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Rahel Jaeggi, Daniel Loick (Hrsg.): Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 09.12.2013

Cover Rahel Jaeggi, Daniel Loick (Hrsg.): Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis ISBN 978-3-518-29666-0

Rahel Jaeggi, Daniel Loick (Hrsg.): Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis. Suhrkamp Verlag (Frankfurt/M) 2013. 518 Seiten. ISBN 978-3-518-29666-0. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR.
Reihe: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft - 2066.

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Kapitalismus = krisenhafte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung

Die Kritik an der kapitalistischen und neoliberalen Entwicklung, die das individuelle und gesellschaftliche, lokale und globale Leben der Menschen als Sirene und Damoklesschwert bestimmt, wächst. Und zwar nicht nur in den ökonomischen und gesellschaftspolitischen Bereichen, sondern auch auf den Gebieten der philosophischen Denkstrukturen. Die Frage nach dem Haben und Sein (Erich Fromm), nach den materiellen Wünschen und Hoffnungen der Menschen (Harald Weinrich, Über das Haben, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14000.php), die Kritik an der egoistischen Raffgier nach Besitz, Geld und Reichtum wird lauter (Tomáš Sedláček, Die Ökonomie von Gut und Böse, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/12902.php), die Ekel-Benennungen des Systems als „Raubtier-, und Kamikaze-Kapitalismus“ stellen sich nicht nur als Beschimpfungen dar, sondern zeigen auch gleichzeitig auf, dass der Kapitalismus weder in die Gene der Menschen gelegt wurde, noch als urwüchsiges Denken und Handeln zu betrachten ist (David Graeber, Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus. Es gibt Alternativen zum herrschenden System, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13337.php). Die Aufforderungen zum Perspektivenwechsel, die sich spätestens seit den Berichten an den Club of Rome mit den Prognosen , dass das Ende des Wachstums erreicht sei (1972) als weltweite Warnungen etabliert haben, ziehen sich seitdem wie eine Schweißnaht durch die anthropologischen Analysen: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ (Weltkommission „Kultur und Entwicklung“, 1995). Der Begriff der Nachhaltigkeit erscheint dabei wie ein Orakel für ein vernunftbestimmtes, humanes Bewusstsein aus dem Dunkel des „Da-kann-man-ja-sowieso-nichts-machen“ (World Watch Institute, Zur Lage der Welt 2010: Einfach besser leben. Nachhaltigkeit als neuer Lebensstil).

Entstehungshintergrund und Herausgeberteam

Wer aus den Dilemmata, den scheinbar unausweichlichen und gewachsenen, menschengemachten Strukturen, die zu Ungerechtigkeiten, Egoismen und inhumanem Denken und Handeln von Menschen führen, einen Ausweg sucht, sollte philosophieren. Denn kritisches Denken ist es, das Wege aus der Unmenschlichkeit aufzeigen kann. In diesen Situationen sucht der Mensch nach Richtungsweisern und Leitplanken, die nicht als allzu tumbe „Ratgeber“ nach dem bekannten Muster – Mach dies, unterlasse das – daher kommen und meist allzu einfache Ja-Nein-Antworten parat haben. Dass dabei Gedanken, Theoriebildungen und Praxisbeispiele ins Spiel kommen, wie sie von Klassikern des erdgebundenen, sozial-politischen und sozial-philosophischen Denkens formuliert wurden, ist weder verwunderlich, noch überholt. Dass dabei einer nach wie vor aktuell ist, dem es mit seinem Werk gelang, den Leuten aufs Maul zu schauen und an ihren sorgsam verborgenen Gedanken und Mentalitäten zu rütteln, und der bereits in jungen Jahren die Zwiespältigkeiten, Lügen und Trügen der Menschen schonungslos und ungeschützt äußerte – etwa mit seiner Erkenntnis: „Gottlos ist nicht, wer die Götter der Menge verachtet, sondern, wer die Meinungen der Menge den Göttern anhaftet“ (Siegfried Landshut, Hrsg.: Karl Marx. Die Frühschriften, Stuttgart 1971, S. IX). Ja, die Schriften von Karl Marx gilt es (wieder) zu lesen; nicht, um sich das politische System zurück zu wünschen, das er mit seiner Philosophie begründete, sondern seine Werke zu benutzen, „aus der gesellschaftstheoretischen Analyse der Funktionsweise der ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse, die die kapitalistische Gesellschaft bildet, Maßstäbe für deren Kritik zu gewinnen“.

