Helmut Ortner (Hrsg.): Hitlers Schatten. Deutsche Reportagen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 02.04.2014

Helmut Ortner (Hrsg.): Hitlers Schatten. Deutsche Reportagen.
Nomen
(Frankfurt) 2013.
160 Seiten.
ISBN 978-3-939816-16-4.
19,90 EUR.
Reihe: [Täter, Opfer, Komplizen].
Reportagen gegen das Vergessen
„Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“ – Die Brechtsche Mahnung in seinem Theaterstück „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“, mit dem er die Nazizeit und den Faschismus in Deutschland charakterisierte, gilt weiterhin, angesichts der Geschichtsvergessenheit, Verharmlosungstendenzen und aufsteigenden rechtsradikalen Entwicklungen überall in Europa. Paul Celans „Todesfuge“, mit dem anklagenden Satz „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“, wird zwar weiterhin (aber eher seltener) im Schulunterricht thematisiert; aber die vielfältigen Mahnungen, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus zwar nicht bewusst verschwiegen oder gar durch Geschichtsklitterung umgedeutet werden, sondern weil die NS-Barbarei „entwirklicht“ wird: „Die Täter sterben aus – die Opfer und Zeitzeugen auch“. Das aber ist Geschichtsvergessenheit: Wenn die Nachgeborenen es nicht mehr notwendig empfinden, sich zu erinnern!
Herausgeber und Inhalt
Der 1950 geborene Helmut Ortner hat als Journalist und Schriftsteller zu zahlreichen historischen und Zeitfragen Stellung bezogen und dafür viel Aufmerksamkeit und Anerkennung erfahren. Er kommt zu der erschreckenden und beschämenden Erkenntnis: „Die Ahndung der Verbrechen des Nazi-Regimes ist – trotz wichtiger Verfahren wie dem Auschwitz-Prozess – überwiegend gescheitert“. Und er fragt, ob die immer wieder bemühten Begründungen, dass den Deutschen die „Vergangenheitsbewältigung“ gelungen sei, nicht „eine Lebenslüge der Deutschen“ wäre, oder als „ein juristischer, gesellschaftlicher und politischer Etiketten“ bezeichnet werden müsse – weil es mittlerweile neben den (forcierten) Vergesslichkeiten sogar um Relativierungen der Nazi-Verbrechen gehe. Ortner hat deshalb im Oktober 2009 eine Reportagen-Sammlung herausgegeben, in der es „um Täter und Opfer, um Nutznießer und Weggucker, um Gleichgültigkeit und Ahnungslosigkeit, um Versagen und Feigheit, um Schuld und Sühne – aber auch um Mut und Aufrichtigkeit“ geht. Die Frage „Wie war das möglich?“, dürfe nicht der Vergessenheit anheimfallen, und sie darf nicht verjähren. Die Mahnung, dass sich in unserer Gesellschaft „eine neue Leichtigkeit im Umgang mit dem Nationalsozialismus“ breit mache, ist nur allzu berechtigt. Der Nomen-Verlag hat deshalb 2013 die Sammlung neu herausgegeben.
Helmut Ortner ist ein Querdenker und Selbstdenker. Das wird auch deutlich in dem bei Socialnet besprochenem Buch „Widerstand ist zwecklos. Aber sinnvoll“ (2014, www.socialnet.de/rezensionen/16349.php). Die Sammlung von Texten von Menschen, die etwas zu den Zeitläuften zu sagen haben und gegensteuern gegen die ach so bequemen und beruhigenden Einstellungen: „Da kann man sowieso nichts dagegen machen!“, und: „Davon habe ich nichts gewusst!“. Weil die Argumente nicht mit dem erhobenen Zeigefinger daher kommen, sondern als Gesprächsstoff von dir zu mir dienen können, enthalten sie für den Leser und die Leserin (nicht zuletzt für die Bildungs- und Aufklärungsarbeit in der Schule) ein gehörig Maß an Aufforderungscharakter: „Du kannst etwas ändern an dem scheinbar Unveränderbaren!“.
