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Jürgen Beushausen: Genogramm- und Netzwerkanalyse

Rezensiert von Prof. Dr. Marius Metzger, 26.02.2014

Cover Jürgen Beushausen: Genogramm- und Netzwerkanalyse ISBN 978-3-525-40183-5

Jürgen Beushausen: Genogramm- und Netzwerkanalyse. Die Visualisierung familiärer und sozialer Strukturen ; mit 2 Tabellen. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2012. 158 Seiten. ISBN 978-3-525-40183-5. D: 18,95 EUR, A: 19,50 EUR, CH: 27,90 sFr.

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Thema

Psychosoziale Diagnostik soll einen Beitrag zu einem möglichst umfassenden Zugang zur Klientel in seinen unterschiedlichen Lebensbezügen leisten. Im Vordergrund steht dabei die Genogrammarbeit, welche traditionell allerdings etwas einseitig auf die Mikroebene fokussiert. Im Rahmen eines erweiterten Verständnis der strukturellen Analyse sozialer Beziehungen sind in einer genographischen Mehrebenenanalyse daher zusätzlich die Meso- und Makroebene einzubeziehen. Ergänzend kann über die Genogrammarbeit hinaus zusätzlich eine Netzwerkanalyse mit dem Ziel durchgeführt werden, ein ökosoziales Systembild zu erstellen. Ausgehend von der Erkenntnis, dass die Herstellung von linearen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen im Kontext eindimensionaler Erklärungsmodelle der Komplexität sozialer Probleme nicht gerecht werden können, wird die Notwendigkeit zur Entwicklung einer multiperspektivischen Diagnostik begründet. Als Grundlage dieser multiperspektivischen Diagnostik trägt der Autor in seinem Buch verschiedene Aspekte familiärer Funktionstüchtigkeit zusammen und stellt diese in einen Zusammenhang mit der sozialen Lage der Klientel. Abschließend werden dann die angewandten Methoden zur Visualisierung von Genogrammen und Netzwerken näher beschrieben und mit Beispielen veranschaulicht.

Herausgeber

Jürgen Beushausen ist als Supervisor, Dozent und Therapeut beruflich engagiert. Der diplomierte Sozialarbeiter und (Sozial-)Pädagoge promovierte 2002 an der Universität Oldenburg zum Thema Gesundheit und Krankheit im sozialen System Familie. Während dreissig Jahren war der Autor an der Fachstelle Sucht des Diakonischen Werkes Oldenburg tätig. Hintergrund für die therapeutische Arbeit stellen insbesondere die systemische Familientherapie sowie die integrative Gestalttherapie dar.

Entstehungshintergrund

Hintergrund für das vorliegende Buch stellt die 2002 publizierte Dissertation „Gesundheit und Krankheit im sozialen System Familie“ dar, in welcher der Autor zum Schluss kommt, dass Erkenntnisfortschritte im Verständnis komplexer Phänomene nur über multidisziplinäre Ansätze zu erreichen sind, in denen ein Problemgegenstand mit multiplen Perspektiven unterschiedlicher Disziplinen untersucht wird. Eine solche Analyse biete „die Möglichkeit, die jeweils theoretischen Zusammenhänge synchron, als Facetten eines komplexen Geschehens zu betrachten. Die Wirklichkeit wird auf verschiedenen Facetten, wie durch unterschiedliche Optiken, evoziert. Dies darf jedoch nicht als ein fragmentierter Wahrnehmungs- und Verstehensprozess aufgefasst werden, denn der jeweilige Fokus hat die übrige Wirklichkeit als Horizont. Im Rahmen der Abstimmung und Angleichung der einzelnen Ansätze tauchen Brüche und Divergenzen auf, bei denen nicht die Vollständigkeit im Detail entscheidend ist; ein solcher Anspruch wäre hypertroph“ (S. 310).

Aufbau und Inhalte

Im ersten Kapitel „Einführung“ wird die Notwendigkeit zur Einnahme eines multiperspektivischen Blicks über dreizehn Grundpositionen begründet:

  1. Verwendung eines ganzheitlichen, multiperspektivischen Konzepts,
  2. Übernahme eines biopsychoökosozialen Menschenbildes,
  3. Konstruktivistisch begründete Akzeptanz eingeschränkter Erkenntnismöglichkeiten,
  4. Orientierung am systemischen Paradigma,
  5. Partnerschaftliche Aufnahme einer Ich-Du-Beziehung,
  6. Wohlwollende Akzeptanz des Kommunikationsgeschehen,
  7. Passung an den beraterischen Kontext,
  8. Analyse der sozialökologischen Dimensionen,
  9. Sensibilität gegenüber kulturellen Unterschieden,
  10. Überwindung einer krankheitszentrierten Perspektive,
  11. Fokussierung auf die Familie als wichtigstes soziales System,
  12. Förderung der Autonomie der Klientel sowie
  13. Partizipation der Betroffenen über alle Aktivitäten hinweg.

