Renate Huber: Wie gehe ich mit Vielfalt um?
Rezensiert von Prof. Dr. Regine Morys, 05.08.2014
Renate Huber: Wie gehe ich mit Vielfalt um? Eine Handlungsanleitung nach dem Sudoku-Prinzip. Waxmann Verlag (Münster/New York/München/Berlin) 2013. 270 Seiten. ISBN 978-3-8309-2959-8. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,90 sFr.
Thema und Zielgruppe
Eine Handlungsanleitung zum Umgang mit Vielfalt nach dem Sudoko-Prinzip verspricht der Titel des Buches, veranschaulicht durch eine dementsprechende Illustration auf dem Cover. Das Sudoko-Prinzip wird als Metapher für den kreativen Umgang mit vielfältigen und oszillierenden Identitätsentwürfen in globalisierten Gesellschaften benützt und steht für eine offene, neugierige und fragende Haltung, die von einem echten Interesse am Gegenüber bestimmt ist. Vergleichbar mit dem Vorgehen beim Lösen von komplexen Sudoku-Rätseln bedarf es laut der Autorin für den Umgang mit Vielfalt sowohl eines logisch stringenten als auch eines kreativen, intuitiv-erprobenden Zugangs, der zu frühe Festlegungen vermeidet und mit Offenheit das Agieren in der Unübersichtlichkeit ermöglicht. So möchte das Buch neugierig machen für den Umgang mit dem „Anderen“.
Das Buch wendet sich an eine breite Leserschaft, die weder eine exakte wissenschaftliche Abhandlung erwartet, andererseits aber auch keine einfachen Rezepte möchte. Die Autorin will Mut machen, sich mit Offenheit auf den Umgang mit Vielfalt im 21. Jahrhundert einzulassen und diesen Prozess als Chance zu sehen.
Autorin
Die Autorin absolvierte ein Lehramtsstudium in Geschichte und Französisch an den Universitäten Salzburg und Reims und promovierte am European University Institute in Florenz. Sie verfügt über Ausbildungen als Coach und in Systemischer Strukturaufstellung und hat zahlreiche Weiterbildungen in den Bereichen Kommunikation, Konfliktmanagement, interkulturelle Arbeit / interkulturelle Organisationsentwicklung u.ä. absolviert. Ihre vielfältige Berufsbiografie weist verschiedene Tätigkeiten in den Bereichen Lehrtätigkeiten an Schulen und Hochschulen, Projektmitarbeit, Projektleitung und Seminartätigkeiten auf.
Aufbau
Das Buch ist klar und übersichtlich gegliedert. Es umfasst ein einleitendes Kapitel und zwei Hauptkapitel, die in sich untergliedert sind. Das erste Hauptkapitel dient quasi als „Aktenschrank“ (S. 209). Darin wird eine Annäherung an neun Unterschiedlichkeitsdimensionen aus kulturwissenschaftlich-historischer Perspektive vorgenommen. Im anderen Hauptkapitel werden Grundprinzipien der Kommunikationsstrategien nach dem Ansatz der systemischen Strukturaufstellung erläutert. Ein Schlusskapitel und ein Epilog bündeln die Zielsetzung des Buches. Literaturbelege innerhalb der Kapitel fehlen völlig, ebenso fehlt ein Literaturverzeichnis am Ende. Anstelle dessen finden sich Literaturtipps am Ende jeden Teilkapitels. Einige Abbildungen machen die Metapher vom Sudoku-Prinzip verständlich.
Inhalt
Das Buch beginnt mit einem kurzen Prolog, in welchem die dem Buch zugrunde gelegte Metapher des Sudoku-Prinzips erläutert wird. Deutlich gemacht wird, dass dieses Buch sowohl von Menschen mit als auch ohne Vorerfahrungen oder Vorinteresse am Sudoku-Spiel gewinnbringend gelesen werden kann. Es fordert dazu auf, offen und spielerisch an die Thematik heranzugehen und sich vom Buch keine eindeutigen Rezepte und eindimensionalen Erklärungsmodelle zu erwarten.