Der unter anderem mit dem Egon-Kisch-Preis ausgezeichnete Spiegel-Journalist Alexander Smoltczyk beginnt mit der Reportage „Der Doktor und sein Opfer“. Es geht um den zur Zeit der Herausgabe der Text-Sammlung letzten überlebenden Mediziner Hans Wilhelm Münch (1911 – 2001), der als Lagerarzt im Konzentrationslager Auschwitz und im KZ Dachau tätig war. Er wurde im Krakauer Auschwitzprozess 1947 angeklagt und als einziger Beschuldigter freigesprochen. Der Spiegel brachte im September 1998 eine Reportage über Münch, die von mehreren Zeitungen im Ausland nachgedruckt wurde. Französische und israelische Fernsehsender berichteten über Münch. Der 74jährige, ehemalige israelische Zahnarzt Dr. Imre Gönczi sah in Haifa die Sendung und identifizierte den KZ-Arzt als denjenigen, der an ihm, dem 17jährigen Häftling Vierundvierzignulldreifünf, bakterielle Versuche vorgenommen hatte; und zwar nicht, weil es ihm befohlen worden war, sondern aus wissenschaftlichem Interesse, wie er bei der Vernehmung und mit der gleichen Überzeugung bei den Zeitungsberichten und Fernsehreportagen betonte. Imre Gönczi überlebte. Und als er den Fernsehbericht in Haifa sah, da war für ihn klar: Er musste nach Roßhaupten ins Allgäu fahren, um seinen Peiniger in die Augen zu schauen; nicht um ihn zu erwürgen oder zu erschießen, auch nicht anzuklagen oder vor ein Gericht zu bringen (er wurde ja freigesprochen), sondern einfach nur in der Hoffnung, dass er seine Träume an die Zeit in Auschwitz vielleicht verlieren könne, jetzt mit 74 Jahren. Er trifft einen durchaus sympathisch wirkenden 87jährigen alten Mann an, der ihn begrüßt, „als würde ein alter Schulfreund vor der Tür stehen“. Er bietet ihm sogar Tee an, und sie unterhalten sich. Aus Imre Gönczi bricht es heraus. Er erzählt von den Experimenten, die der Arzt an ihm und anderen Häftlingen vorgenommen hat, mit Substanzen aus Rind- und später aus Menschenfleisch. Auf die Frage: „Bedauern Sie es, Herr Doktor?“ bekommt er nicht die erhoffte Antwort; etwa die: „Herr Gönczi, wir sind zwei alte Männer. Was geschehen ist, ist geschehen. Bitte nehmen Sie meine Entschuldigung an für das, was ich Ihnen zugefügt habe“. Aber Münch zeigt kein Bedauern und keine menschlichen Regungen, und schon gar kein Schuldbewusstsein…
Erwin Koch, Jurist, Reporter und Schriftsteller, titelt seine Reportage: „Herr M. und das Nazi-Gold“. Der Wachmann einer Schweizer Großbank sieht im Schredderraum mehrere, schön eingebundene Akten liegen, alte Bücher „mit schönen grünen und grauen Deckeln“. Eigentlich zu schade, denkt er, um sie zu vernichten. Er blättert darin: Protokolle, Hausrenovationen in Berlin, Handwerkerrechnungen aus den Jahren 1930 – 1940, und 1945 – 1960. Kürzlich hat er gelesen, dass die Regierung verboten habe, Akten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs zu vernichten. Aus einem Buch reißt er 59 Kontoblätter heraus, steckt sie sich unter seine Uniformjacke und nimmt sie mit nach Hause. Er zeigt sie seiner Frau. Die wache Verkäuferin sieht sofort, dass es sich dabei um Beweise für Geschäfte der Bank mit den Nazis handelt. Nachtwächter M. geht am nächsten Abend noch einmal in den Schredderraum. Nur noch drei Bücher auf dem Sackwagen sind vorhanden; die anderen wurden wohl schon vernichtet. Er nimmt die restlichen Akten und legt sie in seinem Kleiderschrank in der Bank. Ein Buch davon trägt er in einer Plastiktüte nach Hause. Seine Frau rät ihm, die Akten der Israelitischen Cultusgemeinde in Zürich zu übergeben. Diese erstattet Strafanzeige bei der Kriminalpolizei des Kantons Zürich. M. wird vernommen, und kurz darauf von der Bank entlassen, wegen „gravierender Unregelmäßigkeiten“. Die öffentliche Berichterstattung kommt in Fahrt. Wachmann M. ist in den Printmedien, Radio und Fernsehen der Mann der Woche. Die Inhaberaktion der Bank sinken; die Anfeindungen gegen M. nehmen zu: „Nestbeschmutzer“, und der Verdacht, dass der Nachtwächter im Auftrag von anderen gehandelt habe. Seine Bemühungen, nach der Entlassung eine Stelle zu bekommen, scheitern. Er gerät in die undurchsichtigen, von verschiedenen Interessen geleiteten Mühlen, wird krank, fühlt sich in der Schweiz verfolgt und bittet für sich und seine Familie in den USA um politisches Asyl. Er agitiert gegen die Schweizer Banken: „UBS hat meine Zukunft ruiniert. Warum? Weil ich das Richtige tat“. Die Schweizer Bank meldet, nach dem Rücktritt ihres Präsidenten, Gewinne. Für die Aktieninhaber locken 15 bis 18 Prozent Rendite. M. kehrt in die Schweiz zurück – ein Fall für den Psychiater?