An der Humboldt-Universität in Berlin fand vom 20. – 22. Mai 2011 der Kongress „Re-Thinking Marx“ statt. Die dabei zu Wort gekommenen Theoretiker und Praktiker verstehen sich nicht in erster Linie als „Marxisten“; vielmehr sollte das Symposium dazu dienen, Postmarxisten, Neo-Aristoteliker, Neo-Hegelianer, Anthropologen, Transsubjektivisten, Rawl´isten. Säkularisten, Subjektivisten, Transformisten… zusammen zu bringen , um Aktualitäten in Marx‘ Werk auszuloten.

Rahel Jaeggi, die an der Humboldt-Universität Praktische Philosophie lehrt und der wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt/M., Daniel Loick, geben den durch weitere Arbeiten ergänzten Sammelband heraus.

Aufbau und Inhalt

Der Tagungsband wird in sechs Kapitel gegliedert: Freiheit und Gemeinschaft – Normativität und Kritik – Wahrheit und Ideologie – Recht und Subjektivität – Kapitalismuskritik und Klassenkampf – Politische Praxis.

Frederick Neuhauser, Philosoph am Barnard College der Columbia-University in New York, setzt sich in seinem Beitrag „Marx (und Hegel) zur Philosophie der Freiheit“ mit Marx‘ Idee der Freiheit auseinander. Dabei richtet er seinen Blick besonders darauf, welche Bedeutung der Freiheitsbegriff für die Kritik an der modernen Gesellschaft hat(te) und in welchem Maße Freiheit für das Konzept einer besseren, gerechteren und sozialen Welt stünde. Dabei ist sich der Autor durchaus bewusst, mit welchen philosophischen und historischen Schwierigkeiten und Irrungen er dabei konfrontiert wird. Er ist sich auch im klaren darüber, dass er dabei die Konfrontation mit dem Hegelschen Holismus suchen muss und Kritisches, Bedenkenswertes und Revisionsbedürftiges finden wird, das der auf den heutigen Menschenrechten beruhenden globalen Ethik widerspricht: „Indem er den Wert der liberalen Freiheit vollständig der Vergangenheit zuschreibt, vergisst Marx seine eigene Position, dass die Philosophie Freiheitskonzeptionen nicht getrennt von einer Untersuchung beurteilen kann, wie sie in bestimmten Gesellschaftsordnungen verwirklicht werden“. Das kann zwar nicht bedeuten, auf dem Gebiet der Freiheits- und Gerechtigkeitsnormen Relativierungen vorzunehmen; es erfordert aber sich bewusst zu machen, dass „für uns Moderne eine zufriedenstellende normative Philosophie nur erreicht werden kann, indem die verschiedenen ethischen Ideale, die wir von der Vergangenheit ererbt haben, mit der Absicht integriert werden, die Mängel, unter denen sie in ihren vergangenen Verkörperungen litten, zu überwinden“.

Der Lecturer am Philosophy Department der University of Sussex in Brighton/England, Andrew Chitty, reflektiert in seinem Beitrag „Menschliche Anerkennung und wahres Eigentum beim jungen Marx“ die in den Marxschen Texten auffindbaren Auffassungen und Postulate zum Kommunismus. Er rekurriert dabei auf die Hegelschen Begriffe Privateigentum und Vertrag und stellt die korrespondenten und konfrontativen Bezüge heraus, die letztlich für die Analyse, Adaption oder Intervention von Bedeutung sind. Die definitorische Deutung – „Der Sinn des Privateigentums – losgelöst von seiner Entfremdung – ist das Dasein der wesentlichen Gegenstände für die Menschen, sowohl als Gegenstand des Genusses wie der Tätigkeit“ -erfordert ja zwangsläufig, dass die Anerkennung des Anderen als Eigentümer und Person zur Bestätigung als bedürfnisbestimmter Mitmensch führen muss. Um also mit dem alten Hegel und dem jungen Marx zu sprechen, bedingt die Auseinandersetzung über die philosophischen, ethischen und historischen Wurzeln des Kommunismus nicht mehr und nicht weniger, als „eine Eigenschaft des Conditio humana zu benennen, die ebenso unmöglich zurückgewiesen werden kann“.