Im zweiten Kapitel „Psychosoziale Diagnostik“ wird die Bedeutung multiperspektivischer Ansätze in der Diagnostik herausgearbeitet. Der Verdienst solcher Ansätze bestehe insbesondere darin, dass beim Diskurs über Schädigungen unterschiedliche Wirklichkeitskonstruktionen möglich sind und ein hohes Maß an Ambiguität toleriert werden kann. Dies könne über eine phänomenologisch-strukturell orientierte, prozessuale Diagnostik realisiert werden, bei welcher über das gegenwärtige Geschehen hinaus sowohl die Vergangenheit als auch im antizipierenden Sinn die Zukunft miteinbezogen ist. Schließlich wird auch noch auf die Notwendigkeit einer konsequenten Ressourcenorientierung im diagnostischen Bemühen bei der Suche nach einem möglichst vielschichtigen Abbild der Phänomene verwiesen, wobei das, was als Ressource identifiziert werden kann, immer vom Standpunkt der betroffenen Subjekte aus beurteilt werden muss.

Im dritten Kapitel „Die Kriterien der familiären Funktionstüchtigkeit“ sind sowohl strukturelle wie auch funktionale Aspekte familialer Beziehungen dargestellt. Paarbeziehungen, Eltern-Kind-Beziehungen, Geschwisterbeziehungen sowie Grosseltern-Enkelkinder-Beziehungen werden als typische (binnen-)familiale Beziehungsstrukturen ausführlich beschrieben. Anschließend werden Kriterien für die Bewertung familiärer Funktionstüchtigkeit vorgestellt, welche sich als Kriterien zur Analyse von Genogrammen und Netzwerkkarten heranziehen lassen. So finden sich hier etwa verschiedene Konzeptionen typischer Rollenmuster beschrieben, welche in Familiensystemen immer wieder anzutreffen sind oder normative Familienzyklen, deren Ausgestaltung in einer Mehrgenerationenperspektive durch interfamiliäre Wiederholungszwänge als wesentlich mitbeeinflusst gelten können.

Im vierten Kapitel „Die soziale Lage“ wird nach Erklärungsansätzen für gesundheitliche Ungleichheit in Zusammenhang mit dem sozialen Status gesucht. Ausgehend von einer Sammlung verschiedener empirischer Ergebnisse werden sozioökonomische Faktoren mit dem Gesundheitszustand von Eltern und deren Kindern in Verbindung gesetzt, wie beispielsweise die Erkenntnis, dass Armut die kommunikative Asymmetrie in der Familie verstärken kann. Aufgrund deren großen Bedeutung als protektiver Faktor werden zudem einige empirische Befunde zu Effekten sozialer Unterstützung zusammengetragen und zu bedenken gegeben, dass sich die Analyse von Genogrammen und Netzwerken primär auf die subjektive Wahrnehmung von sozialer Unterstützung konzentriert und die objektive Unterstützung daher weitgehend unbeachtet bleibt.

Im fünften Kapitel „Die angewandten Methoden“ stellt der Autor Überlegungen zur Erhebung, Visualisierung und Analyse von Genogrammen und Netzwerkanalysen an. An die gezeichneten Genogramme anschließend, erfolgt die Erweiterung zur genografischen Mehrebenenanalyse, welche über mehrere Zwischenschritte die Strukturierung der verschiedenen Informationen ermöglicht. Die Herausforderung besteht dabei darin, die Klientin respektive den Klienten durch die enorme Datenfülle und die unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten nicht zu verwirren, sondern vielmehr Orientierung über die eigene Lebenssituation zu ermöglichen. Ergänzend zur Genogrammarbeit bietet sich die Kombination mit Netzwerkanalysen an, welche unter Nutzung einer zur Genogrammarbeit ähnlichen Symbolsprache die Visualisierung sozialer Netze ermöglichen.

Im sechsten Kapitel „Beispielhafte Genogramme und Netzwerkanalysen“ werden mit dem Genogramm von Frau M. und dem Genogramm von Herrn D. zwei unterschiedliche Beispiele präsentiert, um der Leserschaft die Möglichkeiten der Genogrammarbeit anschaulich zu machen. Abschließend wird ein Manual vorgestellt, welches den Rahmen für die Erhebung des Genogramms und der Netzwerkanalyse bieten soll. Das Manual bietet eine Hilfestellung zur Beschreibung von Klient und familiärem Umfeld, Gesundheit von Klient und anderen Personen, Klient und Arbeitswelt, Inklusion in weitere Umwelten sowie Ressourcen und Lebenslagen. Es steht auch unter www.v-r.de/genogrammanalyse kostenlos zum Download zur Verfügung.