Die freiberufliche Journalistin Ingrid Müller-Münch arbeitet für den WDR und die Frankfurter Rundschau. Sie hat mehrere Bücher geschrieben, u. a. „Die Frauen von Maidanek“ (1998). Ihre Reportage „Fremde im eigenen Haus“ berichtet sie über die Rückkehr der Jüdin Marianne Stern nach dreijähriger Haft im Konzentrationslager in Riga und nach den „Todesmarsch“ Ende August 1945 in ihr Heimatdorf Hemmerden, das heute zur Stadt Grevenbroich im Rhein-Kreis Neuss im Land Nordrhein-Westfalen gehört. Sie fand ihr Elternhaus bewohnt vor. Alle Einrichtungsgegenstände waren versteigert, das Vermögen vom Finanzamt eingezogen worden. Sie traf im Ort auf eine Mauer des Schweigens und der Ablehnung. Sie blieb aber trotzdem, heiratete und lebte mit ihrer Familie bis zu ihren Tod 1998 dort, wie „eine Art Stachel im Fleisch der eng dörflich miteinander verwobenen, katholisch-konservativen Hemmerdener“. Lediglich den Juristen Ulrich Herlitz und die Biologin Lisa Gelius-Dietrich zählte sie zu ihren Freunden. Als letztere Ende Januar 1999 im Düsseldorfer Stadtmuseum in einer Ausstellung Versteigerungslisten aus den 1940er Jahren liest, entdeckt sie auch die sorgsam handgeschriebenen Versteigerungsprotokolle vom 24. Februar 1942, wer welche Gegenstände – Küchentücher, Nachteimer, Konsolen, Hüte, Bettvorleger, Weingläser… – ersteigert hat. Lisa Gelius-Dietrich machte sich daran und recherchierte über das Leben ihrer Freundin Marianne Stern und ihrer Familie. Es war ein Leben voller Leiden, Verbitterung, aber auch Unbeugsamkeit…
Thorsten Schmitz, von 1998 bis 2010 Israel-Korrespondent der SZ und seitdem Reporter in deren Berliner Hauptstadtbüro, setzt sich in seinem Beitrag „Die Stute von Majdanek“ mit der Frau auseinander, die als SS-Aufseherin KZ-Häftlinge zu Tode gequält hat. Hermine Ryan lebt mit ihrem Mann in einem Altenwohnheim in Bochum. Sie sitze im Rollstuhl. Am 12. Juli 1964 klingelt bei dem jungen Lokalreporter Joseph Lelyveld in New York das Telefon. Simon Wiesenthal, der Nazi-Jäger aus Wien ist am Apparat. Er solle doch mal nach Queens, in die 72. Straße, Hausnummer 5211 fahren und nachschauen, wer da wohne. Und er gibt ihm einige Informationen darüber, wen er dort vermutete. Und tatsächlich: Er findet Hermine Braunsteiner, die berüchtigte KZ-Aufseherin. Die New York Times bringt die Nachricht, dass „Kobyla, die Stute“, wie die gebürtige Österreicherin mit ihrem Spitznamen in Majdanek genannt wird, weil sie mit ihren eisenbeschlagenen Stiefeln die Häftlinge trat, entdeckt wurde. Die Einreise in die USA mit ihrem Mann Russel Ryan, einem ehemaligen Besatzungssoldaten, bringt für sie die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Es dauert einige Jahre, bis ihr der Pass entzogen und sie in Auslieferungshaft genommen wird. Neben Deutschland stellt auch Polen Auslieferungsanträge. Am 6. August 1973 wird sie von zwei deutschen Polizisten abgeholt und mit einer Lufthansa-Maschine nach Köln und ins Untersuchungsgefängnis Köln-Ossendorf gebracht. Der Vorsitzende der 17. Großen Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf, Günter Bogen, eröffnete 1975 den Majdanek-Prozess, der bis 1981 dauerte und in dem 16 ehemalige SS-Angehörige des Lagerpersonals des KZ Majdanek angeklagt wurden. Bei den Vernehmungen beim Prozess gibt sich Hermine Ryan uneinsichtig und unbeeindruckt von den Zeugenaussagen. Im Schlusswort vor der Urteilsverkündung äußert sie „mit Samt in der Stimme“ – „Ich trage Schuld, aber ich bin keine Mörderin“. Das Urteil: Einmal lebenslänglich! Die Empörung überall in der Welt ist groß wegen des zu geringen Urteilsspruchs. Es bedeutete ja, dass sie bei guter Führung in wenigen Jahrzehnten entlassen werden könnte. Das geschieht auch im April 1996. Hermine Ryan ist jetzt Ende 70, schwer gicht- und zuckerkrank. Sie ist bettlägerig und wird von ihrem Mann im Rollstuhl zum Einkaufen und Spazieren gehen im Park gefahren. Einige Bewohner des Altenheims wollen, dass die Ryans ausziehen; sie wollen nicht mit einer Mörderin unter einem Dach leben. Ihre Nachbarin aber findet, dass die Frau ungerecht lange im Gefängnis war: „Es war doch damals eben Krieg“; und sie erinnert sich, als sie ihr das erste Mal begegnete: „Die sah ja gar nicht aus wie ein Monster…“.