Der Philosoph und Bio-Ethiker von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Michael Quante, referiert mit seinem Beitrag „Das gegenständliche Gattungswesen“ über den intrinsischen Wert menschlicher Dependenz. Der Marxsche Begriff des „gegenständlichen Gattungswesens“, den er in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten entfaltet, gewinnt, so Quante, für die aktuelle, philosophische Auseinandersetzung mit der Marxschen Philosophie an Bedeutung; und zwar insbesondere dann, wenn die philosophische Reflexion Ausschau nach systematischen, aktuellen und tragfähigen Elementen in der Marxschen Philosophie halten will. Sie beginnt mit der Vergewisserung der Dimensionen, die der Marxschen Entfremdungskonzeption zugrunde liegen und führt zwangsläufig zur „Konzeption des gegenständlichen Gattungswesens“. Sie wird vom Autor kritisch aufgewiesen, mit offenen Fragen versehen und als Chancen für die Weiterentwicklung etwa des Autonomie-Bewusstseins und zum Nachdenken und Gestalten „eine(r) angemessene(n) Konzeption personaler Autonomie und eine (r) integrative(n) Ethik für endliche Wesen“ dargestellt.

Im zweiten Teil „Normativität und Kritik“ beginnt der Philosoph von der Universität Cambridge, Raymond Geuss, mit seinem Beitrag „Marxismus und das Ethos der Moderne“. Er bezieht sich mit seiner Zeitdiagnostik auf den von Friedrich Nietzsche geprägten Begriff der „transsubjektiven Autorität“, der im Marxismus dazu diente, die Bedeutung der menschlichen Arbeit als „Maßstab einer universalistischen Bewertungsweise und … Prinzip gesellschaftlicher Autorität“ bewusst zu machen. Damit aber befinden wir uns auf dem holprigen, naturwüchsigen und dem Gestalten ausgelieferten Weg, der hinführen kann zu der Erkenntnis, dass „eine Überwindung des Ethos der Moderne nur durch eine faktische Veränderung unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems möglich ist“.

Rainer Forst, Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt/M., formuliert in seinem Beitrag „Gerechtigkeit nach Marx“ eine Dialektik, die er in der These ausdrückt: Marx hat uns vor einem einseitigen und halbierten Gerechtigkeitsverständnis bewahrt; sein Denken enthält aber auch die Gefahr einer reduzierten Gerechtigkeit. Diese ambivalente Auffassung gilt es zu begründen. Zwar ist es unumstritten, beim Diskurs über Gerechtigkeit auf die Kontextgebundenheit von Gerechtigkeitskonzeptionen hinzuweisen, doch als Wert und Würde eines humanen Daseins kann der Gerechtigkeitsanspruch nur auf der Nachfrage beruhen: Wer bestimmt, wer was erhält! Damit kommt zur materialistischen Forderung nach Gerechtigkeit die politische, nämlich die Frage nach der sozialen und politischen Macht: „Demzufolge ist die Macht der Rechtfertigung die eigentliche Macht – die ‚geistige‘ Macht in unseren Köpfen, die uns bestimmte Verhältnisse als unveränderlich und natürlich vorstellt“.

Daniel Brudney, Philosoph von der University of Chicago, vergleicht in seinem Beitrag „Der junge Marx und der mittlere Rawls“ die Denkstrukturen und Konzeptionen, wie sie sich in der Marxschen „Kritik am Gothaer Programm“ und der Rawlschen Auffassung von „Gerechtigkeit als Fairness“ darstellen. Dabei zeigen sich Analogien und Ambivalenzen, die vom Autor systematisch und kongruent aufgewiesen werden. Es sind die unterschiedlichen (Lebens- und Tätigkeits-)Situationen und die Zweckbestimmungen, wie auch die Frage nach den Ursachen der Produktionsbedingungen, die den Autor dazu bringen, auf der Waagschale der Gerchtigkeitskonzeptionen von Marx und Rawls mehr Gleiches und Ähnliches denn Verschiedenes zu erkennen; freilich mit der Einschränkung, „dass Rawls sich irrt, wenn er sich auf Verteilungsprinzipien konzentriert anstatt auf die Struktur der produktiven Tätigkeit“.

