch neuere Klassiker, die alle paar Jahre in stets aktualisierten Neuauflagen erscheinen (Hradil, Geißler, Schäfers). Und gerade in jüngster Zeit sind einige neue Bücher zum Thema erschienen, die frischer wirken und etablierte Argumentations- und Darstellungspfade erweitern (z.B. Huinink/Schröder).

Genau diesem Einwand stellen sich die Autoren gleich im Vorwort. Ihnen geht es tatsächlich darum, einen neuen, bislang wenig etablierten Denkansatz in die Sozialstrukturanalyse einzubringen und zu entfalten: Eine handlungsorientierte Perspektive, basierend auf den Grundlagen von James Coleman (1991) und Hartmut Esser (1993). Erlinghagen und Hank schreiben: „Die Existenz und die Dynamik sozialer Strukturen ist … nur zu verstehen, wenn erklärt werden kann, wie das Handeln individueller Akteure zu kollektiven, strukturbildenden Verhaltensmustern führt“ (S. 9). Es geht ihnen um eine handlungstheoretische Fundierung der Sozialstrukturanalyse Deutschlands – und zwar auf einem für Studienneulinge verständlichen Niveau.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist – neben Vorwort und Register – in vier große Kapitel gegliedert. Zunächst stellen die Autoren die Grundlagen ihres Betrachtungsrahmens dar. Dann folgen zwei inhaltliche Kapitel zu Demografie und sozialer Ungleichheit. In der Schlussbetrachtung ordnen die Verfasser die neue Sozialstrukturanalyse in die Soziologie ein und zeigen auf, wie sich auf ihrer Basis Strategien zur praktischen Lösung der mit dem demografischen Wandel und der Globalisierung verbundenen gesellschaftlichen Probleme entwickeln lassen. Im Einzelnen:

In Kapitel I werden die Grundlagen der Neuen Sozialstrukturanalyse vorgestellt.

Der Begriff Sozialstruktur beschreibt nach Erlinghagen und Hank „Regelmäßigkeiten und Muster in den zwischenmenschlichen Interaktionen“ (S. 13). Entsprechend gehe es der Sozialstrukturanalyse darum, Ursachen und Gründe zu entdecken, die zu derartigen Mustern führen. In der Sozialstruktur manifestieren sich soziale Regeln des Zusammenlebens, die das Handeln von Menschen einschränken, im Sprachgebrauch der Autoren als ‚Restriktionen‘ wirken.

Am Beispiel des langlebigen Rauchers Helmut Schmidt einerseits und empirischen Untersuchungen über den durchschnittlich früheren Tod von Raucher_innen im Allgemeinen andererseits wird erläutert, dass es bei der Sozialstrukturanalyse um systematische und durchschnittliche Zusammenhänge und nicht um Einzelfälle geht. Ähnlich anschauliche Beispiele durchziehen das gesamte Buch.

Im Herzstück des Kapitels werden nun die handlungstheoretischen Grundlagen des Betrachtungsrahmens entfaltet. In Abgrenzung zur von den Autoren so bezeichneten Traditionellen Sozialstrukturanalyse (mit großem „T“) entwickeln sie ihr Konzept der Neuen Sozialstrukturanalyse (mit großem „N“). Zu den Traditionalisten rechnen sie nicht nur Karl Marx, Max Weber, Karl Martin Bolte (Zwiebelmodell), Ralf Dahrendorf und Rainer Geißler (Hausmodelle), sondern auch Lebenslage-, Lebensstil- und Milieuansätze, die aus der Kritik an den älteren Konzepten seit den 1970er Jahren entwickelt wurden (Letztere werden auf einer halben Seite ohne Autorennennung verhandelt). Diese Konzepte eint aus Sicht der Autoren trotz aller Unterschiede die Überzeugung, „dass gesellschaftliches Handeln ein Produkt gesellschaftlicher Strukturen sei“ (S. 27). Individuelle Entscheidungsoptionen würden als Trugschluss begriffen, die Großgruppenzugehörigkeit (etwa zur Elite oder zur Arbeiterschaft) würde als verhaltensbestimmend gesehen. Kurz gesagt: die Erklärung verbleibe auf der gesellschaftlichen Makroebene der Strukturen.