Der Korrespondent des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL, Georg Böhnisch, erzählt in seinem Text „So müsste die Hölle sein“ über das Nazi-Massaker „Aktion Erntefest“, bei dem auf Befehl Hitlers und Himmlers im KZ-Majdanek und in den Lagern Poniatorwa und Trawniki an einem Tag im November 1943 mehr als 42.000 Juden wegen „akuter Gefahr für die Sicherheit der Deutschen“ ermordet wurden. Im Bericht werden die1999 im Prozess vor der Ersten Großen Strafkammer des Landgerichts Stuttgart ermittelten Verbrechen geschildert. An der Person des damaligen SS-Unterscharführers Alfons Götzfrid, der wegen Beihilfe zum Mord in 17.000 Fällen und der eigenhändigen Erschießung von 500 Menschen zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde, schildert der Autor die (ver)schleppenden, zögerlichen und trickreichen Taktiken von Politik und Justiz bei der Verfolgung der Täter. Über die Vorgänge bei der Erschießung gibt es wenig Informationen. Der Berliner Historiker und Antisemitismusforscher Wolfgang Scheffler bestätigt, dass die „Aktion Erntefest“ als die „größte Einzelmassenerschießung des Zweiten Weltkriegs“ bezeichnet werden muss und in Deutschland bis heute kaum bekannt ist. Eine Fundstelle, die ein damals 28jähriger Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes aufgeschrieben hat, lautet: „Die Juden mussten sich in dem Graben und später auf den Leichen der bereits Erschossenen niederlegen und erhielten dann einen Genickschuss…“.
Der Auslandskorrespondent der Süddeutschen Zeitung, Michael Frank, schildert in seinem Beitrag „Nebenwirkung: Kindermord“ die Praktiken des Psychiaters Heinrich Gross, die er im Heim „Am Spiegelgrund“ in Wien bei geistig Behinderten, überwiegend Kindern, anwandte und dabei gezielt die Opfer zugrunde richtete. Erst Anfang des Jahres 2000 wird der Arzt angeklagt, in neun Fällen durch seine Behandlungen den Tod von neun Kindern verursacht zu haben. Hunderte weitere Fälle konnten nicht verhandelt werden, weil sie als verjährt gelten. Nach dem Krieg machte der Arzt eine steile Karriere. Er wurde Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Missbildungen und war Jahrzehnte lang ein gefragter Gerichtsgutachter. Zeit seines Lebens, er starb im Dezember 2005, hat Dr. Gross geleugnet, Schuld auf sich geladen zu haben. Auf die Frage, ob er je moralische Bedenken bei seiner Arbeit gehabt habe, äußerte er: „Das kann man nicht haben als Forscher“.
