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Matthias Eckoldt: Kann das Gehirn das Gehirn verstehen?

Rezensiert von Prof. Dr. Ruth Simsa, 05.03.2014

Cover Matthias Eckoldt: Kann das Gehirn das Gehirn verstehen? ISBN 978-3-8497-0002-7

Matthias Eckoldt: Kann das Gehirn das Gehirn verstehen? Gespräche über Hirnforschung und die Grenzen unserer Erkenntnis. Carl Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2013. 250 Seiten. ISBN 978-3-8497-0002-7. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,90 sFr.
Reihe: Systemische Horizonte.

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Thema

In dem Buch sind Gespräche mit führenden deutschen HirnforscherInnen versammelt, die auf der gesamten Breite des Wissenschaftsfeldes arbeiten. Thema sind zum einen der aktuelle Stand der Neurowissenschaft zum anderen auch deren Grenzen. Die Gespräche drehen sich um Neuroprothetik, die Wirkweise von Psychopharmaka, Ton- und Sprachverarbeitung im Gehirn, um Strategien und Strukturen des Gedächtnisses, um besondere Eigenschaften neuronaler Netze, konkurrierende Paradigmen und um die Wahrheitsproblematik. Ein Bezugspunkt ist das von einigen Neurowissenschaftlern herausgegebene Manifest zu Gegenwart und Zukunft der Gehirnforschung.

Der Herausgeber und seine GesprächspartnerInnen

Matthias Eckoldt, studierte Philosophie, Germanistik sowie Medientheorie und promovierte mit einer Analyse der Massenmedien auf Grundlage der Luhmann´schen Systemtheorie und der Foucault´schen Machtanalytik. Er ist Autor einiger Fachbücher und vieler Radiomanuskripte zu geistes- und naturwissenschaftlichen Themen. 2013 wurde sein Theaterstück „Wie ihr wollt – Ein Lustspiel zur Freiheit“ am Landestheater Detmold uraufgeführt. Zurzeit lehrt er als Schreibdozent an der FU Berlin.

Die Gespräche werden geführt mit Hans J. Markowitsch, Gerald Hüther, Henning Scheich, Christoph von der Malsburg, Gerhard Roth, Angela Friederici, Randolf Menzel, Wolf Singer und Frank Rösler.

Aufbau und Inhalt

Ausgangspunkt des Buches ist offenbar die Faszination eines Fachfremden, Neugierde und der Wunsch, Prozesse des Gehirns zu verstehen. Insbesondere der Nachweis der Plastizität des Gehirns steht am Beginn des Buches, also von dessen Fähigkeit, seine Struktur lebenslang in Abhängigkeit von seiner Benutzung zu verändern. Dieser Nachweis hat einen entscheidenden Einschnitt in der Geschichte der Neurowissenschaft bedeutet. Unsere Fähigkeiten sind also nicht von vornherein im Gehirn angelegt, sondern werden durch Erfahrungen in die neuronalen Muster eingeschrieben (Bahnung). Demgemäß können uns neue Erfahrungen „in jedem Alter auf andere Lebens- und Gehirnbahnen katapultieren.“ 14

Die zweite große Erkenntnis der Gehirnforschung ist die, dass das Gehirn ein sich selbst organisierendes System darstellt. Längerfristige Bahnungen werden nur angelegt, wenn man etwas selbst versteht, für sinnvoll erachtet und sich dafür begeistert, von außen kann das kaum beeinflusst werden. Dies passt zu sozialwissenschaftlichem, auf Heinz von Foerster, Ilya Prigogine, Francisco Varela, Humberto Maturana u.a. zurückgehenden sozialwissenschaftlichem Paradigma der Selbstorganisation. Das Gehirn ist demnach ein aktives System, das in Eigenregie seine inneren Zustände selbst erzeugt. Dies hat auch Auswirkungen auf Erkenntnisgewinnung, in den Worten von Gerhard Roth: „Klar ist aber, dass das Hirn die Welt nicht so wahrnimmt, wie sie ist, sondern so, wie sie für das Überleben des Organismus relevant ist.“ 18

Eine Schlussfolgerung des Buches ist, dass das Gehirn sich (noch) nicht selbst versteht, dass die verschiedenen dargestellten Arten des Unverständnisses jedoch ein überraschend hohes Maß an Erklärungspotenzial enthalten. Offen ist z.B. noch, wie Informationen im Gehirn gespeichert werden. Es gibt kein dafür zuständiges Zentrum im Gehirn, auch die Vorstellung, dass Informationen in einzelnen Neuronen hinterlegt sind, ist nicht mehr haltbar. Auch die Vorstellung, bestimmte Gehirnregionen seien für bestimmte Funktionen verantwortlich, ist nach neueren Erkenntnissen nicht haltbar, vermutlich wäre stattdessen ein dynamisches Modell der Funktionen nötig, welches allerdings eine Basistheorie benötigen würde, die noch nicht in der geforderten Komplexität vorhanden ist.