Dagegen stellen Erlinghagen und Hank nun ihr eigenes Konzept der Neuen Sozialstrukturanalyse, mit dem sie die Beziehung zwischen der Mikroebene der einzelnen Handelnden und der Makroebene der Sozialstruktur fassen wollen. Sie greifen dabei zentral auf das sog. Grundmodell soziologischer Erklärung zurück, wie es von Hartmut Esser (1993) auf der Basis von Arbeiten u. a. von James Coleman (1991) und Siegwart Lindenberg (1990) vorgelegt wurde. Soziale Strukturen können danach nur dann verstanden und soziologisch erklärt werden, wenn sie auf Handlungsentscheidungen von einzelnen Akteuren zurückgeführt werden. Individuelle Handlungen entstehen aber nicht zufällig und völlig frei, sondern im Rahmen von sozialen Vorstrukturierungen. Der von Erlinghagen/Hank als Menschenbild favorisierte „homo socio-oeconomicus“ handelt eingeschränkt rational und versucht im Rahmen seiner begrenzten Möglichkeiten und Wahrnehmungen seinen Nutzen zu maximieren.

Für die Sozialstrukturanalyse stellen die Autoren dementsprechend drei Einflussdimensionen auf menschliches Handeln in den Mittelpunkt ihrer Analysen:

  1. Ressourcen, die Menschen einsetzen (und prinzipiell auch beeinflussen) können, um ihre Handlungsziele zu erreichen. Sie unterscheiden „ökonomisches Kapital“ (Einkommen und Vermögen), „Humankapital“ (Wissen) und „Sozialkapital“ (soziale Beziehungen).
  2. Restriktionen, die Handlungsmöglichkeiten der Individuen einschränken und die diese nicht direkt beeinflussen können (gesellschaftliche Regeln und Institutionen).
  3. Lebensverlauf. Dabei geht es einerseits um soziale Regelmäßigkeiten in der zeitlichen Abfolge von Lebensereignissen und -episoden (wie Ausbildung, Heirat, Elternschaft) und andererseits um Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Lebensbereichen (wie Berufs- und Familienkarriere).

Die zentrale Prämisse der Neuen Sozialstrukturanalyse ist nun, „dass unter bestimmten Umständen individuelle Akteure, die sich hinsichtlich ihrer Restriktionen und Ressourcen sowie ihrem Lebensverlauf ähneln, auch zu ähnlichen Entscheidungen und Handlungen neigen. (…) Sozialstruktur ist demnach ein Ergebnis strukturierten Verhaltens auf der Mikroebene“ (S. 46).

Im nachfolgenden Abschnitt gehen Erlinghagen/Hank auf soziale Ungleichheit und Gerechtigkeit ein. In einem allgemeinen Sinn argumentieren sie, dass jede Sozialstruktur Ausdruck von Ungleichheit sei, da sie Menschen in verschiedene Muster eingruppiere. Wichtig sei die soziale Akzeptanz der eingruppierenden Sozialordnung als gerecht. Auf der Basis eines knappen ideengeschichtlichen Exkurses konstatieren die Verfasser Chancengleichheit als das fundamentale Gerechtigkeitsprinzip demokratischer Marktwirtschaften. Im letzten Abschnitt schließlich geht es um Kernelemente der deutschen Sozialordnung. In aller Kürze werden die marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung, die wohlfahrtsstaatliche Ausrichtung und das Sozialversicherungssystem umrissen.

Auf dieser Grundlage wird in den beiden folgenden Großkapiteln das vorgestellte Modell der Neuen Sozialstrukturanalyse auf sozio-demografische Strukturen und Prozesse angewendet.

In Kapitel II Fertilität – Mortalität – Migration geht es in um die demografischen Kernprozesse.

Im Abschnitt Fertilität und Familie wird die generelle Stoßrichtung der Argumentation auf Anhieb deutlich. Erlinghagen & Hank bedienen sich entsprechend ihrem Gesamtmodell für die Erklärung konkreter Zusammenhänge und Prozesse nutzentheoretischer Theorieansätze. Um das Zustandekommen stabiler Partnerschaften zu erklären, ziehen sie die Austausch- und Ressourcentheorie heran: Menschen kommen zusammen oder bleiben beieinander, wenn sie sich mehr Nutzen davon versprechen als ihr Beziehungsinvestment sie kostet und sie zumindest in längerfristiger Perspektive eine gewisse Ausgeglichenheit der beiderseitigen Leistungen erwarten können (Reziprozitätsnorm). Fertilitätsentscheidungen werden auf der Basis des „value of children“-Ansatzes erörtert: Man bekommt Kinder, wenn ihr Nutzen (Spaß, Erfüllung, soziale Anerkennung etc.) höher ist als ihre Kosten (Geld, Zeit etc.).