Helmut Ortner beschreibt mit seinem Zitat „Irgendwann muss doch auch mal Frieden sein“ eine immer wieder wahrnehmbare Stimmung und Auffassung, wenn es um die Verfolgung von NS-Tätern geht. In Kalbach bei Frankfurt/M. wohnt der NS-Täter Arnold Strippel, der, wie aus einem Flugblatt zu entnehmen ist, das eine Gruppe französischer Juden bei einer Protestaktion in der Talstraße in die Briefkästen stecken, eine „lange Blutspur“ seiner Taten in Buchenwald, Ravensbrück, Majdanek und Peenemünde hinter sich herzieht. Opfer bestätigen, dass der SS-Mann Strippel bei den Lagerinsassen wegen seiner Brutalität besonders gefürchtet war. Als ihm zufällig ein ehemaliger Buchenwald-Häftling am 13. Dezember 1948 in der Frankfurter Innenstadt erkennt, wird er verhaftet und vom Frankfurter Schwurgericht 1949 „wegen gemeinschaftlichen Mordes in 21 Fällen“ zu 21mal lebenslänglich verurteilt. 1965 nimmt das Frankfurter Gericht den Buchenwald-Prozess wieder auf, weil die Verteidigung Unstimmigkeiten bei den Zeugenaussagen nachweisen konnte. Strippel wird, obwohl die lebenslängliche Haftstrafe aufrechterhalten bleibt, auf freiem Fuß gesetzt, bis erneut 1969 der Wiederaufnahmeprozess beginnt. Die Richter attestieren ihm aufgrund der erneuten Zeugenaussagen und der Unklarheiten beim ersten Prozess, dass er „nur“ als „Gehilfe“ bei der Erschießung von 21 Häftlingen dabei gewesen sei. Das Gericht spricht ihm zudem eine Haftentschädigung von 121.500 Mark zu. Strippel ist nun ein wohlhabender Mann. Er kauft sich eine Eigentumswohnung in Frankfurt-Kalbach und lebt scheinbar ungestört ein bürgerlich-beschauliches Leben. Als im November 1975 der Düsseldorfer Majdanek-Prozess eröffnet wird (von dem wir schon bei der Erzählung über Hermine Ryan gehört haben), steht Arnold Strippel erneut vor Gericht. Ihm wird vorgeworfen, dass er im Juli 1942 an der Tötung von 42 sowjetischen Kriegsgefangenen beteiligt gewesen sei.Strippel ist ja geübt im Abstreiten, Nichtwissen, Nichterinnern und Ahnungslosigkeit. Das Urteil für Beihilfe zum Mord in 41 Fällen lautet: Drei Jahre und sechs Monate. Er muss aber wegen „Haftunfähigkeit“ die Strafe nicht antreten und verlässt den Gerichtssaal als freier Mann. Als Helmut Ortner im Frühjahr 1992 mit Strippel Kontakt aufnehmen will, öffnet niemand. In der Reihenhaus-Idylle will niemand über Strippel reden: „Verschwinden Sie hier, aber ganz schnell!“.
Der Sternreporter Günther Schwarberg erzählt in seiner Reportage „Der lange Weg von Hamburg nach Hamburg“, wie zwei jüdische Kinder aus ihrer Vaterstadt vertrieben wurden und was sie vorfanden, als sie viele Jahre später zurück kehrten. Max, 14 und Cilly Horwitz, 12 Jahre alt, wurden von ihren Eltern 1938, zusammen mit anderen deutschen Juden mit einem Schiff von Hoek van Holland nach England verschickt, wo sie von Pflegefamilien aufgenommen wurden. Von ihren Eltern erfuhren sie nichts. Dass der Vater 1941 nach Minsk deportiert und dort im Konzentrationslager umgebracht wurde, erfuhren die Kinder erst nach dem Krieg. Max, der den englischen Namen Hutton annahm, meldete sich als Soldat bei der britischen Armee. Zusammen mit anderen sprang er mit Fallschirm in der französischen Normandie ab, um als Partisanen gegen die deutschen Soldaten zu kämpfen. Er wurde verwundet, überlebte aber, ebenso seine Schwester. Ihre Mutter hatte in der Zwischenzeit einen Schuhhandelsvertreter geheiratet. Ihre Rückkehr nach Deutschland, Cilly 1948 und Max 1949, vollzog sich eher alltäglich. Von Wiedergutmachung durch die deutschen Behörden war keine Rede. Max lebt mit seinem englischen Namen 75jährig in Hamburg.
