Jan Sonntag: Demenz und Atmosphäre
Rezensiert von Dr. sc. mus. Monika Nöcker-Ribaupierre, 27.02.2014
Jan Sonntag: Demenz und Atmosphäre. Musiktherapie als ästhetische Arbeit. Mabuse-Verlag GmbH (Frankfurt am Main) 2013. 335 Seiten. ISBN 978-3-86321-153-0. D: 33,90 EUR, A: 34,90 EUR, CH: 44,50 sFr.
Autor
Jan Sonntag, Dr. sc. mus., ist Dipl. Musiktherapeut, Heilpraktiker für Psychotherapie und Yogalehrer BDY/EYU. Er arbeitet als Musiktherapeut in eigener Praxis und in mehreren Hamburger Pflegeeinrichtungen sowie als Forscher, Berater, Dozent und Autor seit 1999 schwerpunktmäßig im Bereich Demenz. Er lehrt an Hochschulen, ist Mitglied der Deutschen Expertengruppe für Demenzbetreuung (DED) und Redakteur der Musiktherapeutischen Umschau. 2010 veröffentlichte er u.a. zusammen mit Dorothea Muthesius das Grundlagenwerk „Musik-Demenz-Begegnungen. Musiktherapie für Menschen mit Demenz“ im Mabuse-Verlag.
Entstehungshintergrund
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um seine Dissertation am Institut für Musiktherapie an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg 2013.
Jan Sonntag entwickelt ein Konzept einer musiktherapeutischen Begleitung von schwer dementen Pflegeheimbewohner. Er beschreibt hier seinen Forschungsprozess, der, verstanden als methodisch gestütztes Nachdenken über sein in therapeutischer Arbeit gesammeltes Material, letztlich die praktische musiktherapeutische Arbeit in dem seit Jahren praktizierten „Hamburger Modell der Besonderen Stationären Dementenbetreuung“ theoretisch und interdisziplinär verortet.
Der berufliche Erfahrungshintergrund des Autors beruht auf der intensiven Auseinandersetzung mit dem Phänomen Demenz über einen Zeitraum von 10 Jahren, vorwiegend auf Begegnungen mit hochbetagten Menschen in stationärer Pflege. Jan Sonntag beschreibt eine therapeutische Konzeption aus der Praxis für die Praxis. Ein besonderer Aspekt musiktherapeutischer Arbeit, die Erlebnisdimension von Atmosphären, wird theoretisch begründet und handlungspraktisch entwickelt. Diese Erlebnisdimension, in der „Unbehagen und Wohlbefinden gefühlsbezogen wahrgenommen werden“, führt zu wortlosen Antworten auf die Frage, „wie man sich befindet, dort, wo man sich befindet“ und damit zum Nachspüren der Beziehungen zwischen Demenz und Musik über die Dimension von Atmosphären. Darauf fußt das theoretische und praktische Anliegen des Autors, wie Atmosphären therapeutisch gestaltet werden können.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in sieben Teile gegliedert.
1. Einführung: Die Einleitung beinhaltet eine detaillierte Beschreibung verschiedener praxisrelevanter Problemstellungen in Bezug auf Demenz und Musiktherapie, die sich daraus ergebenden Fragestellungen und Möglichkeiten eines wissenschaftlichen Zugangs sowie theoretische Perspektiven und Zielsetzungen für die durchgeführte qualitative Forschung.
2. Institutioneller Kontext: Hier wird die Etablierung von Musiktherapie im Rahmen von Konzeption und Organisation institutioneller Altenpflege am Beispiel der Entwicklung der Hamburger Stationären Dementenbetreuung beschrieben. Besonderer Fokus liegt auf dem Konzept der Milieutherapie, das den Boden für eine auf Atmosphären und Umwelt bezogene musiktherapeutische Konzeption darstellt. Anschließend wird das Hamburger Modell Musiktherapie erläutert incl. Organisation, Aufgaben und aktuelle Entwicklung.
3. Forschungsprozess: Das untersuchte Material war ursprünglich nicht für die wissenschaftliche Untersuchung gesammelt, es handelt sich um Aufzeichnungen von verschriftlichtem Erlebten aus der Praxis, aus Supervision und Reflexionen. Der beschriebene Forschungsprozess folgt den Kriterien qualitativer Sozialforschung, den Grundlagen zur Forschungsmethodik künstlerischer Therapien sowie der Grounded Theory. Das Material wird auf dieser Grundlage ausgewählt, aufbereitet, sortiert und verdichtet d.h. sprachlich präzisiert. Die Erlebnisqualität des Atmosphärischen erscheint dem Autor am angemessensten in einer Symbiose von Künstlerischem und Wissenschaftlichem beschreibbar. Dieses Vorgehen versteht er als Entwicklung einer „Sehhilfe“ und als Forschungsziel.
4. Interdisziplinärer Hintergrund: Um den Begriff der Atmosphäre theoretisch zu verdichten, bezieht Sonntag die folgenden Wissensgebiete mit ein: Ökologie, Spiritualität, Ästhetik, Anthropologie, Psychologie, und Systemtheorie sowie gleichgeordnet die Kunst, was er alles in logischer Folge zum Verständnis seines Prozesses skizzenhaft verwebt. Besonders ausführlich hebt er philosophische Gedanken zu dem Begriff Atmosphäre hervor, unter besonderer Berücksichtigung der Atmosphärentheorie von Gernot Böhme – einem Philosophen, der auch schon andere musiktherapeutische Forscher beeinflusst hat.