Zentrale demografische Entwicklungen – sinkende Heirats- und steigende Scheidungsneigung, Geburtenrückgang, Anstieg des Anteils Kinderloser, Verschiebung von Eheschließungen und Geburten in spätere Phase des Lebensverlaufs – werden in diesem Rahmen dargestellt und in ihren Ursachen diskutiert. Als wichtige Wirkfaktoren betonen die Verfasser zum Beispiel die wachsenden individuellen Autonomiebestrebungen und die gestiegenen Handlungsoptionen, auch verlängerte Ausbildungszeiten und ein höheres durchschnittliches Ausbildungsniveau und schließlich die Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Kinder und Berufstätigkeit. Sie erörtern abschließend, inwieweit die Familie – von ihnen sehr weit als relativ dauerhafte exklusive Solidargemeinschaft gefasst – als Form des Zusammenlebens vor diesem Hintergrund überhaupt noch eine Zukunft hat. Ja, das habe sie, weil sie bei der Erbringung bestimmter Leistungen Effizienzvorteile habe: eine nicht spezifizierte, langfristige Reziprozität. Man unterstützt sich emotional und praktisch, auch wenn man zunächst keine Gegenleistung bekommt, sondern vielleicht erst in 30 Jahren. „Die Familie überlebt den gesellschaftlichen Wandel, weil sie selbst eine dynamische und anpassungsfähige Institution ist“ (S. 92, i. O. hervorgeh.).

Im Abschnitt Mortalität und Gesundheit stößt die entscheidungsorientierte Perspektive sozusagen naturgemäß an ihre Grenzen. Dennoch wird auch hier akteursbezogen argumentiert, indem der Einfluss sozialer Merkmale diskutiert wird. Frauen werden älter als Männer, Reiche älter als Arme – warum ist das eigentlich so? Die Autoren verdeutlichen die Zusammenhänge mittels ihres Modells: Wie gesund man ist und wann man stirbt, hängt von den individuellen Ressourcen ab (Kann ich mir eine besondere Gesundheitsvorsorge leisten? Bin ich hinreichend informiert über Präventionsstrategien? Habe ich unterstützende Sozialkontakte?). Gleichermaßen spielen Gelegenheitsstrukturen (Restriktionen) eine Rolle (Wie ist die ärztliche Versorgung in erreichbarer Nähe? Wie ist die Umweltbelastung meines Wohnquartiers?). Auch der Lebensverlauf ist bedeutsam (Wie sind die Arbeitsbedingungen in meiner Generation? Wie gesund lebte ich in meiner Kindheit?).

Aufgrund besserer Lebens- und Ernährungsbedingungen und des medizinischen Fortschritts steigt die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland seit sie erfasst wird. Die Entwicklung der Gesundheit zeigt dagegen nicht so eindeutige Trends. In wohlhabenden Gesellschaften ändern sich Krankheiten und Todesursachen (‚epidemiologischer Übergang‘): Infektionskrankheiten und Epidemien werden tendenziell zurückgedrängt gegenüber lebensstilbedingten Erkrankungen (Herz-Kreislauf, Krebs). Die Autoren diskutieren die interessante Frage, inwieweit die gestiegene Lebenserwartung auch mit einer Zunahme an gesunden Lebensjahren verbunden ist. Die empirische Prüfung erweist sich als schwierig, aber aufgrund der bisherigen Datenlage kommen die Autoren zu dem vorsichtig optimistischen Fazit, dass sich mit der Menge der Lebensjahre auch die Menge der gesunden Jahre erhöht, Krankheiten und Einschränkungen sich also auf die letzten Lebensjahre konzentrieren (‚Morbiditätskompression‘). Entsprechend kritisieren sie die nach wie vor in der Diskussion des demografischen Wandels dominierende statische Betrachtung von Altersquotienten (z.B. Relation über 65-Jährige zu unter 20-Jährigen) und verweisen auf Maßzahlen, die die zukünftige Lebenserwartung miteinbeziehen (z. B. Relation Hilfebedürftige zu Hilfebefähigten), die viel optimistischere Szenarien ergeben.