Die Gender- und Geschlechterforscherin von der Universität Basel, Andrea Maihofer, stellt „Überlegungen zu einem materialistisch-(de)konstruvistischen Verständnis von Normativität“ an. Das Bedürfnis nach einem Turn, d. i. ein Bewusstseinswandel und Perspektivenwechsel, insbesondere bei der Veränderung der „bestehenden Verhältnisse“ und den „hegemonialen Bedingungen“, wächst. Dass dabei die Auffassungen von „Normativität“, wie sie etwa bei Foucault als kritische Reflexion unseres Denkens und Wahrnehmens zum Ausdruck kommen und bei Marx als „Evidenz der Wahrheit und Gewissheit von Normen“ sich dahingehend weitet, dass diese „nicht mehr im Glauben, in Gott oder der göttlichen Ordnung, sondern im menschlichen Wesen und seiner Fähigkeit zu rationaler Einsicht begründet“ werden. Dass dabei sich Relativierungen andeuten, die etwa in der Menschenrechtsdiskussion zu hemmenden und kontroversen Auffassungen führen, wird in den Analysen deutlich, wie auch die Forderung präsent: „Gesellschaftliche Ungleichheit und Ungerechtigkeit sind … Teil der dialektischen Struktur der herrschenden Normen und selbst wiederum in deren Unzulänglichkeit begründet“.

Im dritten Teil „Wahrheit und Ideologie“ stellt Terry Pinkard, Philosoph von der Georgetown University Washington, in seinem Beitrag „Hegels Naturalismus und die Zweite Natur“ die provokante These auf: „Marx hätte Hegelianer sein sollen“. Die Auseinandersetzungen mit dem Marxschen „Materialismus“ und dem Hegelschen „Idealismus“ füllen in der Geschichte und aktuell Bibliotheken. Die kontroverse und gleichzeitig provozierende Auffassung Marx‘ gegenüber der hegelianischen Dialektik – „Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muss sie umstülpen, um den rationalen Kern in der mystischen Hülle zu erkennen“ – wird vom Hegelianer in gleicher Weise zurück gegeben; Pinkard beschränkt sich deshalb in seiner Vergleichsanalyse auf den Knackepunkt des philosophischen Diskurses, nämlich der materialistischen Bewertung der (Aus-)Wirkungen des Kapitalismus. Hier allerdings zeigen sich auch, trotz einiger Versuche zur „Versöhnung“ der unterschiedlichen Denktraditionen, die Differenzen: „Das Hegelsche Ideal war … nicht die klassenlose Gesellschaft, sondern ein normatives System legaler und substantieller Gleichheit, in dem die vollständige wechselseitige Abhängigkeit der Handelnden von ihren kollektiven Anerkennungsstandards im öffentlichen Bewusstsein expliziter präsent ist“.

Der Frankfurter Philosoph Titus Stahl diskutiert mit seinem Beitrag „Ideologiekritik als Kritik sozialer Praktiken“, wie sich die Auseinandersetzung um das Begriffspaar „Ideologie“ und „Ideologiekritik“ zu einer „expressivistischen Rekonstruktion der Kritik falschen Bewusstseins“ und einer „Falschheit des Denkens“ entwickeln kann. Dazu reflektiert er die im philosophischen Diskurs vorfindbaren Formen der „Ideologiekritik als kognitivistische Kritik“, als „nichtepistemische Kritik“ und als „Gesellschaftskritik“. Dabei wird das Dilemma der Auseinandersetzung mit den Marx- und Engels-Diktionen und den (Jung-)Hegelianern deutlich: Das Plädoyer für eine „kognitivistische Festlegung“ (oder Vereinbarung oder Einigung?) beinhaltet denn auch, dass sie von der „materialistischen Einsicht“ abhängig ist und gleichzeitig mit ihr in Konflikt steht. Daraus ergibt sich, „dass Urteile in ideologischen Praktiken nicht primär moralisch falsch sind. Sie sind kognitiv falsch, weil sie praktische Unterscheidungen ausdrücken, deren Legitimität nur durch falsche Überzeugungen zweiter Ordnung gerechtfertigt werden können“. Die Auseinandersetzung mit Ideologie und -kritik sollte deshalb, so der Autor, nur als politisches Problem verstanden und gelöst werden.

