Michael C. Hermann, Rainer Öhlschläger (Hrsg.): Hier die Russen - dort die Deutschen
Rezensiert von Dr. Olga Frik, 29.04.2014

Michael C. Hermann, Rainer Öhlschläger (Hrsg.): Hier die Russen - dort die Deutschen. über die Integrationsprobleme russlanddeutscher Jugendlicher 250 Jahre nach dem Einladungsmanifest von Katharina II. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2013. 120 Seiten. ISBN 978-3-8487-0511-5. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR, CH: 33,50 sFr.
Thema
Für die Integration junger Spätaussiedler erweisen sich Sprache, Eingliederung in Schule, Ausbildung und Beruf, aber auch die Akzeptanz von Einheimischen als wesentliche Merkmale. Die Eingliederung ist in vielen Fällen mit Problemsituationen verbunden, wobei unzureichende Sprachkenntnisse der Migranten eine führende Rolle spielen. Das Bild junger Spätaussiedler in den Medien und in der öffentlichen Diskussion in Deutschland ist in vielen Fällen eher negativ und klischeehaft: Bestandteil der öffentlichen Diskussion sind in den letzten Jahren zunehmend Berichte, wonach jugendliche Aussiedler sich zu Banden zusammenschließen, bei denen der Konsum von Drogen und Alkohol sowie Gewalt an der Tagesordnung sind.
Mit den Russlanddeutschen sind interessante und wichtige Fragestellungen verbinden:
- Wie steht es um die Bereitschaft, die Angehörigen dieser Bevölkerungsgruppe zu integrieren?
- Wie sind die Ressourcen einzuschätzen, die die Russlanddeutschen für ihre Integration mitbringen, insbesondere deren sprachliche Kompetenzen?
- Welche die Integration unterstützenden bzw. behindernden Wirkungen gehen vom Bildungssystem und den verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen aus?
- Gab und gibt es eine erfolgreiche, als Querschnittsaufgabe konzipierte Integrationspolitik Deutschlands?
- Welche Rolle spielen die eigenethnischen Netzwerke der Russlanddeutschen? Werden sich die noch vorhandenen Integrationsschwierigkeiten verlieren?
- Wie sehen die Aussiedler rückwirkend und mit Abstand ihr Ankommen in Deutschland? Ist es realistisch, dass Russlanddeutsche – auf der Grundlage entsprechender Programme der Russischen Föderation und von Kasachstan - erneut in deren Gebiete re-re-migrieren? (S.111)
Entstehungshintergrund
Der vorliegende Band basiert im Wesentlichen auf dem Symposium „Hier die Russen – dort die Deutschen. Ressourcen und Defizite der Integration russlanddeutscher Jugendlicher“, das die Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart im Dezember 2011 im oberschwäbischen Weingarten veranstaltet hat. Die Tagung fokussierte die Lebenslage russlanddeutscher Jugendlicher in Deutschland und Russland, fragte nach deren Ressourcen und Defiziten für eine gelungene Integration in die Gesellschaft, in der sie leben, und widmete sich darauf aufbauend den Konsequenzen für Schule, Sozialarbeit, außerschulische Bildungsarbeit und Strafrechtspflege (S. 7). Soziologen, Sprachwissenschaftler und Philosophen aus Deutschland und Russland untersuchen in einem interdisziplinären Zugriff die Lebenssituation junger Russlanddeutscher.
Aufbau
Der vorliegende Band greift zentrale Aspekte auf, die für eine qualifizierte Betrachtung der Situation von jungen Aussiedlern in Deutschland von Bedeutung sind. Das Buch enthält folgende Beiträge:
- Michael C. Hermann „Einleitung: Zur hybriden Identität russlanddeutscher Jugendlicher 250 Jahre nach Katharinas Einladungsmanifest“
- Waldemar Vogelgesang „Auf dem Weg zur Normalität – Integrationsfortschritte von jugendlichen Spätaussiedlern“;
- Svetlana Kiel „Risiko oder Chance? Identitätsbildung in russlanddeutschen Aussiedlerfamilien“;
- Igor Plischke/ Dorothee Schlegel „Post-Aussiedler oder neue Volldeutsche?“;
- Tatiana Kuligina/ Nina Suprun „Repräsentationen eigener und deutsche Kulturen in der Migrantenliteratur“;
- Evgenii Sawinkin „Kultur, Identität und Sprache Russlanddeutscher in der Russischen Föderation: Ergebnisse russischer empirischer Forschung“;
- Anton Fortunatov „Russlanddeutsche zwischen Kollektivismus und Individualismus“;
- Katharina Dück „Als mein Kind geboren wurde, hatte ich wieder Lust, russisch zu sprechen“ Zu Sprachkompetenzen, Spracheinstellungen und Spracherziehung der zweiten Generation der Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion;
- Evgenii Antonov „Ethnizität, Migration und Integration in der Russischen Föderation – Zur Integration von Migranten am Beispiel der Region St. Petersburg“;
- Elizaweta Sawrutskaja/ Nadezda Wassin „Die Rolle der Russlanddeutschen in Geschichte und Kultur der Region Nishnij Novgorod“;
- Michael C. Hermann „Hier die Russen – dort die Deutschen“ – eine Zusammenfassung.