Die einzelnen Gespräche beziehen sich auf die allgemeinen Ausgangsthemen sowie auch auf das jeweilige Spezialgebiet der GesprächspartnerInnen. Die angesprochenen Themen sind sehr vielfältig und werden zudem aus sehr unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Fragen etwa zur Selbstorganisation des Gehirns, zu Paradigmenwechseln und Stand der Forschung in den Neurowissenschaften, zum Geist-Materieproblem, zur Willensfreiheit, zum Bewusstsein und zur Pädagogik werden in allerdings den meisten Gesprächen thematisiert. Im Folgenden werden exemplarisch die Fokussierungen einiger ausgewählter Gespräche kurz dargestellt.

Markowitsch z.B., der v.a. über Gedächtnis und Gedächtnisstörungen, Bewusstsein und Emotion arbeitet, geht u.a. auf das Phänomen von Fehlerinnerungen ein und betont, dass das „autobiographische Gedächtnis größtenteils konstruiert ist.“ 25 Die Funktion der Fehlerinnerungen liegt v.a. in der Vermeidung kognitiver Dissonanzen, man erinnert sich also so, wie es dem konsistenten Bild von sich selbst entspricht. Als spannendste, allerdings noch weitgehend offene Frage sieht er jene nach der Entstehung von Bewusstsein im Gehirn. Er sieht weiters einen Paradigmenwechsel in der Gehirnforschung als notwendig an, dem steht allerdings der gegenwärtig hohe Outputdruck im Wissenschaftssystem entgegen, der den Erkenntnistrieb zum Erkenntnisbetrieb wandelt. Interessant sind auch seine Ausführungen zur Entscheidungsfindung. Entscheidungen sieht er demnach als komplett determiniert, durch die Lebensgeschichte, die Gene und durch aktuelle Umweltgeschehnisse bzw. auch den Zufall. Die Zuschreibung der Verantwortlichkeit für die Handlung ist davon strikt zu unterscheiden. eine davon unterschiedene Sache. „Wir handeln aufgrund unseres aktuellen Gehirnzustandes“ 40 Den freien Willen sieht er demnach, wie auch Freud, als Illusion.

Gerald Hüther wiederum startet gesellschaftskritisch und diagnostiziert, „dass wir auf der Suche nach einem besseren Leben in eine Sackgasse geraten sind.“ Angesichts begrenzter Ressourcen müssten neue Qualitäten des Wachstums zum Tragen kommen. Wir müssten demnach eine „Kultur entwickeln, in der Menschen die Gelegenheit bekommen, das, was in ihnen als Potenzial angelegt ist, zur Entfaltung zu bringen.“ 49 Die Hirnforschung ist in dem Zusammenhang insofern relevant, als es weder einen festen Bauplan für die Entwicklung des Hirns gibt, noch dieses sich im Lauf des Lebens zunehmend abnutzt. Demgegenüber wird von erfahrungsabhängiger Neuroplastizität ausgegangen, also der Eigenschaft des Gehirns, lebenslang seine neuronale Struktur zu verändern, in Zusammenhang mit wichtigen Erfahrungen: „Bei einer solchen Erfahrung werden der kognitive und der emotionale Anteil eines Netzwerkes im präfrontalen Cortex miteinander verkoppelt.“ 50

Dennoch werden ihm zufolge gegenwärtige Erwartungen durch vorgeburtliche Erfahrungen geprägt. Als zentrale vorgeburtliche Erfahrungen beschreibt Hüther: „Ich war verbunden und ich bin gewachsen.“ 50 Diese Urerfahrung prägt die spätere Erwartungshaltung nach Verbundenheit und Freiheit. Auch diese Überlegungen werden in Zusammenhang mit dem Thema eines neurowissenschaftlich fundierten Gesellschaftsentwurfs genannt, allerdings nicht weiter ausgeführt.

Im Zusammenhang mit der Plastizität des Gehirns kommt Hüther auf das Thema auf Spielen und Frühförderung zu sprechen. Das Spiel ist demnach zu nichts anderem da als zu sehen, was alles geht. Frühförderung verkürzt die Phase des freien, unbekümmerten Spiels und hindert Kinder letztlich daran, ihre angelegten Potenziale zu entdecken. Das Gehirn ist kein Muskel, der trainiert werden kann, es nützt demnach auch wenig, sich besonders anzustrengen. Umbauprozesse im Gehirn finden nur statt, wenn emotionaler Zentren aktiviert sind, wodurch es zu vermehrter Freisetzung sogenannter neuroplastischer Botenstoffe kommt: „Das heißt, das Hirn hat einen unbestechlichen Selbstorganisationsmechanismus. Es lernt nicht alles, sondern es lernt nur das, was für die betreffende Person wirklich bedeutsam ist.“ Oder, noch mehr auf den Punkt gebracht: „Ohne Begeisterung tut sich nichts im Hirn.“ 53 Daraus folgende Konsequenzen für Schulsysteme werden in der Folge diskutiert. Als bahnbrechend sieht Hüther neben der lebenslangen Veränderbarkeit des Gehirns, dass entgegen früheren Annahmen das Gehirn durch Unterricht und Erziehung nicht notwendigerweise zur Bildung von Synapsen angeregt werden muss. Im Gegenteil, zu Beginn der Hirnentwicklung gibt es viel mehr Verknüpfungen als am Ende übrig bleiben, die Frage lautet daher, was getan werden kann, damit weniger davon verschwinden.

