Anna Maria Riedi, Michael Zwilling et al. (Hrsg.): Handbuch Sozialwesen Schweiz
Rezensiert von Prof. Beat Uebelhart, 20.02.2014

Anna Maria Riedi, Michael Zwilling, Marcel Meier Kressig, Petra Benz Bartoletta, Doris Aebi Zindel (Hrsg.): Handbuch Sozialwesen Schweiz. Haupt Verlag (Bern Stuttgart Wien) 2013. 526 Seiten. ISBN 978-3-258-07822-9. D: 55,90 EUR, A: 47,20 EUR, CH: 48,00 sFr.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-258-07908-0 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Herausgeberteam
Die Herausgebenden Anna Maria Riedi, Michael Zwilling, Marcel Meier Kressig, Petra Benz Bartoletta und Doris Aebi Zindel sind an vier schweizerischen Fachhochschulen tätig.
Entstehungshintergrund
Der Vorläuferband wurde 1987 von der Schweizerischen Landeskonferenz für Sozialwesen herausgegeben und vom Verlag Pro Juventute seither nicht mehr neu herausgegeben. Die Herausgebenden wollen mit dem vorliegenden Handbuch die Lücke zu einer aktuellen Bestandsaufnahme im Bereich des schweizerischen Sozialwesens schliessen.
Aufbau
Das Handbuch ist in drei Teile gegliedert:
- Soziale Sachverhalte und Soziale Probleme
- Soziale Interventionen und Angebote im Sozialbereich
- Theoretische Bezüge, Diskurse und Rahmenbedingungen.
Dieses Handbuch bietet mit seinen 41 Beiträgen von insgesamt 71 Autorinnen und Autoren auf 526 Seiten ein ausführlicher Überblick über Problemlagen, Angebote und Herausforderungen des Sozialwesens in der (deutschsprachigen) Schweiz.
Für jeden der drei Hauptteile wird nachfolgend kurz die Bandbreite an Beiträgen beschrieben. Aufgrund des Umfangs dieses Handbuchs können danach nur einzelne Schlaglichter auf ausgewählte Beiträge geworfen werden, um exemplarisch die inhaltliche Vielfalt zu dokumentieren.
Inhalt
Im ersten Teil werden soziale Sachverhalte und soziale Probleme entlang der unterschiedlichen Lebensphasen beschrieben. Die thematische Bandbreite könnte zwischen neuen Lebensentwürfen in unterschiedlichen Lebensphasen über die Diversitätsanforderungen sozialer Interventionen angesichts von Migration, Interkulturalität, Transnationalität bis zu den Auswirkungen des digitalen Zeitalters auf Profession und Klientenbeziehung abgesteckt werden.
Thomas Gabriel und Samuel Keller betrachten die „Krisen und Transitionen im Lebenslauf“ nicht nur in ihrer zeitlichen Dimension, vielmehr arbeiten sie die Chancen zu einer verbesserten Resilienz heraus. Dabei machen sie aufmerksam auf die Problematik einer utilitaristischen Umdeutung der Resilienz im Sinne des „American dream of life“. Gabriel und Keller betonen die interaktive und temporale Dimension des Resilienz-Konzepts, da sich verschiedene Einflüsse jederzeit gegenseitig verstärken oder aufheben und relativieren können.
François Höpflinger zeichnet ein differenziertes Bild vom „Altern in der Schweiz“. Nebst den bekannten Auswirkungen sozio-ökonomischer Ausstattung hinsichtlich Ungleichheiten in der Lebensführung skizziert er Entwicklungen hinsichtlich neuerer Wohnformen im Alter. Einerseits postulieren die aktuellen Altersleitbilder Aktivität und Gesundheit, andererseits ist aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklung damit auch ein Zwang zum „Jung verbleiben“ verbunden. Diese Entwicklung gilt, wie Höpflinger zeigt, explizit für das 3. Alter, wobei die sozio-ökonomische Ausstattung der Individuen auch die Chancen für ein „erfolgreiches“ (modernes) Altern ungleich verteilt. Im 4. Alter (fragiles, hohes Alter) ist dann wieder die klassische Defizitorientierung dominierend.
Im zweiten Teil werden „soziale Interventionen und Angebote im Sozialbereich“ vorgestellt, von Zusammenarbeitsformen grosser schweizerischer Städte und Trägerorganisationen, dem Dienstleistungsangebot sozialer Dienste und Organisationen in unterschiedlichen Feldern (Krankheit, Invalidität, Religionsgemeinschaften), der Bedeutung von Freiwilligenarbeit, zu einzelnen Interventionsarten wie der Schulsozialarbeit, der klinischen Sozialarbeit oder der Quartierarbeit und der sozialräumlichen Sozialarbeit.
Unter dem Titel „Staatliche und private Träger im schweizerischen Sozialwesen“ betrachtet Pascal Engler insbesondere im Kontext des vom New Public Management geprägten Gewährleistungsstaates. Die Veränderung der Binnenstruktur sowohl der staatlichen Akteure wie auch der NPO aufgrund der Leistungsverträge und Kontrakte sowie die Auswirkungen des Paradigmenwechsels von der Objekt- zur Subjektfinanzierung sind zwei zentrale Befunde Englers zur Trägersituation in der Schweiz.