Die Politikwissenschaftlerin von der University of California in Berkeley, Wendy Brown, stellt die Frage: „Wir säkular ist Marx‘ ‚Kapital‘?“. Die oftmals formulierten, als Entscheidungs- wie Entschuldigungskriterien benutzten Fragen nach der Religiosität des Marxschen „Kapitals“ treffen vehement auf die sich in vielen Bereichen des menschlichen Lebens verbreitenden Tendenzen zum Säkularen und Sakralen. Die Bemühungen, das Kapital „neu zu lesen“ ( vgl. dazu: Jan Hoff / Alexis Petrioli / Ingo Stützle / Frieder Otto Wolf, Hrsg., Das Kapital neu lesen. Beiträge zur radikalen Philosophie, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2006, 370 S. ) gehen einher mit der kritischen Nachfrage, inwiefern Marx ein „Religionskritiker“ gewesen sei. Wendy Brown zeigt am Begriff des „Warenfetischismus“ auf, wie Marx „die kapitalistischer Warenproduktion (als) eine spezifisch religiöse Mystifizierung von Mächten, Objekten, Dingen und Beziehungen“ kennzeichnet.

Das vierte Kapitel „Recht und Subjektivität“ ließe sich auch einleiten mit der Frage nach dem Kollektiv- und Subjektverständnis ( vgl. dazu auch: Gabriele Jähnert / Karin Aleksander / Marianne Kriszio, Hg., Kollektivität nach der Subjektkritik. Geschlechtertheoretische Positionierungen, transcript Verlag, Bielefeld 2013, 380 S. ). Christoph Menke, Professor für Praktische Philosophie an der Goethe-Universität, setzt sich auseinander mit Marx‘ Kritik des Rechts: „Die ‚andere Form‘ der Herrschaft“. Mit der „sozialen Kritik des Rechts“ leitete Marx seine kritische Revision der Hegelschen Rechtsphilosophie ein. Menke unternimmt nun den Versuch, „eine Kritik der sozialen Kritik des Rechts“ zu formulieren. Die Marxsche Herleitung, dass (bürgerliches) Recht Ideologie sei und nicht auf „sozialer Herrschaft“ beruhe und sich im Kampf des Privatrechts mit dem Sozialrecht artikuliere, stehe, so der Autor , „nicht in einem Verhältnis der Entsprechung, sondern in einer Spannung zueinander“ .Dieses Spannungsverhältnis entzweit die politischen Logiken des Rechts, kann aber gleichzeitig dazu beitragen, sie als dialektische Einheit zu verstehen.

Daniel Loick setzt sich in seinem Text „Abhängigkeitserklärung“ mit der Marxschen Rechtsformulierung im Zusammenhang mit dem subjektivem Sein und Bewusstsein der Menschen auseinander: Dem Diktum „Das Recht lässt, indem es zulässt“ stellt Loick die Marxsche Erweiterung „Das Recht lässt, indem es veranlasst“, dem eher passiv bestimmten Recht die aktive Form gegenüber. Wird diese Auffassung auf die Menschenrechte als allgemeingültige und unverrückbare Individual-, Kollektiv-, Freiheits- und Gleichheitsrechte angewandt, zeigen sich die Unterschiede, wie sie im Bürgerlichen (kapitalistischen) Recht und im emanzipatorischen (kommunistischen) Recht zutage treten. „Das Menschenrecht (ist) nicht einfach ein Anspruchsrecht der einzelnen Individuen an den Staat, sondern ruft auch einen Staat an, durch den die Einzelnen wiederum zu politischen Objekten werden“. Eine „praktische Politik der Abhängigkeit…, die von der menschlichen Dependenz ausgeht und ihr Rechnung tragen will…, ist zuerst das Recht, Rechte zu haben“. Eine Strategie, die das Recht über die „polizeiliche“ Funktion hinaus- und hinweghebt, wäre ein Recht, das lässt, indem es unterlässt.