Diskussion

Mit der Genogrammarbeit und den Netzwerkanalysen nimmt der Autor grundlegende Werkzeuge der Sozialen Arbeit mit einer vergleichsweise langen Tradition in ebendieser Profession in den diagnostischen Blick. Es verwundert daher ein wenig, dass der Autor trotz des beruflichen Hintergrundes als Sozialarbeiter respektive Sozialpädagoge seinen Zugang zu diesen diagnostischen Werkzeugen nicht in ebendieser Tradition verortet, sondern vergleichsweise unspezifisch auf die Anwendung in verschiedenen Arbeits- und Berufsfeldern bezieht. Begründet wird dies über die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit verschiedener Professionen, was so zwar grundsätzlich nachvollziehbar ist, aber auch die Grenzen der professionellen Möglichkeiten offenbart. So ist meines Erachtens beispielsweise nicht davon auszugehen, dass Fachpersonen des Gesundheitswesens ohne weiteres die relevanten Informationen bezüglich des Zuganges zu sozialstaatlichen Leistungen erheben und damit Möglichkeiten zur Existenz- und Teilhabesicherung erschließen können, wie dies die hier vorgestellte Form der Genogrammarbeit vorsieht. Im Unterschied zur professionsbezogenen Verortung ist dagegen die theoretische Verortung der Genogrammarbeit gelungen, da das zusammengetragene Wissen eine hohe thematische Relevanz ausweist. Der Verdienst des hier vorgestellten diagnostischen Zuganges besteht dann auch zweifellos in der Zusammenführung verschiedener Aspekte zur differenzierten Beschreibung der Lebenssituation der Klientel. Dieser diagnostische Zugang scheint sich darüber hinaus auch in der langjährigen Berufspraxis des Autors bewährt zu haben.

Der Autor stellt hohe Anforderungen an eine Diagnostik, die „einen umfassenden Zugang zum Menschen und seinen Kontexten“ (S. 7) ermöglichen soll. Es erscheint daher nur konsequent, den Autor an den eigenen Maßstäben zu messen. Meines Erachtens wird der Autor dann auch seinem wichtigsten Anliegen gerecht, nämlich jenem, einen Zugang zur multiperspektivischen Diagnose zu erarbeiten. Andere Anforderungen können dagegen nicht eingelöst werden, was sich exemplarisch an der folgenden Anforderung an eine prozessuale Diagnostik zeigt: „Prozessuale Diagnostik ist ein fortlaufender Prozess, der in die Betreuung eingebettet ist, mit dem Bemühen um Übereinstimmung der Wahrnehmungen. Die Diagnostik setzt Veränderungen in Gang, in deren Konsequenz es wiederum zu einer Veränderung der Diagnostik kommt. Jede diagnostische Intervention wird damit auch zur therapeutischen/beratenden Intervention“ (S. 31). Gute Diagnostik soll sich also nicht auf Eingangsdiagnostik beschränken, sondern in eine Verlaufsdiagnostik überführt werden. Meines Erachtens kann dieser Anspruch allerdings nicht eingelöst werden, da der Autor der Dynamik sozialer Strukturen zu wenig Beachtung schenkt. Ebenso bleibt weitgehend undurchsichtig, inwiefern die Forderung an die Verortung der erhobenen Strukturen in einem Zeitkontinuum effektiv eingelöst werden kann, wie es die in diesem Zusammenhang als „prozessual“ bezeichnete Diagnostik leisten soll: Wie kann eine solche prozessuale Diagnostik als fortlaufender Prozess praktisch umgesetzt werden, zumal die hier beschriebene, manualisierte Diagnostik eine sehr umfassende Art der Eingangs- aber nicht der Verlaufsdiagnostik darstellt? So überrascht es dann auch nicht, dass die Empfehlungen zur diagnostischen Arbeit primär die erste Phase der Beratung betreffen und sich der Autor über deren Fortführung im Verlauf der Beratung weitgehend ausschweigt: „Der Einsatz des Manuals in der ersten Phase einer Beratung/Therapie/Begleitung ist in der Regel sinnvoll, da dies eine gute Möglichkeit der Kontaktaufnahme und des Kennenlernens bietet“ (S. 135).

Fazit

Das Buch „Genogramm- und Netzwerkanalyse. Die Visualisierung familiärer und sozialer Strukturen“ bietet für geübte Praktikerinnen und Praktiker einen Fundus an theoretisch gestützten Kriterien zur Einschätzung der familiären Funktionstüchtigkeit und der sozialen Lage der Klientel. Besonders positiv ist dabei hervorzuheben, dass der Autor viele Vorschläge zur Analyse funktionaler Aspekte macht und sich nicht auf die einfacher zu erhebenden, strukturellen Aspekte beschränkt. Die Leserschaft soll sich dabei nicht durch die mannigfaltigen Anforderungen an die psychosoziale Diagnostik verunsichern lassen, da selbst der Autor diesen Anforderungen nicht immer gerecht zu werden scheint. Gleichwohl darf diese Kritik nicht zum Anlass genommen werden, sich dem nachvollziehbar begründeten Anspruch nach einem hartnäckigen Bemühen um ein möglichst umfassendes Verständnis der sozialen Lage der Klientel zu entledigen. Selbst wenn dieser Anspruch nur teilweise eingelöst werden kann, so hat man doch immerhin die Gewissheit, sich nach bestem (professionellen) Wissen und Gewissen um ebendieses Verständnis bemüht zu haben.

Rezension von
Prof. Dr. Marius Metzger
Verantwortlicher Kompetenzzentrum Erziehung, Bildung und Betreuung in Lebensphasen am Institut für Sozialpädagogik und Bildung der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
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Es gibt 17 Rezensionen von Marius Metzger.

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ISSN 2190-9245