Anstelle einer Einleitung im klassischen Sinne folgt darauf ein Kapitel mit der Überschrift „Einige Vorbemerkungen oder doch ein Vorgespräch“. Darin positioniert die Autorin das Buch zwischen anspruchsvoller und komplexer wissenschaftlicher Literatur, die keine breite Leserschaft findet, auf der einen und zu stark vereinfachender und damit stereotypisierender Literatur auf der anderen Seite. Darüber hinaus möchte die Autorin auch dazu beitragen, die Vielschichtigkeit der verschiedenen Unterschiedlichkeitsdimensionen gleichzeitig in den Blick zu nehmen – allerdings ohne dabei die Leser und Leserinnen angesichts der daraus entstehenden Komplexität zu überfordern. In diese Publikationslücke hinein siedelt die Autorin ihr Buch an. Ankerpunkt ist dabei der Bezug auf das Sudoko-Prinzip. Um ein Sudoku-Rätsel zu lösen, bedarf es gleichzeitig des Anwendens von streng logischen Schlussfolgerungen, spielerischem Ausprobieren und intuitiv-kreativem Vorgehen. Entsprechend der beim Sudoko-Spiel entstehenden Felder durch die Kreuzung von horizontalen und vertikalen Linien, baut die Autorin das Bild eines aus neun, von ihr bewusst in Anführungszeichen gesetzten „Schubladen“ (S.15) bestehenden Schränkchens. Diese repräsentieren folgende neun Verschiedenheitsdimensionen: Sprache, Religion, „Hautfarbe“, Nationalität / Ethnizität, Gender / Geschlecht, Generation, (Berufs-) Milieu / Lebenswelt, Sexuelle Orientierung, Individuellkollektiv. Die Autorin begründet die Festlegung bzw. Auswahl genau dieser neun Dimensionen mit deren grundsätzlicher Veränderbarkeit bzw. mit der Veränderbarkeit der diesen Dimensionen gesellschaftlich zugeschriebenen Bewertungen. Als Prüfstein gilt für die Autorin die Frage „So what?“ (S.16). Damit meint die Autorin, dass die Bedeutung einer Unterschiedlichkeit entsprechend hinterfragt werden und damit verändert werden könne. Da dies bei der Kategorie „Body“ (Behinderung) nur bedingt zutreffe, wird diese nicht berücksichtigt. Die Autorin weist darauf hin, dass mit diesen Dimensionen noch nicht alle möglichen erfasst werden, was ihrer eigenen Einschätzung nach aber unproblematisch ist, da sie eher einen exemplarischen Zugang zum Umgang mit Unterschiedlichkeiten ermöglichen möchte. Zum Abschluss dieses Kapitels setzt sich die Autorin dann noch mit dem umstrittenen Begriff „Kultur“ auseinander, arbeitet diesen historisch-etymologisch auf und positioniert sich dann in der Verwendung eines sehr weiten Verständnisses dieses Begriffs, gedacht in der Pluralform im Sinne „ineinander fließender sozialer Räume“ (S.28).
Das folgende, sehr umfangreiche Kapitel namens Neun Unterschiedlichkeiten – „Schubladen im Aktenschrank“ und „Edelsteine in der Schatzkammer“ bildet den Hauptteil des Buches, von der Autorin auch das „Informationszentrum“ (S. 30) genannt. Jede der neun Dimensionen wird kulturhistorisch und sozialwissenschaftlich beleuchtet. Dieses Vorgehen soll an der Dimension „Sprache“ exemplarisch gezeigt werden. Eine mehrsprachige Situation, die die Autorin selbst erlebt hat, bildet die Einleitung und macht die Komplexität von Sprachverwendung auf dem Hintergrund von (sprach-) politisch bestimmten Deutungen deutlich. Darauf folgt eine historische Rückbesinnung im Bogen von den Ursprüngen europäischer Sprachen über die historisch späte Etablierung von standardisierten Nationalsprachen als Normsprachen hin zu modernen Entwicklungen. Deutlich wird der Zusammenhang von Sprache, Macht, Prestige, Teilhabe und der Herstellung von Zugehörigkeitsordnungen sowie die kulturelle Bedingtheit und Überformung von Sprache und Sprachverwendung. Sprache wird dabei nicht als statisch verstanden, sondern als stets neu in einem sozialen Aushandlungsprozess aktualisiert und interpretativ erzeugt. Das Fazit dieses Teilkapitels und damit der Bezug zur Leitthematik, dem Umgang mit Vielfalt, besteht in der Erkenntnis, dass es somit bei der Sprachverwendung des Sich-Einlassens auf das Gegenüber und einer aufmerksamen und fragenden Haltung bedarf.
