Gabriele Strobel-Eisele, Gabriele Roth (Hrsg.): Grenzen beim Erziehen
Rezensiert von Prof.em. Dr. Micha Brumlik, 22.04.2015

Gabriele Strobel-Eisele, Gabriele Roth (Hrsg.): Grenzen beim Erziehen. Nähe und Distanz in pädagogischen Beziehungen.
Verlag W. Kohlhammer
(Stuttgart) 2013.
202 Seiten.
ISBN 978-3-17-022308-0.
26,90 EUR.
Reihe: Pädagogik.
Thema
Die vor allem durch die Skandale an der Odenwaldschule entbrannte Debatte um durch pädagogische Fürsorglichkeit getarnten sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen hat dazu geführt, dass ein vor allem in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik gerne aufgerufenes Prinzip, der seit der Antike bekannte „pädagogische Eros“ neu – diesmal unter sozialwissenschaftlichen Vorzeichen – diskutiert wird. Der Klärung dieses Begriffs, seiner Tradition, seiner Grenzen und Möglichkeiten sowie seiner möglichen Aktualität soll ein im Jahr 2013 von Gabriele Strobel-Eisele sowie Gabriele Roth herausgegebener Band unter dem Titel „Grenzen beim Erziehen. Nähe und Distanz in pädagogischen Beziehungen“ dienen.
Aufbau
Der gut lesbare, auf Basis einer Ringvorlesung entstandene Band widmet sich dem Thema in drei Abschnitten.
Während sich der erste Teil grundsätzlichen, begriffsgeschichtlichen Fragen widmet, geht es im zweiten Teil um „Formen sexuellen Mißbrauchs und professionelles Handeln“. Hier werden Täter und Täterstrategien ebenso untersucht wie die Psychodynamik des Kindes in der Folge sexueller Übergriffe. Der dritte Teil erörtert schließlich praxisnah unterschiedliche Gestaltungsweisen der beim Umgang mit kleineren Kindern in pädagogischen Institutionen unumgänglichen körperlichen Nähe und psychischen Intimität.
Ausgewählte Inhalte mit Diskussion
Der Sammelband enthält durchgängig sehr klar geschriebene und gegliederte Texte, deren Literaturhinweise sich jeweils auf die nötigsten klassischen Texte aber auch auf jeweils aktuelle, wichtige Forschungsliteratur beziehen. Vor allem die systematischen Beiträge von Klaus Prange, Dorle Klika, Jürgen Oelkers und Hermann Giesecke machen klar, worum es in systematischer Hinsicht bei dieser Debatte überhaupt gehen kann.
Während Klaus Prange überzeugend darlegt, dass sich als Grundsatz einer Ethik pädagogischer Beziehungen keineswegs ein wie auch immer getönter Begriff der Liebe eignen kann, sondern nur ein Begriff von „Achtung“, versuchen Dorle Klikas und Hermann Gieseckes Untersuchungen zum Begriff des „pädagogischen Bezugs“ und der „pädagogischen Beziehung“ zu zeigen, dass mindestens diese Begriffe, soziologisch-interaktionistisch bzw. anthropologisch verstanden, nach wie vor für eine angemessene Analyse des pädagogischen Feldes unverzichtbar sind.
Hervorzuheben ist der Beitrag von Jürgen Oelkers, dessen Interventionen und Grundsatzstudien zur Ideologielastigkeit der deutschen Reformpädagogik in seinem Beitrag kurz, aber prägnant und dafür in der Sache umso überzeugender zusammengefasst sind.
Dass es bei alledem nicht um Geschichte, sondern um alltägliche Probleme geht, erweisen die im zweiten Teil, vor allem psychologisch ausgerichteten Beiträge von Gabriele Roth und Brigitte Becker, während Barbara Schwarz luzide in den Dschungel des einschlägigen Familien- und Sozialrechts einführt.
Unter den im dritten Teil versammelten Kapiteln zur Gestaltung pädagogischer Beziehungen sticht vor allem der von Anja Seifert und Monika Sujbert verfasste Beitrag zur Konstruktion des Phänomens von Nähe und Distanz hervor, dem es in hervorragender Weise gelingt, anhand einer Untersuchung zunächst völlig unauffälliger Szenen – im Rahmen einer Phänomenologie pädagogischen Alltags – nachzuweisen, welche komplexen Leistungen sowohl Erzieher als auch Kinder zu erbringen haben, um eine gelungene Praxis zu ermöglichen.
Fazit
Als Fazit ist kein anderer Schluss möglich, als dass dieses Buch es Leserinnen und Lesern ermöglicht, sich einen ebenso profunden wie umfassenden Überblick über ein heiß umstrittenes, an unterschiedlichsten sozialen und pädagogischen Orten debattiertes Thema zu verschaffen – und zwar so, dass man sich nach gründlicher Lektüre wirklich auf der Höhe der Debatte bewegen kann.
Rezension von
Prof.em. Dr. Micha Brumlik
Fachbereich 4 Erziehungswissenschaften der Goethe Universität Frankfurt am Main, dzt. „Senior Advisor am Selma Stern Zentrum jüdische Studien Berlin/Brandenburg
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Zitiervorschlag
Micha Brumlik. Rezension vom 22.04.2015 zu:
Gabriele Strobel-Eisele, Gabriele Roth (Hrsg.): Grenzen beim Erziehen. Nähe und Distanz in pädagogischen Beziehungen. Verlag W. Kohlhammer
(Stuttgart) 2013.
ISBN 978-3-17-022308-0.
Reihe: Pädagogik.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16025.php, Datum des Zugriffs 08.12.2023.
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