Eine klare Sprache wählt der Beitrag von Eva Nadai, der die Erfolge respektive Misserfolge der Aktivierungsstrategie thematisiert. Nadai verdichtet die Ergebnisse verschiedener aktueller Untersuchungen zur beruflichen Eingliederung zu einer vierstufigen Anforderungs-Pyramide. Als Basisstufe nennt sie die Erfüllung von „Fundamentalfähigkeiten“ nach Sedrak (2011), „insbesondere die Fähigkeiten von Selbstreflexion, Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit und Engagement für das eigene Leben“ (S. 334).
Der dritte Teil ist theoretischen Bezügen, Diskursen und Rahmenbedingungen gewidmet. Ein thematischer Schwerpunkt könnte dabei etwa mit ‚Professionsfragen‘ umschrieben werden: Theorieentwicklung in der deutschen und französischen Schweiz, die Ausgestaltung von Sozialhilfe und Sozialer Arbeit in der italienischen Schweiz über verschiedene Berufsbilder, Ausbildungswege zur Identifizierung der Berufs-, Fach- und Branchenverbände im schweizerischen Sozialwesen. Daneben werden rechtliche Grundlagen und das schweizerische Sozialversicherungssystem beschrieben. Abgerundet wird dieser Teil durch die Auseinandersetzung der verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte zu zentralen Fragen des schweizerischen Sozialwesens.
Eine kritische Analyse der dominanten Diskurse unter dem Titel „Sozialpolitik mit Zukunft“ übernimmt Carlo Knöpfel vor dem Hintergrund seiner beruflichen Tätigkeiten bei Caritas Schweiz, als Vertretung der privaten Hilfsorganisationen in der Geschäftsleitung der SKOS (Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe) und seinem Engagement als Dozent für Sozialpolitik und Soziale Arbeit. Knöpfel skizziert fünf sozialpolitische Diskurse mit ihrem jeweiligen Ideologiepotenzial: (1) das Sparen im und am Sozialstaat, (2) die Ausgestaltung eines aktivierenden Sozialstaats, (3) der Missbrauchsdebatte, (4) dem Festhalten am Bewährten und (5) den Herausforderungen einer fundamentalen Neugestaltung des Sozialstaats.
Diskussion
Die Vielfalt zentraler Themen des schweizerischen Sozialwesens, die durch eine beeindruckende Anzahl von Autorinnen und Autoren sowohl aus Wissenschaft wie auch der Praxis beschrieben werden und der breite Überblick über das schweizerische Sozialwesen sind sicherlich die Stärken dieses Handbuchs. Die Vielfalt der Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichsten fachlichen Bereichen führt gleichzeitig auch zu einer gewissen Unübersichtlichkeit, da einerseits die Blickwinkel höchst unterschiedlich sind und es die Herausgebenden nicht geschafft haben eine einheitliche Begrifflichkeit durchzusetzen. So bleibt der Leserin und dem Leser beispielsweise verborgen, was denn genau unter ‚sozialen Problemen‘ und was unter ‚sozialen Sachverhalten‘ (Überschrift Teil 1) zu verstehen ist.
Nebst einer sehr ausführlichen Bestandsaufnahme zur IST-Situation im schweizerischen Sozialwesen, fehlen neuere Entwicklungen. Da ist einerseits das Auftauchen hybrider Organisationsformen (Lowprofit-Organisationen, z.B. Sozialfirmen) zu nennen, die ökonomische und soziale Zielsetzungen zu gleichen Teilen verfolgen und in jüngster Zeit immer erfolgreicher im „Wohlfahrtsmarkt“ mitmischen. Aufgrund der staatlichen Sparmassnahmen bekommen andererseits neue Finanzierungsformen eine grosse und künftig wohl noch eine wichtigere Bedeutung, wie Überlegungen einzelner Kantonsregierungen zum Thema Einführung von Social Impact Bonds (börsennotierte soziale Nachhaltigkeitsfonds zur Finanzierung sozialer Programme) belegen.
Gerade die Vielfalt der einzelnen Beiträge lässt den Wunsch nach einer wertenden und ordnenden Gesamtbetrachtung durch die Herausgebenden aufkommen. Auch hätten kritische Fragen, wie beispielsweise diejenige nach der Wirksamkeit dieser besonderen Leistungs- und Akteursvielfalt in der Schweiz durchaus Platz in diesem Band.
Fazit
Dieses Handbuch kann durch seine Ausführlichkeit, die Breite der Beiträge und die Vielfalt von Autorinnen und Autoren aus Theorie und Praxis punkten und dient in vielen Bereichen auch als Nachschlagewerk zu Entwicklungslinien wichtiger Themen im schweizerischen Sozialwesen. Die Leserinnen und Leser können wichtige Trends in einem Sozialstaat erkennen, der sich durch eine besondere Leistungs- und Akteursvielfalt angesichts sich wandelnder Lebensentwürfe auszeichnet.
Rezension von
Prof. Beat Uebelhart
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