Der Schriftsteller Peter Roos (geboren 1950) schreibt in seinem Beitrag „Der Nazi und der Nestbeschmutzer“ darüber, wie die fränkische Kleinstadt Marktheidenfeld mit ihrem großen Sohn, Hitlers Hofmaler Hermann Gradl (1883 – 1964 ), umgeht. Der Parteigenosse und Musternazi wurde von den Nationalsozialisten hochgelobt und gefördert. Als Direktor der „Akademie der Bildenden Künste der Stadt der Reichsparteitage“ war er geachtet. Er malt die Nazigrößen und beeinflusst die Kunst-Ideologie der NSDAP. Der Ehrenbürger der Universität Erlangen-Nürnberg und natürlich auch von Marktheidenfeld wandelt sich nach dem Krieg wie ein Chamäleon vom Musternazi zum Künstlerbürger: „Ich habe mich in meinem ganzen Leben niemals und in keiner Weise irgendwie politisch betätigt!“. Peter Roos´ Recherchen in seiner Heimatstadt Marktheidenfeld sind nur eine Metapher für die vielen Orte in der Umgebung und anderswo, die „ihre Nazileiche im Keller (haben) und sie stinkt“. Sein Buch „Hitler Lieben. Roman einer Krankheit“ handelt von Gradl und denen, die bis heute den Sohn der Stadt preisen und nichts auf ihn kommen lassen. Es wird nicht in den Büchereien und Buchhandlungen angeboten; auch die Stadtbibliothek bietet es nicht als Leihgabe an. Für das „Gradl-Museum“ (Franck-Haus) wirbt die Stadt, die im Internet mit der Einladung auftritt: „Da geht´s dir gut!“. Der „Nestbeschmutzer“ wird ausgegrenzt, mitsamt seiner Lebensgefährtin: „Man wechselt demonstrativ vor mir den Bürgersteig; nur mit gesenktem Blick überreicht der Schuster die reparierten Schuhe…“. Im Gymnasium der Stadt ist nichts von kritischer Auseinandersetzung mit der Geschichte zu spüren. Im ZEIT-Magazin erscheint die Reportage „Hitler lacht!“ über das Leben Gradls und sein Weiterleben in der Stadt. Die Aufmerksamkeit in Marktheidenfeld wird abgebügelt: Wer liest in Marktheidenfeld schon die ZEIT? Und die Aufregungen legen sich bald. Die Verkäuferin in der Bäckerei sagt: „Dass Sie sich sowas traun! Das kann doch morgen alles wieder komm!…“
Der ZEIT-Redakteur und Ressortleiter beim STERN, Ulrich Völklein, dokumentiert mit seinem Text „Der Doktor ist weg“ die vergebliche Suche nach Aribert Heim, dem Todesarzt von Mauthausen. Es ist wie eine unendliche Geschichte, die Völklein unterbreitet: Ein Doktor Aribert Reiter soll in dem kleinen Südtiroler Städtchen Chiusa/Klauen in den 1980er Jahren gesichtet worden sein; vielleicht als Feriengast, wie die Gemeindeverwaltung mitteilt. Als angesehener Frauenarzt praktizierte Dr. Heim bis 1962 in Baden-Baden. Dann tauchte er ab. Das Landeskriminalamt von Baden-Württemberg sucht mit einem Steckbrief im Internet nach dem mittlerweile Mitte bis Ende Achtzigjährigen, bisher ohne Erfolg. Während seines siebenwöchigen Einsatzes im Jahr 1941 als Lagerarzt im österreichischen Konzentrationslager Mauthausen soll der 1914 geborene Heim an mehr als 342 Häftlingen medizinische Experimente durchgeführt und sie zu Tode gebracht haben. Ein überlebender KZ-Insasse berichtet, dass im KZ ein junger Jude untergebracht war, der eine besonders athletische Figur und tadellose Zähne hatte. Einige Zeit später bemerkte der Häftling Josef Kohl einen ausgezeichnet präparierten Schädel mit makellosen Zähnen auf dem Schreibtisch Heims. Die Stationen des Arztes nach dem Krieg lesen sich wie eine Geschichte eines von oben sichtbaren Irrgartens: Nach der amerikanischen Kriegsgefangenschaft im Internierungslager „Camp 74“ bei Ludwigsburg wird der SS-Offizier im Februar 1947 entlassen. Im hessischen Friedberg / Bad Nauheim trat er im dortigen „Bürgerspital“ die Stelle eines Assistenzarztes an. Die Generaldirektion für öffentliche Sicherheit in Wien ermittelte, dass der KZ-Arzt Dr. Heim sich in Bad Nauheim aufhalten solle. Beim hessischen Staatsministerium wird es wohl eine undichte Stelle gegeben haben; denn Dr. Heim verschwand über Nacht aus dem Kurort am Taunus. Unbehelligt von weiteren Nachforschungen heiratet er ungestört die dortige Ärztin Frieda Bechtold, beantragte und erhielt ohne Probleme die deutsche Staatsangehörigkeit. Im November 1955 ließ er sich in Baden-Baden als Frauenarzt und Geburtshelfer nieder. Die Familie mit zwei Söhnen lebte in einer prächtigen Villa am Kurpark. Am 13. September 1962 erließ das Amtsgericht Baden-Baden einen Haftbefehl gegen Dr. Heim. Als die Polizei am folgenden Tag an der Tür der Villa klingelte, öffnete die Haushälterin und sagte: „Der Doktor ist weg…“.