Nach der natürlichen Bevölkerungsbewegung gehen die Verfasser auf Migration und Integration ein. Außen- und Binnenwanderungen spielen für die Bevölkerungsgröße und -struktur eine bedeutsame Rolle. Zunächst werden die Determinanten von Migration mithilfe des bekannten Modells als Ergebnis eines Kosten-Nutzen-Kalküls im Rahmen von Restriktionen (z. B. Zuwanderungsbeschränkungen) und Ressourcen dargestellt: Geringqualifizierte könnten einem höheren Wanderungsanreiz unterliegen, weil sie in ihrer Herkunftsregion nicht so leicht eine Beschäftigung finden; andererseits erleichtern höhere Qualifikationen (z. B. Fremdsprachenkenntnisse) Wanderungen. Auch das Sozialkapital wirkt nicht eindeutig: Bindungen in der Herkunftsregion können das Bleiben begünstigen, vorhandene Sozialbeziehungen woanders die Wanderung erleichtern. Ökonomisches Kapital wird für Wanderungen auf jeden Fall benötigt (wobei aber gerade der Mangel an ökonomischem Kapital bzw. die extreme internationale Ungleichheit ein wesentliches Wanderungsmotiv ist).

Migrationen zeigen lebensverlaufstypische Muster, die in enger Verbindung vor allem mit Bildungs- und Berufsverläufen sowie mit der Familienbiografie stehen: Junge Erwachsene wandern am häufigsten, nach der Phase der Familiengründung gibt es eine relativ hohe Sesshaftigkeit und im Alter wieder leichte Anstiege von Wanderungen. Was Migrationsbewegungen im globalen Kontext anbelangt, so verweisen die Autoren auf das interessante Faktum, dass der Anteil von MigrantInnen an der Weltbevölkerung (3%) in den vergangenen Jahrzehnten kaum angestiegen sei – anders als deren absolute Zahl (im Jahr 2010: weltweit 214 Mio.). Die individuelle Migrationswahrscheinlichkeit ist also keineswegs angestiegen. Wenn auch die deutliche Mehrheit in Nachbarregionen wandert bzw. flüchtet, so sind die Länder des industrialisierten Nordens im Zuge der Globalisierung häufiger Zielregionen geworden.

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Bis auf ganz wenige Ausnahmen war der Wanderungssaldo in jedem Jahr positiv. Die Autoren zeichnen vier unterschiedliche Phasen der Zuwanderung nach: die Flüchtlings- und Vertriebenenströme der Nachkriegszeit, die Anwerbung von Arbeitsmigranten zwischen 1955 und 1973 (inkl. späterem Familiennachzug), der vor allem durch Asylsuchende und Spätaussiedler_innen getragene Zuwanderungsanstieg Ende der 1980er/Anfang der 90er Jahre und schließlich die aktuelle Zuwanderung infolge der EU-Osterweiterung seit der Jahrtausendwende. Deutschland ist auch ein Auswanderungsland. Überwiegend handelt es sich um Fortzüge von Menschen mit ausländischem Pass, aber in den letzten Jahren ist im Zuge der Globalisierung ein Anstieg von Abwanderungen von Menschen ohne Migrationshintergrund zu verzeichnen – oftmals jüngere hochqualifizierte Männer. Von einem ‚brain drain‘ möchten die Autoren aber nicht sprechen, sondern verweisen auf den hohen Anteil der Remigranten bei dieser Gruppe (‚brain circulation‘). Das Gros der Wanderung entfallen aber auf Binnenmigrationen, wobei die Autoren besonders auf die nach wie vor anhaltenden und in ihrer sozialen Zusammensetzung hochselektiven Ost-West-Wanderungen eingehen.

Relativ ausführlich diskutieren Erlinghagen & Hank die Frage der Integration, was angesichts des Umfangs der Migration und der Vielfalt der Herkunftsregionen durchaus angemessen ist. Sie verstehen Integration als Herstellung von Chancengleichheit und Angleichung der Lebensverhältnisse von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, was aber keinesfalls bedeute, die eigene kulturelle Herkunft vollständig aufzugeben. Es zeigen sich dabei in sehr unterschiedlichen Dimensionen (z. B. Bildungsabschlüsse, Arbeitslosigkeit, soziale Einbindung) Defizite der Zugewanderten, die vor allem bei der Gruppe der Türkischstämmigen deutlich ausgeprägt sind. Erlinghagen/Hank kommen zu dem Schluss, dass man bisher nur von einer Teilintegration der ca. 15 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund sprechen könne.

