Dagmar Wohler: Kunsttherapie bei Störungen des Sozialverhaltens [...]
Rezensiert von Prof. Dr. Lisa Niederreiter, 19.02.2014
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Dagmar Wohler: Kunsttherapie bei Störungen des Sozialverhaltens unter besonderer Berücksichtigung der Aufmerksamkeitsdefizit-, Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Eine klinische Studie im Rahmen der Kinder- und Jugendpsychiatrie. EB-Verlag (Hamburg Schenefeld) 2013. ISBN 978-3-86893-115-0. D: 29,80 EUR, A: 30,70 EUR, CH: 40,90 sFr.
Thema
Dagmar Wohler legt mit der vorliegenden, auf einer klinischen Studie über die Wirksamkeit der Kunsttherapie bei ADHS beruhenden Publikation ein umfängliches Werk zu Erscheinungsbildern, Erklärungsansätzen und Potentialen ästhetisch-therapeutischer Prozesse im Kontext dieser aktuell viel und kontrovers diskutierten Störung des Sozialverhaltens vor.
Autorin und Entstehungshintergrund
Der Band der als Dozentin für Kunsttherapie tätigen Autorin ist das Ergebnis ihrer Dissertation an der Universität zu Köln.
Aufbau und Inhalt
Im theoretischen Teil der Arbeit beschäftigt sich Frau Wohler aus multiperspektivischer Sicht mit der Entstehung des Sozialverhaltens, wobei hier weder Bindungstheorien, Entwicklungsmodelle, gesellschaftliche Einflüsse noch Aspekte der Affektkontrolle und Mentalisierung fehlen. Die bündige Abhandlung führt über einen besonderen Blick auf das Phänomen der Aufmerksamkeit zur vertieften Betrachtung der Hyperkinetischen Störung, die in Zusammenhang mit Störungen des Sozialverhaltens vorgestellt und erörtert werden. Hier setzt sich trotz der Berücksichtigung psychosozialer und exogener Faktoren mit den bedeutsamen neurobiologischen und neuropsychologischen Vorgängen der klinische Fokus der Publikation durch, was der noch wenig etablierten Kunsttherapie im gängigen Behandlungskanon bei ADHS geschuldet ist. Insofern nehmen ausdifferenzierte psychiatrische Klassifikationen und Erscheinungsbilder der Störungen einen großen Raum in ihrer Auseinandersetzung ein.
Nach einer kurz gehaltenen Einführung in die üblichen medizinischen und therapeutischen Behandlungsansätze widmet sich die Autorin mit einer Sichtung des aktuellen Forschungsstands im Feld den Potentialen kunsttherapeutischer Verfahren bei ADHS. Verschiedene Ansätze berücksichtigend hebt Frau Wohler in der Folge auf die Bedeutung von Wahrnehmung, von Emotionalität/Kognition, Spiel, Symbolisierung, Sublimierung, und Kommunikation/Interaktion als „Herzstücke“ einer multimodal einzubindenden Kunsttherapeutik bei ADHS ab.
Der zweite große empirische Teil der Publikation führt nach einer Hypothesenbildung zur Wirkungserwartung beim betroffenen Klientel (affektive Entlastung, Entspannung, Förderung individueller Ressourcen, Erhöhung der Aufmerksamkeitsleistung …) in die Grundzüge mehrperspektivischer, dem kunsttherapeutischen Gegenstand angemessener klinischer Forschung ein, die quantitative wie qualitative Forschungsmethoden koppeln.