Der Frankfurter Journalist, Autor und Medienentwickler Martin Schmitz-Kuhl berichtet mit seinem Beitrag „Wir waren doch Deutsche!“, wie der Sinto Herbert Adler am liebsten seine Vergangenheit verdrängen würde, aber immer wieder von ihr erzählt, z. B. davon, dass der jetzt 75jährige in fünf Konzentrationslagern war: In Frankfurt, Auschwitz, Oranienburg, Buchenwald und Ravensbrück. Als Zeitzeuge tritt er vor Schulklassen auf, bei Kongressen und Tagungen. Seine Geschichte steht für die Rassenpolitik der Nationalsozialisten. Dem Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei Heinrich Himmler lag daran, „die Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus in Angriff zu nehmen“. Der 13jährige Ricky verstand die Welt nicht mehr, als er mit seiner Familie von einer schönen Fünfzimmerwohnung im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen in ein Lager mit primitiven Wohnwagen umziehen musste, nicht mehr zur Schule gehen und sich nicht mehr mit seinen Freunden treffen durfte. Wird er auf seine Zahlen-Tätowierung auf dem Unterarm angesprochen, sagt er sarkastisch: „Das ist meine Telefonnummer“. Es liegt ihm daran, seine Leidensgeschichte zu erzählen; aber immer mit einem optimistischen Blick: „Nach hinten schauen, rentiert sich nicht. Man muss nach vorne schauen…“.
Die Journalistin der Süddeutschen Zeitung (die übrigens im Autorenverzeichnis des Buches nicht aufgeführt wird!), Heidrun Graupner, setzt sich mit ihrem Beitrag „Kein Sklave des Hasses“ damit auseinander, warum Felix Kolmer es als eine Schande betrachtet, wie deutsche Firmen in der Entschädigungsfrage agieren. Es ist ein böses, verletzendes Spiel, sagt Physik-Professor und ehemaliger KZ-Häftling und Sklavenarbeiter Felix Kolmer, der der tschechischen Regierungsdelegation angehörte, die zusammen mit Delegationen anderer Länder Osteuropas an den deutsch-amerikanischen Verhandlungen teilnahm, bei denen es über den Industriefonds „Erinnern, Verantwortung, Zukunft“ ging. Er nennt es „das Spiel mit den Zahlen“, über die es geht: Zwangsarbeiter, die während der Zeit des Nationalsozialismus in der deutschen Wirtschaft eingesetzt wurden. Von 2,37 Millionen Menschen ist die Rede, die in der Industrie und Landwirtschaft als Zwangsarbeiter schuften mussten. Wie viele von ihnen sind noch am Leben? Der Verhandlungsführer der deutschen Regierungsdelegation Otto Graf Lambsdorff bringt 175.000 ins Spiel, und er bietet insgesamt sechs Milliarden Mark an Eine große Schande für Deutschland, sagt Kolmer. Er verhandelt nicht für sich: „Die Zwangsarbeiter brauchen Hilfe, sie können keine Sprachen, sie können nicht verhandeln“. Viele davon sind arm und krank, viele sind auch nicht mehr am Leben.
Der Israelkorrespondent der Süddeutschen Zeitung, Thorsten Schmitz, schreibt über „Blutschande“. Es geht um Gudrun Burwitz, geborene Himmler, die Tochter von Heinrich Himmler. Die 70jährige Frau lebt mit ihrem Mann in einem schmucklosen weißen Haus in Fürstenried bei München. Sie ist führendes Mitglied des 1951gegründeten Vereins „Stille Hilfe“, in dem sich ehemalige Nationalsozialisten und Sympathisanten zusammen geschlossen haben, um in Not geratenen Nazis beizustehen, sie zu beraten, Verurteilten in Gefängnissen Beistand zu leisten, Kontakt mit ihnen zu halten, Gnadengesuche für eine vorzeitige Entlassung einzureichen oder sie in Altenheimen zu besuchen. 23 ältere Menschen, die in der Bundesrepublik leben, sind Mitglieder des Vereins; meist stramme Alt-Nazis oder ehemalige Angehörige der Waffen-SS. Ihr Motto „Unsere Ehre heißt Treue“, haben sie ohne Abstriche von der SS übernommen. In Rundbriefen werden die Gräueltaten der Nationalsozialisten verniedlicht oder geleugnet. Die Inhaftierten werden als „Internierte“ oder „sogenannte Kriegsverbrecher“ bezeichnet. Der „Freundeskreis“ wirbt für Spenden und nennt sechs Kontonummern, z. B. bei der Deutschen Bank in München, der Volksbank Rothenburg/Wümme, bei der Postbank. Die Spenden sind steuerlich absetzbar. Wer sich kritisch mit den Zielen und der Arbeit des Vereins auseinandersetzen möchte, wird eine „jüdische Verschwörung“ nachgesagt; und wer Schlechtes über den Verein schreibt, den wünscht der Vorsitzende der „Stillen Hilfe“, Horst Janzen aus Wuppertal, „zum Teufel“. Die Mitglieder Herr und Frau Kuhlmann kümmern sich z. B. um Hermine Ryan, geborene Braunsteiner. „Schauen Sie, wie ein KZ-Häftling sieht sie aus, die deutsche Justiz hat sie zugrunde gerichtet…“.