In Kapitel III Bildung – Soziale Beziehungen – Arbeit – Einkommen stehen Verteilung von und Zugang zu Ressourcen im Mittelpunkt. Die Gliederung erfolgt mittels der drei Kapitalsorten (die nicht mit denen von Pierre Bourdieu verwechselt werden sollten, der im Buch nicht erwähnt wird).

Zunächst geht es um Bildung und Humankapital. Nicht gänzlich unerwartet beziehen sich Erlinghagen & Hank auf die Humankapitaltheorie, nach der Wissenserwerb als individuelle Investition aufgefasst wird, die man nur dann vornimmt, wenn man sich davon einen besseren Ertrag (etwa ein höheres Einkommen) verspricht. Die Ressourcen (der Herkunftsfamilie) beeinflussen sowohl die Bildungsvoraussetzungen (z. B. Unterstützungsmöglichkeit durch Nachhilfe) als auch die Bildungsbewertung (z. B. höhere Wertschätzung des Abiturs bei Akademikereltern). Als Restriktionen benennen die Autoren die Zugangsmöglichkeiten zu Bildungseinrichtungen und die Diskriminierung durch Lehrkräfte (z. B. bei Schulempfehlungen).

Nach Erläuterung der sog. Bildungsexpansion ab Ende der 1950er Jahre, die zu einer deutlichen Erhöhung der Bildungsbeteiligung und des Qualifikationsniveaus im Zeitverlauf führte, gehen die Autoren im empirischen Teil auf soziale Unterschiede ein. Während Frauen von der Ausweitung der Bildungsangebote profitieren konnten, ist der Abbau der herkunftsbedingten Qualifikationsunterschiede nur zum Teil gelungen: Zwar konnten auch Kinder aus vormals benachteiligten Herkunftsbedingungen Bildungsaufstiege verzeichnen. Dennoch besteht insgesamt nach wie vor eine deutliche Bildungsbenachteiligung von Kindern aus ressourcenarmen und migrationsgeprägten Familien. In den Übergängen (von der Grundschule auf die weiterführende Schule, von der Schule in das berufliche oder hochschulische Qualifikationsangebot) zeigen sich ausgeprägte, nicht leistungsbezogene Auswahleffekte nach der Herkunft. Dabei spielen (unbewusste) Diskriminierungen durch Lehrkräfte wie auch Leistungszuschreibungen durch das Elternhaus eine wichtige Rolle.

Soziale Beziehungen und Sozialkapital werden anschließend ausgeführt, wobei die Autoren unter Sozialkapital ausschließlich tragfähige zwischenmenschliche Beziehungen verstehen. Nach dem bekannten Vorgehen entwickeln sie zunächst auf der Basis der Sozialkapitaltheorie ihre Hypothesen. Beziehungen verlangen danach Investitionen (Zeit und auch Geld), stiften aber auch großen Nutzen (emotionaler Austausch, Alltagsbewältigung, Information). Sie beruhen auf einem langsamen Prozess des gegenseitigen Vertrauens auf der Basis der Reziprozität. Die Tragfähigkeit, also den Wert von Beziehungen, unterscheiden die Autoren Granovetter folgend in schwache und starke soziale Bindungen. Starke Bindungen beziehen sich auf viele Lebensfelder, sind emotional eng, auf einen kleinen Kreis von Bezugspersonen bezogen und hoch belastbar (Eltern-Kind-Beziehung). Schwache Bindungen sind auf bestimmte Lebensbereiche spezialisiert, wenig emotional und gering belastbar und auf unterschiedliche Personengruppen bezogen (Kollegenkreis). Vermutet wird auf der Basis des Restriktionen-Ressourcen-Lebensverlauf-Modells, dass sozial Benachteiligte überwiegend starke soziale Bindungen haben und dadurch weiter benachteiligt werden (z. B. weil sie nicht an Informationskanäle angebunden sind, die mit schwachen Bindungen einhergehen). Tatsächlich scheinen die ausschnitthaft präsentierten empirischen Befunde (z. B. zur Einbindung in Ehrenämter oder in Nachbarschaftsbeziehungen) diese Vermutungen zu bestätigen. In der Kohortenbetrachtung werden auch Lebensverlaufseffekte deutlich, insoweit etwa das verstärkte soziale Engagement bei den „68ern“ auch im Alter anhält.