Ähnlich aufgebaut sind die folgenden Ausführungen zu den acht weiteren Dimensionen.
An diesen breiten Wissensfundus schließt sich das inhaltlich zentrale Kapitel Was Ihnen als QuerdenkerIn in der Kommunikation weiterhilft an. Dieses Kapitel besteht aus fünf Unterkapiteln, die in sich nochmals mit Zwischenüberschrift untergliedert sind. In diesem Kapitel bezieht die Autorin wesentliche Ansätze aus der systemischen Strukturaufstellung auf die Metapher vom Sudoko-Prinzip. Zentral ist für die Autorin demnach die Fähigkeit und Bereitschaft, quer zu denken. So werden zum Beispiel die Bedeutung von Irritationen, des Perspektivwechsels, des zirkulären Denkens und der Tetralemma-Strategie angesprochen.
In dem Kapitel Einige Schlussbemerkungen und ein hoffnungsfroher Ausblick macht die Autorin die zentralen Aspekte des Umgangs mit Neuem und als „anders“ Empfundenem in der Verschränkung von Identitätskonstruktionen, Zugehörigkeitsordnungen und der Gleichzeitigkeit von Zugehörigkeiten zu und zwischen verschiedenen Systemen als dynamischen Prozess deutlich. Bildhaft dargestellt wird dies mit der Metapher des Samurai-Sudokus, das Mehrfachzugehörigkeiten und die Verwobenheit verschiedener Systeme anschaulich macht. Entscheidend ist demnach die Reflexion eigener Positionierungen.
Der Epilog rundet das Buch ab und formuliert nochmals das Anliegen des Buches, keine Rezepte und Handlungsanleitungen, sondern eine „Grundorientierung“ (S. 267) anbieten zu wollen.
Diskussion
Das Buch bietet auf den ersten Blick einen interessanten und gewinnbringenden Ansatz, indem es den Umgang mit Vielfalt mit der Situation des Lösens eines Sudoku-Rätsels gleichsetzt. Wichtig ist, dass die Autorin mehrmals betont, dass es sich dabei um eine Metapher handelt, denn die Komplexität der sozialen Wirklichkeit übertrifft die eines Sudoku-Rätsels bei Weitem. Auch wenn einige der Parallelen überzeugend sind und diese Metapher sicherlich viele Leser und Leserinnen anspricht und den Suchprozess beim Umgang mit Ungewissheit sowie das Prinzip von Mehrfachzugehörigkeiten verständlich machen kann, so stellen sich aber auch Grenzen der Verwendung der Metapher, die in dem Buch nicht deutlich genug formuliert sind, insbesondere die, dass jedem Sudoku-Rätsel genau eine richtige bzw. einzig mögliche Lösung entspricht, was für Interaktions- und Kommunikationssituationen so nicht gelten kann und darf.
Das Buch zeichnet sich durch eine große inhaltliche Breite und kenntnisreiche Darstellung aus. Darin liegt jedoch auch ein Nachteil, denn es wird sehr vieles recht oberflächlich angerissen. Es lässt sich vermuten, dass insbesondere die kommunikationsbezogenen Kapitel in der Kürze der Darstellung für eine nicht fachkundige Leserschaft nicht fassbar werden, zumal an der Stelle Beispiele der Anwendung auf konkrete Situationen fehlen.
An vielen Stellen bleibt fraglich, welche Inhalte aus welchem Grund herausgegriffen werden. Auch wenn das Buch bewusst keine wissenschaftliche Abhandlung sein möchte, so vermisst man doch eine klare Zuordnung der verschiedenen Inhalte zu ihrem Theorie- oder Disziplinhintergrund. So wird zum Beispiel nur beiläufig klar, dass sich das kommunikationsbezogene Kapitel hauptsächlich auf Ansätze der systemischen Strukturaufstellung bezieht.