Henning Scheich legt einen Schwerpunkt auf Musikverarbeitung, anhand der Reaktion auf Musik, wird verdeutlicht, wie das Gehirn bei der Verarbeitung neuer Reize immer nach Regeln sucht, in die neue Informationen einzubetten sind. „Gehirne sind neugierig, spekulieren viel und versuchen immer, eine Regel herauszufinden.“ 72 In Zusammenhang mit Fragen des Lernens kritisiert er Tendenzen der Pädagogik (in seinen Worten: Friede-Freude-Eierkuchen-Pädagogik, S. 78) zu reinem Belohnungslernen, das rasch zu Habituationseffekten führt. Diese werden vermieden „wenn es auch Misserfolge mit möglichen Sanktionen gibt. Die Gehirne werden wieder leistungsbereit. Es kommt auf eine letztlich positive Bilanz von Erfolgen an.“ 77

Zentrale Schlussfolgerung ist seine Forderung nach möglichst individueller Förderung. Wie auch andere ForscherInnen im Buch betont er den hohen Anteil unbewusster Prozesse im Gehirn: „Sie könnten nicht einen Tag überstehen, wenn nicht die Mehrzahl der ablaufenden Prozesse unbewusst wären.“ 83, die Frage der rationalen Handlungsplanung und des freien Willens beantwortet er humorvoll mit der Aussage: „Wir sind ja in der Regel schon ganz froh, wenn wir wenigstens nachträglich ein Motiv für unsere Handlungen finden.“ 83

Gerhard Roth geht aus vom radikalen Konstruktivismus, der zunehmend auch naturwissenschaftliche Unterstützung findet. Das Gehirn nimmt die Welt mittels grundlegender Übersetzungsvorgänge wahr (z.B. von Lichtfrequenzen zu Farben) und orientiert sich dabei daran, was für das Überleben wichtig ist (mit Ausnahmen, Radioaktivität etwa kann nicht wahrgenommen werden, die Evolution hat offenbar noch nicht genug Zeit geboten, dies zu lernen). In Zusammenhang mit der Frage nach dem Bewusstsein, geht auch er davon aus, dass dieses „eine Art Ausnahmezustand ist“ 124, da das Hirn möglichst Routinevorgänge einrichtet, die ohne Einsatz des Bewusstseins auskommen. Bewusstsein ist energetisch aufwändig und in gewisser Weise einschränkend: „Wenn das Bewusstsein in vollem Einsatz ist, dann können wir nichts anderes tun.“ 125 Was Bewusstsein wirklich ist, bleibt aber ein eher philosophisches Problem, neurophysiologisch sieht er es noch als Rätsel. Wie die meisten anderen Gesprächspartner sieht auch er die Trennung von Geist und Materie ebenso als falsche Frage, bzw. als reines Konstrukt, wie es ja auch die Gesamtheit der Lebenswelt eines Menschen ist: „Mein Gehirn (…) hat keinen Kontakt zur Außenwelt.“ 128 In Zusammenhang mit den Libet-Versuchen, konstatiert er, wie auch seine Kollegen in anderen Kapiteln, Überlegungen zu eingeschränkter Handlungsfreiheit.

Diskussion

Der Klappentext verspricht ein philosophisches Lesevergnügen und eine exklusive Einführung in die Hirnforschung aus erster Hand. Das Versprechen wird über weite Strecken eingehalten. Das Buch ist auch aus Perspektive einer Nicht-Neurologin interessant zu lesen. Die Hirnforschung ist hoch aktuell und wird auch in anderen Disziplinen, etwa in der Management- und Beratungstheorie oder in der Psychotherapie angewandt. Im vorliegenden Buch werden viele Aspekte der aktuellen Forschung verdeutlicht und aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert.

Dem spezifischen Aufbau über einzelne Gespräche ist es allerdings geschuldet, dass die inhaltliche Struktur etwas unübersichtlich ist. Viele Themen werden öfter, an verschiedenen Stellen im Buch und etwas redundant behandelt, manche der Themen werden aufgrund der Spezialisierung der ForscherInnen nur im jeweiligen Kapitel aufgegriffen.

Fazit

Insgesamt sehr spannend, gut verständlich und anregend.

Rezension von
Prof. Dr. Ruth Simsa
Wirtschaftsuniversität Wien
Institut für Soziologie, NOP Institut
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Es gibt 76 Rezensionen von Ruth Simsa.

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Zitiervorschlag
Ruth Simsa. Rezension vom 05.03.2014 zu: Matthias Eckoldt: Kann das Gehirn das Gehirn verstehen? Gespräche über Hirnforschung und die Grenzen unserer Erkenntnis. Carl Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2013. ISBN 978-3-8497-0002-7. Reihe: Systemische Horizonte. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16041.php, Datum des Zugriffs 07.06.2023.


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