Der folgende Abschnitt Arbeitslosigkeit und Erwerbstätigkeit fällt aus dem Duktus des Kapitels heraus. Hier geht es um die grundlegende Verfasstheit unserer Gesellschaft („Arbeitsgesellschaft“, „Wissensgesellschaft“) und die Teilhabechancen der Einzelnen: Ohne Zweifel wichtig, aber den strukturierenden Kapitalsorten nicht eindeutig zuzuordnen. Ausschließlich Erwerbsarbeit steht hier im Zentrum, obwohl für sozialstrukturelle Analysen gerade auch die Haushaltsproduktion eine bedeutsame Rolle spielt. In einem allzu simplifizierten Marktmodell werden die Arbeitsmarktstrukturen dargestellt. Wesentliche Makrotrends werden beschrieben: die Massenarbeitslosigkeit als Strukturelement seit Mitte der 1970er Jahre bei gleichzeitigem Anstieg der Erwerbstätigenzahlen, der Anstieg der Erwerbsbeteiligung westdeutscher Frauen, die Zunahme sog. atypischer Beschäftigungsverhältnisse sowie der Wandel zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft. Menschen mit geringeren Qualifikationen haben seit Anfang der 1980er Jahre erheblich schlechtere Arbeitsmarktchancen. Die Anforderungen des Globalisierungsprozesses bewältigen die Betriebe laut Autoren überwiegend mit internen Flexibilisierungsstrategien (z. B. Arbeitszeitkonten) und weniger mit externen (Entlassungen und Neueinstellungen). Entsprechend ist für Kernbelegschaften immer noch ein hohes Maß an Beschäftigungsstabilität beim gleichen Arbeitgeber kennzeichnend.

Der letzte Abschnitt Einkommen, Vermögen und Armut behandelt das ökonomische Kapital, das eine zentrale Rolle für die Teilhabechancen in den unterschiedlichsten Gesellschaftsbereichen spielt. Das übliche Erklärungsmodell wird hier nicht angewendet, sondern es wird – wie in der einschlägigen Literatur verbreitet – die Einkommensverteilung (ungleich), die Vermögensverteilung (sehr ungleich) und die Armutsentwicklung (steigend) dargestellt. En passant werden die wichtigsten Konzepte, Maßzahlen und Darstellungsformen erläutert. Lediglich am Ende wird in einem kurzen Abschnitt versucht, die sozialstrukturellen Einflussfaktoren auf individuelle Armutskarrieren zu umreißen; zum Thema Vermögen (Stichwort Vererbung, Schließungsprozesse) gibt es dagegen nichts Entsprechendes.

Die Schlussbetrachtungen (Kapitel IV) versammeln unterschiedliche Aspekte, die Erlinghagen und Hank auch noch am Herzen liegen. Zunächst wird das Verständnis von Soziologie als einer empirischen Wissenschaft dargelegt, um die Sozialstrukturanalyse dort einzuordnen. Sie gilt den Autoren als „Brückenfach“ für „Allrounder“: Um sie ertragreich zu betreiben, müsse man über theoretisches Wissen (gerade im konkret gegenstandsbezogenen Partialtheoriebereich), Methodenkenntnisse und Wissen über die sozialpolitische Praxis verfügen.