Fachlich fragwürdig ist die Auswahl und Benennung der neun Diversitätsdimensionen und der Ausschluss der Dimension „body“. Der politisch bedeutsame Aspekt, dass es sich bei diesen Diversitätsdimensionen nicht nur um mehr oder weniger veränderbare Identitätsfacetten handelt, sondern dass aufgrund der Zuschreibung zu diesen gesellschaftlich ungleiche Machtverhältnisse begründet und gefestigt und die Stellung im sozialen Raum festgeschrieben wird, wird nur am Rand angesprochen. Die Frage „na und?!“ (S. 16) wirkt hier sehr verharmlosend. Das Bild eines Aktenschrankes mit neun Schubladen ist zwar sehr anschaulich, doch gerade diese Anschaulichkeit birgt die Gefahr in sich, dass die Zugehörigkeiten entgegen der eigentlichen Absicht der Autorin als statisch und voneinander isolierbar verstanden werden. Es fehlt auch eine diskursive Auseinandersetzung damit, dass der Umgang mit Diversität nicht nur eine Frage der Haltung ist, sondern politische Implikationen hat.
Die Zielsetzung des Buches bleibt vage. Der Titel des Buches trifft nicht die im Buch genannte Intention, denn es möchte ja eben genau das nicht sein: eine Handlungsanleitung, sondern vielmehr Optionen und hilfreiche Grundeinstellungen zum Umgang mit Vielfalt aufzeigen. Zu unscharf ist die Formulierung „Umgang mit Vielfalt“. Erst beim Lesen lässt sich dann vermuten, dass sich das Buch wohl vor allem auf konkrete Kommunikationssituationen mit einem als „anders“ wahrgenommenen Menschen bezieht. Allerdings wird nicht klar, um welche Art von Kommunikatonssituationen, in welchem Kontext, mit welchem Ziel usw. es sich handeln soll. Insofern sind die aufgezeigten Grundprinzipien zwar generell hilfreich, aber doch wenig konkret anwendbar und es fehlen wesentliche Elemente für die Analyse und Gestaltung derartiger Situationen. Auch stellt es kein „Handbuch“ (S. 11) im Sinne eines Nachschlagewerkes dar.
Positiv zu sehen ist, dass die Autorin den schwierigen Versuch unternimmt, die Lücke zwischen wissenschaftlichen Publikationen einerseits und rezeptartigen Praxisanleitungen andererseits zu schließen und dabei ein breites Publikum anzusprechen. Sprachlich gelingt ihr das gut, denn das Buch ist durchweg verständlich geschrieben und interessant zu lesen. Das Publikum wird direkt angesprochen, Beispiele oder persönliche Anekdoten lockern den Text auf. Das Lay-Out ist ansprechend. Ob es aber die Funktion erfüllt, Impulse für die Gestaltung von komplexen Kommunikationssituationen zu bieten und zu einer differenzsensiblen und vorurteilsbewussten Haltung einer breiten Leserschaft beizutragen, ist fraglich. Um dieses Anliegen des Buches wirklich zu verstehen und die Verbindung zwischen dem ersten und dem zweiten Teil herzustellen, bedarf es bereits eines bestimmten Vorwissens. Wer Vorwissen aber bereits mitbringt, vermisst Quellenbelege und eine tiefere Bearbeitungsweise.
Fazit
Das Buch bietet durch die Sudoku-Metapher einen Blickwinkel auf die Thematik, der von seinem Ansatz her interessant und bedenkenswert ist. Es bietet eine Fülle von – überwiegend historischen – Informationen zu neun Diversitätsdimensionen und lädt aufgrund seines gut verständlichen Stils zum Lesen ein. Allerdings bleibt der Nutzen für die Gestaltung von Kommunikationssituationen fraglich. Die Zielsetzung, ein breites Publikum ansprechen zu wollen, ist löblich, doch bleibt offen, wer davon profitiert. Wer sich bereits mit der Thematik auseinandergesetzt hat, wird inhaltlich zu wenig Diskursives finden und die Gefahr der Verharmlosung sehen; wer sich noch wenig mit der Thematik befasst hat, wird sich eher schwertun, in dem Buch eine „Handlungsanleitung“ sehen zu können. Ein Verdienst des Buches kann es sein, Anregungen für eine Perspektivänderung und für eine Haltung der Offenheit und Sensibilität im Umgang mit dem „Anderen“ zu geben und mit Hilfe der Neugier erzeugenden Sudoku-Metapher Leser und Leserinnen dafür zu gewinnen.
Rezension von
Prof. Dr. Regine Morys
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Zitiervorschlag
Regine Morys. Rezension vom 05.08.2014 zu:
Renate Huber: Wie gehe ich mit Vielfalt um? Eine Handlungsanleitung nach dem Sudoku-Prinzip. Waxmann Verlag
(Münster/New York/München/Berlin) 2013.
ISBN 978-3-8309-2959-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/16089.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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