Es folgt die konkrete Darlegung der komplexen Datenerhebung innerhalb der Studie, welche von der klassischen medizinisch-psychiatrischen Diagnostik für Kinder und Jugendliche (EEG, Intelligenz-, Persönlichkeits-, Aufmerksamkeitstestung …), Teilleistungs- und Verhaltensdiagnostik, über (psychologische) projektive Testverfahren (Familie in Tieren …), bis hin zu Verhaltensbeobachtungen, Befragungen der Probanden, ihrer Eltern und Lehrer reichen. Dem liegt Wohlers Störungsverständnis des hyperkinetischen Syndroms als ein mehrdimensionales Geschehen zu Grunde, dem es folgerichtig mit einer mehrebenen – analytischen Empirie und Auswertung zu begegnen gilt. Als spezifische Evaluationsinstrumente aus dem kunsttherapeutischen Feld kommen Filmrezeptionen, Gestaltungsprozesse einer Hohlkugel aus farbigem Wachs und fünf freie kunsttherapeutische Einheiten im Einzelsetting zum Einsatz. Insofern sind sämtliche kognitiven, emotionalen und sinnlich-haptischen Anteile der Probanden aktiviert und erfassbar, Verlauf und Veränderungen werden über Pre- und Posttests sowie über Prozessanalysen erhoben und ausgewertet. Die Probandengruppe besteht aus elf PatientInnen der Kinder-und Jugendpsychiatrie Herborn im Alter von 8 bis 12 Jahren und elf SchülerInnen einer anthroposophischen Schule in Bonn als „Kontrollgruppe“. Als diagnostische „Fein“ – Kriterien kommen die für ADHS prominenten Dimensionen „Aufmerksamkeit“, „emotionale Beteiligung“, „motorische Unruhe“ und „Entspannung“, zur Anwendung. Dem klinischen Real-Setting gemäß finden die fünf zu evaluierenden kunsttherapeutischen Einheiten als Kurzzeittherapie statt. Die einzelnen für die Effizienz kunsttherapeutischen Geschehens relevanten Untersuchungsinstrumente werden theoretisch wie methodisch hergeleitet und begründet. Für das gestalterische Verhalten zieht die Autorin beispielsweise Sehringers praxisorientiertes, systemanalytisches Evaluationsmodell kunsttherapeutischer Prozesse bei Kindern und Jugendlichen heran und adaptiert es. Darüber werden spezifische, systematische Aussagen über Ich – Funktionen und Abwehrmechanismen im gestalterischen Akt möglich, die den bedeutsamen Aspekt des Materials und seiner Anwendung (bspw. Regression) berücksichtigen. Dieses der Studie zu Grunde gelegte hochkomplexe, dem Spannungsfeld psychodynamischer, systemischer und neuropsychologischer Aspekte Rechnung tragende Forschungsdesign wird präzise en detail transparent gemacht und dokumentiert, sowie um besondere Erhebungswege kunsttherapeutischer Diagnostik valide ausdifferenziert. Die Autorin dekliniert es zur Gänze abschließend exemplarisch am Fallbeispiel des Probanden 02 durch und weist so sowohl die Wirksamkeit kunsttherapeutischer Intervention als auch die Sinnhaftigkeit eines solch umfänglichen Evaluationsvorgehens im klinischen Feld nach.
Diskussion
Wohler lässt in ihrer komplexen Untersuchung trotz der nachvollziehbaren Notwendigkeit der Anpassung kunsttherapeutischer Wirkungsforschung an die „Gesetze“ klinischer Forschung die für die Kunsttherapie mit Kindern und Jugendlichen so bedeutsame Dimension der Beziehung zwischen dem/der Therapeuten/in und Proband/in vermissen. So erfahren wir nichts über das so wichtige intersubjektive Geschehen, über ästhetische Erkenntnis- und sinngenerierende Aneignungsprozesse, wie sie sich in der kunsttherapeutischen Situation beispielsweise in den Narrationen der Proband innen, aber auch über hermeneutische Reflexionsprozesse des Übertragungsgeschehens entfalten und für Wirkungsnachweise nutzbar gemacht werden könnten. Auch können wir die Fallbeispiele der weiteren Probanden lediglich in Abbildungen im Anhang einsehen.
Allerdings bietet Dagmar Wohlers Publikation zum einen die umfängliche Einführung in das Störungsbild der Hyperaktivität. Zum anderen leistet sie zweifelsfrei ein bemerkenswertes Modell für die Entwicklung eines komplexen triangulierten Forschungsdesigns in der Koppelung quantitativer und qualitativer Erhebungsmethoden aus dem medizinisch-psychiatrischen und kunsttherapeutischen Feld. Besonders interessant erscheint hier die Kombination der ins ästhetische Feld ragenden diagnostischen Medien und Verfahren von Filmrezeptionen, plastischem Gestalten einer Hohlkugel aus farbigem Wachs und komplexer Auswertung von fünf kunsttherapeutischen Einzelstunden jeweils mit prä- und postdiagnostischen Einheiten.
Fazit
Der Band eignet sich für Studierende und Praktiker innen der Kunsttherapie, aber auch für (sonder)pädagogisch und psychiatrisch mit Störungen des Sozialverhaltens beschäftigte Professionelle, sowie für forschend tätige Kunsttherapeuten.
Rezension von
Prof. Dr. Lisa Niederreiter
Kunst- und Sonderpädagigin, Kunsttherapeutin, Künstlerin
Professorin an der Hochschule Darmstadt, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit
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