Abschließend diskutieren die Autoren zwei ihrer Ansicht nach für die zukünftige Entwicklung der Sozialstruktur Deutschlands zentrale „Megatrends“: den demografischen Wandel (worunter sie auschließlich die durchschnittliche Bevölkerungsalterung verstehen) und die Globalisierung. Mit einer gewagten Einengung – weil Deutschland eine Erwerbsarbeitsgesellschaft sei, könne man die zukünftige Entwicklung „nur“ verstehen, wenn man den Einfluss der Megatrends auf die Arbeitsmarktentwicklung beleuchte – konzentrieren sie ihre Abschlussdiskussion auf den Erwerbsbereich. Ab hier wird normativ argumentiert: Deutschland solle weiterhin von den Chancen der Globalisierung profitieren und Strategien entwickeln, mit den ‚Verlierern‘ der Globalisierung umzugehen und die Menschen zu befähigen, sich auf die wandelnden Rahmenbedingungen flexibel einzustellen. Geforderte Maßnahmen sind: „Die (a) Erschließung von Bildungs- und Fachkräftereserven, die (b) Beseitigung der Benachteiligung von Frauen insbesondere auf dem Arbeitsmarkt, die (c) Verlängerung der Lebensarbeitszeit, die (d) Integration alter und neuer Zuwanderer sowie (e) eine Verringerung von Einkommensungleichheiten zur Verbreiterung der Finanzierungsbasis sozialer Sicherungssysteme …“ (S. 235). Um die Menschen zu befähigen, diese übergeordneten Ziele zu erreichen, müsse man mehr in Bildung und Gesundheit investieren, Einkommensungleichheit reduzieren, Armut vermeiden, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern, Kinderbetreuung und Pflege ausbauen, Arbeitszeiten gerechter verteilen und das Steuerrecht gerechter gestalten. Wer wollte da nicht zustimmen? Und dies alles sei, so heißt es im Schlussabschnitt, nicht nur aus ethischen Gerechtigkeitsüberlegungen geboten, sondern – dies zu betonen, liegt den Autoren offenbar sehr am Herzen – auch „volkswirtschaftlich (also ökonomisch) sinnvoll“ (S. 237, Hervorh. i. O.). Quod erat demonstrandum.

Diskussion

Marcel Erlinghagen und Karsten Hank legen mit ihrem „Kompass für Studienanfänger“ eine sehr informative und gelungene Positionierung im ausdifferenzierten und durch etablierte Lehrwerke bestimmten Feld der Sozialstrukturanalyse vor. Geschult im methodologischen Individualismus und Rational-Choice-Ansätzen versuchen sie konsequent ihr Makro-Mikro-Makro-Modell, Strukturen durch Handlungsentscheidungen zu erklären, durch die vielfältigen Themenfelder der Sozialstrukturanalyse zu entwickeln. Das Modell hat – wie die Autoren selbst schreiben (S. 47) – für sich betrachtet erst einmal keine Erklärungskraft, es gewinnt diese erst im Zusammenspiel mit den jeweiligen gegenstandsbezogenen Teil-Theorien und deren empirischen Prüfung. Hier wird es eigentlich erst spannend.

In den Buchabschnitten gelingt es Erlinghagen und Hank in unterschiedlicher Weise, ihren Ansatz plausibel zu machen. Ist die mikrofundierte Darstellung der demografischen Entwicklungen – etwa wie sich aus individuellen strukturierten Lebensentscheidungen auf der sozialstrukturellen Ebene der demografische Wandel ergibt – sehr nachvollziehbar entfaltet, so wirkt an anderen Stellen die Herstellung von Zusammenhängen (ökonomistisch) verkürzt. Nur ein Beispiel: Alte Menschen – so wird vermutet – würden u. a. deswegen nicht mehr so viele Freundschaften schließen (in den Worten der Autoren: in Sozialkapital investieren), weil „Amortisationszeiten aufgrund der begrenzten verbleibenden Lebensspanne bis zum Tod verringert werden“ (S. 163). Hier zeigt die Altersforschung anderes: Alte Menschen sind gut vernetzt, sozial eingebunden und neuen Kontakten gegenüber durchaus aufgeschlossen, sofern sie einigermaßen gesund sind und ihre materielle Absicherung eine eigenständige Lebensführung erlaubt. Mit solchen und ähnlichen Zuspitzungen nehmen die Autoren leider ihren Modellierungen einen Teil der Überzeugungskraft und bestätigen Vorurteile gegenüber nutzentheoretischen Erwägungen. ‚Erwarteter Nutzen‘ bzw. die ‚eingeschränkt rationale Wahl‘ beruhen keineswegs ausschließlich (und wahrscheinlich nicht einmal überwiegend) auf ökonomischen oder ‚egoistischen‘ Überlegungen, für die eigene Leistung auch – wenigstens in Zukunft – angemessen entgolten zu werden. Und Kooperation, Anerkennungs- und Selbstentfaltungswünsche, Hilfe und andere ‚altruistische‘ Handlungsmotive lassen sich durchaus in das Grundmodell soziologischer Erklärung einfügen. Sie sind aber schwieriger zu operationalisieren.