5. Atmosphäre als Verstehenszugang: In diesem Teil stellt Sonntag dar, wie sich aus der Perspektive von Atmosphären die theoretische Darstellung im Hinblick auf den Forschungsgegenstand weiterführen lässt. Hier werden die drei folgenden Themen Demenz, Musik und Therapie in Verknüpfung mit Atmosphären verstanden und miteinander in Beziehung gesetzt. Zum Thema Demenz: die Atmosphäre im Leben und Erleben Demenzbetroffener wird mit Exkursen u.a. zu Traumwelten, zu Gedanken zum Leben im Augenblick und über Musikalisierung der Sprache erläutert.
Musik: wie kann Atmosphäre als Verstehenszugang zur Musik dienen? Da den wesentlichen Qualitäten von Musik im therapeutischen Setting ein bestimmtes Verständnis von Musik zugrunde liegt, stellt Sonntag ausgehend von den Ergebnissen seiner Theoriezusammenhänge Überlegungen zum an der Atmosphäre orientierten Musikverständnis an. Musik ist nicht mehr nur komponierter Klang sondern ein „sozio-kulturelles Phänomen in psycho-bio-sozialen Zusammenhängen“. Er untersucht Musik als Raumkunst, in ihrer Eigenschaft, den Raum zu erleben, Sinnlichkeit zu wecken und streift Bereiche wie Atmosphären in zeitgenössischer Musik – der sog. Sound Art (unter Zitierung von Böhme, Ligheti, Weymann, Eno). Das Verhältnis Klang und Atmosphäre fasst er wie folgt zusammen: „Atmosphäre ist nicht Teil von Musik, sondern Musik ist der Stoff, aus dem Atmosphäre besteht“. Musik ist dann Atmosphäre, wenn sie als Klang wahrgenommen wird. Atmosphären haben nicht per se einen therapeutischen Wert, sie können Leben ebenso verhindern wie zerstören. Er geht der Frage nach, welche Qualitäten Atmosphären aufweisen müssen, um als therapeutisch wirksam gelten zu können. Dem widmet sich Sonntag ausführlich unter dem Aspekt der Situation Demenz und zitiert hierzu zahlreiche Fallvignetten. Auf diese Weise entsteht eine Verbindung zwischen therapeutischen Atmosphären und der damit verbundenen Bedeutung musikalischer Angebote als einer musiktherapeutischen Konzeption.
6. Atmosphäre als handlungsleitendes Konzept: Im Folgenden geht es um die Entwicklung des Phänomens von Atmosphären als handlungsleitendem Konzept. Atmosphären entstehen aus dem Gesamt vieler Mitwirkender, aus seelischen Befindlichkeiten, aus sozialen, materiellen und räumlichen Umweltfaktoren. Dieser praxisbezogene Teil unterscheidet zwischen der Beziehungsgestaltung mit den demenzbetroffenen Personen und ihren Begleitern = personenbezogenes Handeln und der Mitgestaltung ihrer sozialen und räumlichen Umgebung = milieubezogenes Handeln. Daraus erschließt sich dem Leser die therapeutische Potenz, die in der Arbeit mit Atmosphären liegt.
7. Zusammenfassung: Abschließend und zusammenfassend wird an der musiktherapeutischen Begleitung demenzbetroffener Menschen herausgearbeitet, „welche Rolle die sorgsame Beachtung von Atmosphären in einer Gesellschaft spielen kann, die sich ihren kognitiv beeinträchtigten Mitgliedern zuwendet, anstatt sie auszugrenzen, und damit sich selbst um die Dimension von Atmosphären bereichert.“
Diskussion
Jan Sonntag legt mit diesem Buch ein überzeugendes Bekenntnis für Atmosphären als zentralem Aspekt in der Begleitung von Demenz betroffener Mitmenschen ab. Fußend auf jahrelanger Erfahrung und sorgfältigen Recherchen, fundiert durch umfangreiche qualitative Forschungsarbeit, verknüpft er philosophische Konzepte mit der Erfahrungswelt Demenz. Mit dem Fokus auf Atmosphären entwickelt er konsequent das Modell eines ästhetischen Verständnisses von Therapie überhaupt.
Dieses in jeder Beziehung anspruchsvolle Buch eignet sich daher für eine ganz weitgefächert interessierte Leserschaft. Wissenschaftlich Tätige, Forschende in Theorie und Praxis, professionell mit dementen und anderen kognitiv eingeschränkten Menschen Arbeitende – oder auch Menschen, die Freude an der Verfertigung von Gedankengängen haben und/oder die Atmosphären im näheren und weiteren Umfeld eine Bedeutung beimessen – sie werden mit Gewinn auch einzelne Teile dieses Buches lesen können.
Fazit
Es ist ein gut zu lesendes, hoch wissenschaftliches und zugleich in seinem Praxisteil auch menschlich anrührendes Buch, das den Begriff Demenz in seinen vielschichtigen Dimensionen für Betroffene und Begleitende in ein neues Licht rückt – und gleichzeitig den Blick für Menschen schärft, die sich nicht die gesellschaftlich akzeptierten weil brauchbaren Normen einfügen können. Das ist Jan Sonntag in überzeugender Weise gelungen.
Rezension von
Dr. sc. mus. Monika Nöcker-Ribaupierre
Dipl. Musiktherapeutin DMtG, Vice President der International Society for Music in Medicine ISMM.
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Es gibt 29 Rezensionen von Monika Nöcker-Ribaupierre.
Zitiervorschlag
Monika Nöcker-Ribaupierre. Rezension vom 27.02.2014 zu:
Jan Sonntag: Demenz und Atmosphäre. Musiktherapie als ästhetische Arbeit. Mabuse-Verlag GmbH
(Frankfurt am Main) 2013.
ISBN 978-3-86321-153-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16001.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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