Im fünften Kapitel „Kapitalismuskritik und Klassenkampf“ zeigt Rahel Jaeggi mit ihrer ambivalenten Frage „Was (wenn überhaupt etwas) ist falsch am Kapitalismus?“, drei Wege der Kapitalismuskritik auf. Ihre Vorgehensweise hat weder zum Ziel, das Falsche am Kapitalismus zu relativieren, noch gar den Kapitalismus zu verteidigen; vielmehr unternimmt sie den interessanten Versuch herauszufinden, ob die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung des Kapitalismus in grundsätzlicher und spezifischer Weise zu kritisieren ist. Aus der Fülle der kapitalismuskritischen Argumentationen und Analysen differenziert die Autorin drei Dimensionen heraus, die sie im einzelnen näher erläutert und belegt. Da ist zum einen die „funktional argumentierende Strategie“, die behauptet, dass der Kapitalismus als Gesellschafts- und Wirtschaftssystem deshalb nicht funktionieren kann, weil er intrinsisch dysfunktional und notwendig krisenhaft ist; zum anderen ist es die „moralische oder gerechtigkeitsorientierte Argumentation“, die feststellt, dass der Kapitalismus auf einer ungerechten Gesellschaftsstruktur beruht und sie sogar produziert; schließlich die „ethische Kritik“, die den Kapitalismus vorwirft, ein entfremdetes Leben der Menschen zu schaffen. In ihrer Analyse benennt sie eine Reihe von fruchtbaren und effektiven Aufschlüssen und Bewertungen, erkennt aber auch zahlreiche Defizite, die wirksame und überzeugende Argumente nicht deutlich genug zu Wort kommen lassen. Die Autorin plädiert dafür, die einzelnen „Wege“ zu einer umfassenderen „Kritik am Kapitalismus als Lebensform“ zusammen zu führen.

Der Sozialphilosoph an der Goethe-Universität, Axel Honneth, unternimmt mit seinem Beitrag „Die Moral im ‚Kapital‘“ den Versuch einer Korrektur der Marxschen Ökonomiekritik. Unter Bezugnahme auf die gängige Diktion, dass es im Werk von Karl Marx eine Kluft zwischen seinen historisch-politischen und den politisch-ökonomischen Schriften gibt, die sich in den Aussagen und Aufnahmen als unüberbrückbare Gegensätze darstellen, stellt Honneth die aufregende Frage: Was wäre aus der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie geworden, hätte er für sie die Einsichten seiner historisch-politischen Schriften ernster genommen? Die kluge „Wenn-Dann“-Analyse, die der Autor vornimmt, kommt zu dem Ergebnis, „dass sich erst mit der Einbeziehung der Moral in die politische Ökonomie eine Dimension des sozialen Kampfes innerhalb des Kapitalismus abzeichnet“; denn die Einbindung von moralische Orientierungen in die scheinbar zweckrationalen Interessenabwägungen führen im Marktgeschehen dazu, dass Spannungen sichtbar und Auseinandersetzungen erkennbar werden.

Der Historiker von der University of Chicago, Moishe Postone, fordert auf zum „Marx neu denken“. Weil weltweit anhaltende, katastrophale Wirtschaftskrisen, Massenarmut und strukturelle Ausbeutung Bestandteil der kapitalistischen Moderne sind und Kapitalismuskritik heute mehr denn je gefordert ist. Die Versuche, die durch Ware und Kapital gekennzeichneten, auf den ausbeuterischen Zugang zur menschlichen Arbeit beruhenden Herrschaftsformen des Kapitalismus zu affirmieren (Sebastian Dullien / Hansjörg Herr / Christian Kellermann, Der gute Kapitalismus. … und was sich dafür nach der Krise ändern müsste, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/8846.php) oder gar zu rechtfertigen, sind gescheitert, und sie scheinen das System eher zu stabilisieren denn in Frage zu stellen. Die traditionellen Auseinandersetzungen mit den Marxschen Theorien einer Kapitalismus- und Gesellschaftskritik beruhen, so der Autor, auf der Grundlage des Klassenbegriffs. Eine auf den tiefgreifenden, globalen ökonomischen, kulturellen und gesellschaftspolitischen Transformationsprozessen der Neuzeit fußende Analyse muss sich um die Fragen kümmern, die von der historischen Dynamik ausgehen, „vom Merkantilismus über den liberalen Kapitalismus im 19. Jahrhundert und den staatszentrierten Fordismus des 20. Jahrhunderts bis hin zum neoliberalen globalen Kapitalismus der Gegenwart“. Dem Plädoyer für eine „Wiederaufnahme einer robusten Kritik des heutigen Kapitalismus… die, befreit von den begrifflichen Fesseln jener Ansätze, die den Kapitalismus mit einer seiner historischen Konfigurationen identifizieren, unserem gesellschaftlichen Universum gerecht werden könnte“, ist zuzustimmen.