Die im Rahmen eines knappen und in den Gegenstandsbereich einführenden Lehrbuchs gebotenen Weglassungen, Verkürzungen und Verdichtungen sind überwiegend nachvollziehbar. In sehr gelungener Weise wird beispielsweise mit den in vielen Feldern weiter bestehenden Ost-West-Unterschieden umgegangen: Ohne sie nach einem Vierteljahrhundert Einheit überzustrapazieren, werden sie an wichtigen Stellen (z. B. Frauenerwerbstätigkeit, Binnenwanderungen) eingebracht. Ähnlich ist auch der Umgang mit geschlechtsspezifischen Unterschieden. Auch die gemeinsame Behandlung von Themenfeldern (z. B. Mortalität und Gesundheit) ist sehr passend. Die Präsentation von sozialhistorischem, sozialpolitischem und theoriegeschichtlichem Hintergrundwissen wird auf das Notwendigste beschränkt und in den eigenen Gedankengang sinnvoll eingewoben.

Allerdings wird hier bisweilen die ‚Schmerzgrenze‘ überschritten: Marx in 20 Zeilen, Lebenslage-, Lebensstil- und Milieuansätze mit einer lässigen Handbewegung abgetan, Bourdieu nicht erwähnt (obwohl mit einem Kapitalansatz gearbeitet wird), Machtstrukturen und Wohlfahrtsdimensionen ganz weggelassen, wenn gleichzeitig auf vielen Seiten die Soziologie als Wissenschaft (warum?) oder Prinzipien des Arbeitsmarkts dargestellt werden – das sollte in einer durchaus in einigen Jahren zu wünschenden Neuauflage besser justiert werden. Auch stellt sich die Frage, warum es den Autoren an so vielen Stellen wichtig ist, ‚natürliche‘ von sozial erzeugten Einflüssen zu unterscheiden. Mit einem Verständnis vom Menschen als Kulturwesen und einer prinzipiell sozial konstruierten Wirklichkeit braucht es das nicht.

Viele Zusammenhänge werden relativ ausführlich mit dem Ressourcen-Restriktionen-Lebensverlauf-Ansatz modelliert, die Darstellung empirischer Befunde kommt dadurch etwas kurz bzw. bleibt auf der (üblichen) Ebene der Makrodaten. Andererseits zeigen die Autoren durch dieses Vorgehen viele Anknüpfungspunkte für vertiefende Analysen auf und erzeugen Neugier auf mehr.

Die Autoren überzeugen durch eine klare Gedankenführung und Sprache. Die nicht immer ganz einfachen, aber sehr wichtigen methodischen Aspekte werden sehr gut und klar vermittelt. Zentrale Begriffe und Maße (z. B. ‚Kohorte‘, ‚zusammengefasst Geburtenziffer‘) werden sinnvoll und eingebettet in die Argumentation erläutert, Zusammenhänge werden mit Grafiken, Tabellen und Übersichten anschaulich dargestellt. Die Kurzzusammenfassungen am Ende vieler Abschnitte sind hilfreich – gerade auch für Leser_innen, die nur an einzelnen Abschnitten interessiert sind. Leider fehlt eine Auflistung weiterführender Quellen.

Fazit

Insgesamt eine gut lesbare, sehr informative und konsequent handlungstheoretisch modellierte Einführung in das grundlegende Feld der Sozialstrukturanalyse – keineswegs nur für Neulinge. Wie sich demografische und soziale Strukturen durch die Vielzahl individueller Handlungsentscheidungen erklären lassen, wird anschaulich anhand zentraler Prozesse vermittelt. Das Buch regt durch seine Weglassungen und Zuspitzungen an vielen Stellen zur Kritik an, was das Verdienst der Autoren aber keineswegs schmälert, den Versuch zu machen Sozialstruktur tatsächlich zu erklären. Sehr empfehlenswert – gerade auch für Soziale Berufe, für die es zum ‚Kerngeschäft‘ gehört, beim Individuum anzusetzen.

Rezension von
Dr. Annette Harth
Verwaltungsprofessorin für Sozialwissenschaftliche und soziologische Grundlagen Sozialer Arbeit, HAWK Hildesheim/Holzminden/Göttingen
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Es gibt 2 Rezensionen von Annette Harth.

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Zitiervorschlag
Annette Harth. Rezension vom 14.04.2014 zu: Marcel Erlinghagen, Karsten Hank: Neue Sozialstrukturanalyse. Ein Kompass für Studienanfänger. Wilhelm Fink Verlag (München) 2013. ISBN 978-3-8252-3994-7. Reihe: UTB - 3994. Soziologie studieren. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15970.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.


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