In der von Michael C. Hermann verfassten Einführung werden die im vorliegenden Band enthaltenen Beiträge vorgestellt.
Inhalte
Die zentrale Frage im Aufsatz vom Trierer Soziologen Waldemar Vogelgesang „Auf dem Weg zur Normalität - Integrationsfortschritte von jugendlichen Spätaussiedlern“ ist, wie sich die Lebenssituation mit Integrationserfolgen und -defiziten in der Zeit zwischen dem Jahr 2000 und dem Jahr 2011 entwickelt hat. Er stellt die Integration Russlanddeutscher in die aufnehmende deutsche Gesellschaft als einen dynamischen, mitunter über mehrere Generationen verlaufenden Prozess dar. Der Autor basiert seine Analyse auf einer empirischen Befragung von rund 4.000 Jugendlichen im Alter von 14 bis 25 Jahren in der Region Trier, die im Jahr 2000 und im Jahr 2011 gemacht worden ist. Die aktuellen Ergebnisse zeigen laut Vogelgesang eine „deutliche Öffnung hin zur deutschen Sprache“, eine „ausgeprägte Bildungsorientierung“ und eine deutlich gesunkene Arbeitslosenquote bei den russlanddeutschen Jugendlichen. Vogelgesang untersucht in seinem Aufsatz diese Phänomene und bezieht sie schließlich auf die Identitätskonstruktion der russlanddeutschen Jugendlichen.
Die Erziehungswissenschaftlerin Svetlana Kiel verfasste einen Aufsatz „Risiko oder Chance? Identitätsbildung in russlanddeutschen Aussiedlerfamilien“, wo sie zunächst feststellt, dass die Integration der Russlanddeutschen wider Erwarten nicht reibungslos verlief und Russlanddeutsche eine problematische Zuwanderungsgruppe darstellen. Die Verfasserin analysiert, wie die Betroffenen ihr Ankommen und ihre Aufnahme in die bundesdeutsche Gesellschaft selbst wahrgenommen und darauf reagiert haben. Ihr Beitrag basiert auf der Grundlage von der Befragung von sieben russlanddeutschen Familien in Deutschland mit unterschiedlicher Zuwanderungsgeschichte und in unterschiedlicher Zusammensetzung. Diese Migrantengruppe stehe vor der besonderen Herausforderung, die sich in der Konfrontation mit der Kultur der aufnehmenden Gesellschaft ergebenden Konflikte lösen und gleichzeitig die „mitgebrachte“ kulturelle Identität überdenken zu müssen. Die Betroffenen fänden verschiedene Auswege aus dieser Situation: Von einer „Überanpassung“ bis hin zu einem Rückzug in die eigenethnische Gruppe. Im Mittelpunkt des Beitrages von Svetlana Kiel stehen die verschiedenen von den Russlanddeutschen entwickelten Lösungsstrategien.
Igor Plischke und Dorothee Schlegel stellen die Sprache als ein unerwartet großes Problem bei der Integration der Spätaussiedler aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion dar. Die Russlanddeutschen brächten ihre Mundarten nach Deutschland mit, die für die Deutschen in Deutschland nur schwer verständlich seien. Diese Mundvariationen blieben auch nach der Re-Migration nach Deutschland erhalten und erschwerten einerseits das Inkontakttreten bei der dortigen Bevölkerung und begünstigen andererseits die Bildung homogener eigenethnischer Netze. Die vorhandenen Sprachprobleme zusammen mit der begrenzten Aufnahmebereitschaft der einheimischen Bevölkerung hätten die Integration der Russlanddeutschen erschwert. Die beiden Autoren betonen auch eine problematische Wirklichkeitskonstruktion der Medien mit unangemessenen, klischeehaften Zuschreibungen, die die Problematik noch verstärkt hätten. Die Konsequenz sei eine breite Desillusionierung gewesen.
Tatiana Kuligina und Nina Suprun verfassten einen Beitrag über die Repräsentationen eigener und deutscher Kulturen in der Migrantenliteratur. Die Literatur russlanddeutscher Migranten würde viel Stoff für das Verstehen deren Lebenslage liefern, stellen die beiden Germanistinnen aus Nishnij Nowgorod zu Beginn ihres Beitrags fest. Anhand von vier einschlägigen Werken wird gezeigt, dass oft vergleichbare Muster der sozialen Identität dargestellt werden. Hier spielt die von den anderen Autoren beschriebene Zweidimensionalität des Identitätskonflikts eine zentrale Rolle. Die Autorinnen spüren diesen Identitätskonflikten in kurzen Ausschnitten aus dem Alltagsleben der Protagonisten nach.