Die Berliner Redakteurin und Journalistin Constanze von Bullion begibt sich mit ihrem Beitrag „Funkwerk Köpenick schaltet nicht“ auf die schwierige Spurensuche, warum die Telefonfirma DeTeWe keine Zwangsarbeiter entschädigen will. Das VEB Funkwerk Köpenick, als Nachfolger der in den 1930er Jahren gegründeten Gema, der Gesellschaft für elektroakustische und mechanische Apparate, und erstere als deutlich nahtloses Produktionswerk der heutigen DeTeWe Funkwerk Köpenick, weigert sich, dem Entschädigungsfonds für NS-Zwangsarbeiter beizutreten; sie habe mit der Firma, die während der nationalsozialistischen Zeit mehrere Tausend Frauen und Männer aus der Ukraine, aus Polen und den anderen besetzten Ländern in Osteuropa, sowie Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter beschäftigte. In der privat initiierten und überwiegend aus ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bestehenden Berliner Geschichtswerkstatt häufen sich Aktenordner und Quellenmaterialien über die Zwangsarbeiter in dem Werk, ohne dass die heute Verantwortlichen der DeTeWe auch nur den Anschein vermittelten, es gäbe zumindest eine moralische Verpflichtung, wenigstens einer materiellen Wiedergutmachung zuzustimmen. Der Firmensprecher äußert, solche Erinnerungen wären „eher was fürs Museum…“.
Fazit
Vergangenheitsbewältigung heißt, sich zu erinnern. Das Bewältigen von historischen Ereignissen kann nicht Vergessen bedeuten, auch nicht Verdrängen, und schon gar nicht Geschichtsverklitterung. Es bedarf einer individuellen und kollektiven Gedächtnis- und Erinnerungskultur, die als Allgemeinbildungsauftrag gilt (vgl. dazu: Astrid Erll, Gedächtnis- und Erinnerungskulturen, Stuttgart – Weimar 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12634.php sowie Christian Gudehus, u.a., Hrsg., Gedächtnis und Erinnerung, Stuttgart – Weimar 2010, www.socialnet.de/rezensionen/12904.php ). Die Verbrechen der Nationalsozialisten können als grauenvolles, statistisches und ideologisches Material zur Hand genommen werden; sie lassen sich aber auch als Lebens-, Schicksals- und Leidensbeschreibungen und Zeugnisse von Opfern und als Zeitzeugenberichte über die Täter lesen. Eine solche Auseinandersetzung bietet die Chance, den Ursachen eines solchen Denkens und Handelns auf die Spur zu kommen, damit ein überzeugtes, internalisiertes und gelebtes „Nie wieder!“ zum ethischen Wert menschlichen Daseins für alle Menschen auf der Erde werden kann. Die Reportagen und Berichte der Autorinnen und Autoren über die Verbrechen des Nazi-Regimes bieten die Möglichkeit, nicht nur über grauenvollen Taten zu wissen, sondern mitfühlen zu lernen, und damit die Fähigkeit zu erwerben, jeder Form von Machtmissbrauch, Diktatur und rassistischen Höherwertigkeitsvorstellungen aktiv zu widerstehen. Die Reportagen sind sicherlich gut geeignet, im schulischen Unterricht und in den außerschulischen Bildungsprozessen verwendet zu werden: „Mit Blick auf die Gegenwart, in der persönliches Erinnern immer seltener wird, braucht es deshalb Wissen, wie ‚es geschehen konnte‘, und nicht nur die Bereitschaft zur Erinnerung“.
Der Rezensent freilich kann dem Verlag nicht ersparen, auf die grammatikalischen und begrifflichen Nachlässigkeiten und Namensverdrehungen hinzuweisen, die eine nicht sorgfältige Lektoratsarbeit erkennen lassen. Bei einer Neuauflage sollte dies korrigiert werden.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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