Der Soziologe von der Universität Jena, Hartmut Rosa zeigt mit seinem Beitrag „Klassenkampf und Steigerungsspiel: Eine unheilvolle Allianz“ auf die Marxschen Kapitalismusanalysen, Zeit- und Krisendiagnosen, die „zwei abstrakt zwar vereinbare, politisch-praktisch und zeitdiagnostik aber sehr gegensätzliche Kapitalismusanalysen und Krisendiagnosen gewinnen lassen, die sowohl im Hinblick auf die Formationsbestimmung, als auch für das Verständnis gegenwärtiger Problemlagen zu unterschiedlichen Konsequenzen führen“. Dabei legt er den Finger in die aktuelle Wunde der klassenkampftheoretischen Position. Es wäre zu erkennen: „Die Ungerechtigkeit resultiert aus der Entfremdung, aus einem verfehlten Weltverständnis der Menschen“. Kapitalismus- und Globalisierungskritik müsse sich mehr auf die Auseinandersetzungen mit den Fetischen „Wachstum“ und „egoistischem Mehr-Wert“ konzentrieren.

Der Soziologe von der Universität Flensburg, Hauke Brunkhorst, formuliert seine marxistischen Revisionen und Replik mit dem Titel „Von der Krise zum Risiko und zurück“. Weil Begriffe nicht nur Meinungen bilden, sondern auch Lebensauffassungen, Theorien und Ideologien bestimmen können, setzt sich Brunkhorst mit dem „Risikoparadigma“ in den Sozialwissenschaften auseinander. Er verweist darauf, dass der Marxismus sich sowohl als „Krisentheorie“, als auch als „reflexive Gesellschaftstheorie“, als „Theorie der Revolution“ und „Theorie der sozialen Evolution“ darstellt. Die aktuelle, globale und globalisierte Zustandsbeschreibung zur Lage der Welt, die der Autor mit den Begriffsreflexionen vornimmt, bringt die folgenden Konfliktanalysen zutage: „Aus staatlich eingebettete Religionen werden religiös eingebettete Staaten“ – „Aus staatlich eingebetteter Macht werden machteingebettete Staaten“ – „Aus staatlich eingebetteten Märkten werden markteingebettete Staaten“.

Im sechsten Kapitel „Politische Praxis“ beginnt der Philosoph von der Kingston University in London, Ètienne Balibar, mit der Reflexion zum „Klassenkampf als Begriff des Politischen“. Dabei geht er davon aus, dass die Marxschen Begriffe „Klassenkampf“ und „Politik“ eher von der Position der „Heteronomie der Politik“ als der „Autonomie“ ausgehen. Diese durchaus gewagte und von „reinen“ Marxisten sicherlich kritisierte Auffassung, dass „es zwischen Politik als Praxis (kursiv) und dem Politischen als Institution (kursiv) keinen wirklichen Unterschied mehr geben sollte“, leitet der Autor in einer Reihe von Argumentationen und Quellenverweisen her. Damit beantwortet er immerhin einige der aktuellen, kapitalismuskritischen Fragen: „Wie lassen sich die Verknüpfungen von Widerständen (kursiv) gegen die Universalität des Marktes… und den Alternativen (kursiv) zum Markt als eine Form der organisierten Kommunikation, des Austausches und der Interaktion zwischen autonomen menschlichen Tätigkeiten … denken, formen, anerkennen“.