Evgenii Sawinkin schrieb einen Beitrag mit dem Titel „Kultur, Identität und Sprache Russlanddeutscher in der Russischen Föderation“, wo die sich verändernde Lebenslage Russlanddeutscher in Russland in den Blick genommen wurde. Dabei geht der Autor auf die – nur spärlich vorhandene – empirische Forschung in Russland ein. Der in Moskau lebende Medienwissenschaftler und Germanist berichtet von einer stark zurückgehenden Population, die über die Weiten des Landes verstreut lebt, so dass es praktisch keine Orte mehr gibt, in denen die deutsche Kultur dominieren würde. Der Verfasser nimmt in den Blick sehr unterschiedliche Arten, mit der Differenz zwischen dem Eigenen und den Anderen in Deutschland und Russland umzugehen, und sieht darin eine Erschwernis für eine gelingende Integration. Außerdem geht er auf Aspekte der Sprachsozialisation und der Sprachkompetenz, der nationalen Identität und der Selbstdefinition auf der Grundlage der in Russland betriebenen Forschung.
Der Nishnegoroder Medienwissenschaftler Anton Fortunatov analysiert die Situation der Russlanddeutschen in Deutschland wie in der Russischen Föderation in der Dichotomie von Kollektivismus und Individualismus. Er geht dabei von der grundsätzlichen Verschiedenheit der Charaktere aus. Aktuelle Entwicklungen in Russland ordnet der Autor in einen größeren Zusammenhang ein und untersucht diese unter anderem anhand der russischen Literatur.
Katharina Duck verfasste einen Aufsatz mit dem Titel „Als mein Kind geboren wurde, hatte ich wieder Lust, russisch zu sprechen“, wo sie die sprachlichen Kompetenzen, die Einstellung zur russischen und zur deutschen Sprache sowie die Sprachsozialisation bei Aussiedlern aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion der zweiten Generation untersucht. Im Focus steht dabei die Frage, ob und wie die untersuchten Personen ihre russischen Sprachkenntnisse an ihre eigenen Kinder weitergeben. Sie findet ein Code-Switching als häufiges Phänomen, der wechselnde Gebrauch der Elemente beider Sprachen. Die Autorin betont die einschlägigen Problemen der Ethnizitätsbildung dieser Gruppe und die Ausgrenzungserfahrungen in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion.
Der St. Petersburger Soziologe Evgenii Antonov untersucht in seinem Buchbeitrag die Art und Weise, wie sich Russen mit Migration beschäftigen. Der Autor beschreibt einen Teufelskreis von Ablehnung der aufnehmenden Gesellschaft und Abschottung der Migranten, die zahlreich, meist von Osten kommend, in die Metropolen St. Petersburg und Moskau strömen. Die sozioökonomische Situation von Migranten sei problematisch, Integrationshilfen seien nur spärlich vorhanden.
Elisaweta Sawrutskaja und Nadezhda Wassina beschäftigen sich in dem abschließenden Buchbeitrag mit der Rolle der ethnischen Deutschen in der Geschichte von Nishnij Novgorod, dem früheren Gorkij, der Millionenstadt an der Wolga. Anhand von vielen Biografien wird aufgezeigt, wie groß der Einfluss der Deutschen auf die Entwicklung der Stadt und der Region war.
In der von Michael C. Hermann verfassten Zusammenfassung werden die Buchbeiträge kurz dargestellt und die Schlussfolgerungen für die Migrationsforschung sowie für die gesellschaftliche Diskussion über Migration und Migrationsfolgen formuliert.
Fazit
Der Band richtet den Blick auf eine der größten Zuwanderergruppen in Deutschland, die Spätaussiedler. Neuerscheinungen über die Integration jugendlicher Spätaussiedler sind keine Seltenheit, was die Aktualität des Themas beweist. Die Integration russlanddeutscher Jugendlicher in die deutsche Gesellschaft ist ein Thema, das Praktiker aus Jugendhilfe, Migrationsdiensten, Schule und Strafrechtspflege seit Jahren beschäftigt, weil sie wesentlich problematischer verlief, als von Politik und Wissenschaft prognostiziert.
Der vorliegende Band zeichnet sich dementsprechend nicht nur durch den aktuellen thematischen Bezug aus, sondern auch durch einen Beitrag zur Schließung bestehender Forschungslücken. Es soll gewürdigt werden, dass der bikulturelle Blick auf die Russlanddeutschen im vorliegenden Band neue Sichtweisen eröffnet und zeigt, wie unterschiedlich westliche und osteuropäische Wissenschaftler sich der Thematik nähern. Der Band ist dementsprechend ein inhaltlich interessanter Beitrag zur gesellschaftskritischen Diskussion über Migration und Migrationsfolgen.
Rezension von
Dr. Olga Frik
Omsker Staatliche Universität für Agrarwissenschaften (benannt nach P.A. Stolypin), Omsk, Russische Föderation. Ehemalige Lehrbeauftragte und Gastwissenschaftlerin an der Leibniz-Universität Hannover
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