Der Frankfurter Sozialwissenschaftler Alex Demirovi? fragt in „Kritik der Politik“, wie wir Hier und Heute das Politische denken sollten, angesichts der kontroversen historischen wie aktuellen Auseinandersetzungen darüber, was Marx (und Engels) über Politik gedacht haben, wie sie interpretiert wurden und werden, was sie uns (vielleicht) zu sagen hätten – oder wie wir mit ihren Aussagen, Theorien und Positionen als „Zeitgenossen“ argumentieren könnten; z. B. einen Diskurs über die Paradigmen „Herrschaft über Menschen“ und „Verwaltung von Sachen“ zu führen. Der Autor identifiziert für einen solchen Dialog drei Fragen: Er erkennt ein Defizit, dass der Marxsche und Engelsche Begriff „Verwaltung von Sachen“ in der kritischen Auseinandersetzung bisher kaum aufgenommen wurde. Zum anderen wird das Marxsche Verständnis von Technik und Wissenschaft zwar aufgenommen, aber im Hinblick auf die Analyse zur praktischen Ausübung des Machens und Wissens wenig reflektiert. Zum dritten schließlich die Umkehrung der Perspektive: „Die Kritik an Marx‘ Kritik der Politik bringt eine Verantwortung für die Kritiker mit sich“.

Der Soziologe von der Kunstakademie Düsseldorf, Oliver Marchart geht mit seinem Text „Mit Marx am Strand“ auf die Ontologie ein, die Karl Marx zugeschrieben wird und setzt sich mit seiner Rede von der „negativen Ontologie des Marxismus“ mit der Suche nach dem gesellschaftlichen Sein im proletarischen, abhängigen und ausbeuterischen Dasein der Menschen auseinander. Mit den Adornoschen, Althusserschen, Laclauschen, Mouffeschen und anderen Positionen werden die Argumente und Gegenargumente zur „Hantologie“ im Marxismus deutlich, dass nämlich der „Antagonismus … die sozialen Verhältnisse nicht immer zum Tanzen, aber doch immer zum Erzittern bringt“.

Fazit

Das Vertrauen in die Rationalität des lokalen und globalen kapitalistischen Wirtschaftssystems hat spätestens seit den weltweiten Krisen in der Welt rapide an Boden verloren. Doch die Konsequenzen, die einen Systemwechsel erforderlich machen müssten, werden bisher in der Politik wie im ökonomischen Bewusstsein der Menschen nicht gezogen. So ist es nicht verwunderlich, dass angesichts der bisher eher ohnmächtigen Versuche, einen Perspektivenwechsel zu vollziehen, Fragen nach Alternativen immer lauter werden. Dass Kapitalismuskritik in Theorie und Praxis des menschlichen Denkens und Handelns immer notwendiger wird, und dass dabei die Nachschau und Auseinandersetzung mit den Schriften von Karl Marx einen Ausweg aus den Fehlentwicklungen der Menschheit zeigen könnten, dürfte mittlerweile zum kritischen Potential einer Auseinandersetzung mit Welt gehören: „Die Kapitalismuskritik erlebt eine Renaissance, nicht nur da, wo sie jenseits aller Konjunkturen ohnehin immer schon hartnäckig(weiter)betrieben worden ist, sondern quer durch die politischen wie auch wissenschaftlichen Lager“. Dass man, um sich mit Marx zu beschäftigen, kein Marxist sein muss, sondern man im wissenschaftlichen Diskurs, disziplinär und interdisziplinär auch unterhalb des Bezugs auf das Gesamtsystem fündig werden kann, ob als „Steinbruch“- oder als „Nachdenk“- Materialien, wird in dem Sammelband „Nach Marx“ deutlich. Denn Marx zu kritisieren, kann ja nicht heißen, ihn zu vergessen oder als Giftstoff abzulegen, sondern sich in der erforderlichen Kapitalismuskritik (auch) mit seiner Gesellschafts- und ontologischen Kritik auseinander zu setzen.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 09.12.2013 zu: Rahel Jaeggi, Daniel Loick (Hrsg.): Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis. Suhrkamp Verlag (Frankfurt/M) 2013. ISBN 978-3-518-29666-0. Reihe: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft - 2066. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/15989.php, Datum des Zugriffs 16.10.2024.


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