Sebastian J. Moser: Pfandsammler
Rezensiert von Prof. Dr. Peter Höfflin, 30.06.2014

Sebastian J. Moser: Pfandsammler. Erkundungen einer urbanen Sozialfigur. Hamburger Edition (Hamburg) 2014. 270 Seiten. ISBN 978-3-86854-276-9. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR, CH: 30,80 sFr.
Thema
Spätestens seit der Gesetzgeber im Jahr 2006 auch „ökologisch nicht vorteilhafte“ Einweggetränkeverpackungen mit einem Pflichtpfand versehen hat, gehören sie zum Stadtbild unserer Städte. Sammlerinnen und Sammler, die auf ihren Routen von Mülleimer zu Mülleimer ziehen oder auf Veranstaltungen leere Pfandflaschen suchen. Man begegnet ihnen dann vor den Flaschenautomaten der Supermärkte, wo sie den Lohn für ihre Tätigkeit als Pfandauszahlung erhalten. Mit der Verpackungsverordnung ist die neue Sozialfigur des „Pfandsammlers“ entstanden.
Sebastin J. Moser fragt in seiner Untersuchung: Wer sind diese Menschen? Was bringt sie dazu, im Müll nach Pfandgebinden zu wühlen? Was geht dabei eigentlich vor? Wie sieht ihre Welt aus? Diese Fragen führen zu einer aufschlussreichen Beschreibung der Lebenswelt von Pfandsammlern und einer soziologischen Analyse, die uns wichtige Einblicke in Marginalität und Prekarität und die Bedeutung von Arbeit in unserer Gesellschaft liefert.
Autor und Entstehungshintergrund
Sebastian J. Moser, Jg. 1980, studierte Soziologie, Sozialanthropologie und Wirtschaftswissenschaften an der Universität Bielefeld. Das Buch beruht auf einer Dissertation, die an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (2013) im Fach Soziologie angenommen wurde. Sie wurde betreut von Ulrich Bröckling und Dietrich Hoss. Sebastian Moser lebt und arbeitet in Lyon und ist Mitbegründer des Labo Co-Errance, das sich mit Fragen alternativer Forschung und Lehre beschäftigt.
Aufbau
Das Buch ist nach der Einleitung in zwei Teile gegliedert:
Teil 1
- Zur Phänomenologie des Pfandsammelns
- Sammeln: Objektive Bedingungsstrukturen
- Pfandsammeln als Krisenlösung
Teil 2
- Ökonomische Wohltat oder: Wohltätige Ökonomie?
- Die Ambivalenz von „Drecksarbeit“
- Die Aufteilung des öffentlichen Raumes
- Grenzen sozialer Anerkennung
Inhalt
In der Einleitung skizziert der Autor seine Fragestellung und erläutert die methodische Vorgehensweise. Er stellt zunächst den vorherrschenden medialen Diskurs in Frage, der Pfandsammeln auf die ökonomische Dimension als Zeichen für die sich verschlechternden sozialen Verhältnisse verkürzt. Diese ist zwar ein wichtiger Aspekt des Pfandsammelns, erklärt aber nicht die breite soziale Heterogenität der Pfand sammelnden Menschen. Auch sind die Pfandsammler von den Müllsammlern in Entwicklungsländern zu unterscheiden, die mit dieser Tätigkeit ihre Existenz sichern müssen. Aus diesen Beobachtungen und Überlegungen ergibt sich die Frage nach weiteren Gründen für das Pfandsammeln über die unmittelbare Bedürftigkeit hinaus.
Methodisch orientiert sich die Untersuchungen an der Tradition der frühen Chicago School, mit ihrem Fokus auf der unmittelbaren Begegnung im Feld und dem flanierenden Durchstreifen und Erkunden urbaner Räume. Im methodischen Teil der Studie wird zunächst der Forschungsprozess vorgestellt. Moser sucht die Pfandsammler dort auf, wo sie tätig sind, beobachtet sie und spricht sie an. Die Frage, „Entschuldigung, sammeln Sie Flaschen?“ ist ein typischer Gesprächseinstieg für ihn. Seine fokussierten Beobachtungen hält er in Notizen und Forschungstagebüchern fest, auf deren Grundlage ausführliche Beobachtungsprotokolle erstellt werden. Die Gespräche wurden unter Anwendung der Sequenzanalyse nach Ulrich Oevermann ausgewertet, deren Grundprinzipen als weiterer Teil der Einleitung vorgestellt werden, um dann die forschungsethischen Entscheidungen zu begründen, die sich beispielsweise aus der Forderung nach informierter Zustimmung ergeben.
Der erste Teil des Buches beginnt mit einer Phänomenologie des Pfandsammelns. Hier werden die Pfandsammler und ihre Vorgehensweise beschrieben. Es werden die beiden verschiedenen Typen der Routen- und der Veranstaltungssammler vorgestellt. Auch die Vorgehensweise wird differenziert beschrieben, die vom flüchtigen versteckten Griff in den Mülleimer bis zum systematischen Durchsuchen der Abfalltonne reichen kann. Auch wenn mit den Pfandflaschen das Geld offenbar auf der Straße liegt, zeigt Moser den begrenzten Rahmen der möglichen Einkünfte auf. Routensammler legen teilweise bis zu 10 Kilometer an einem Tag zurück und sind gezwungen Zwischenlager anzulegen, da eine Tüte mit 20 Bierflaschen über 5 Kilogramm Gewicht hat. Die Erträge sind für die Pfandsammler kein regelmäßiges tragendes Einkommen, sondern ein Zubrot, um sich Kleinigkeiten leisten zu können, wie „eine Bratwurst“ oder „etwas zum Rauchen“. Als objektive Bedingungsstrukturen für das Pfandsammeln werden das Pfandsystem und dessen rechtliche Bedingungen und dann die Tätigkeit des Sammelns als Handlungsprinzip zwischen Muße und Arbeit dargestellt. Anhand von drei Fallbeispielen wird dann sichtbar, wie Pfandsammeln als Bewältigungsstrategie dazu genutzt wird, sozialer Vereinsamung und fehlender Eingebundenheit zu begegnen.
- Die 70-jährige Elisabeth begründet ihre Sammeltätigkeit mit dem Wunsch nicht nur daheim zu sitzen und der vom Arzt verordneten Bewegung. Sie möchte aber nicht einfach nur Spazierengehen, sondern sieht das Pfandsammeln als nützliche Nebenbeschäftigung.
- Der auf Arbeitslosengeld II angewiesene Thomas beschreibt seine Pfandbeträge, als Geld, das er „extra“ hat. Die Tätigkeit gibt ihm aber auch eine wichtige Strukturierung für den Alltag. Auch für ihn ist das Pfandsammeln eher eine Nebentätigkeit, mit der lediglich bei der Fußball-WM höhere Beträge zu machen sind. Sie hat ihn darauf gebracht und seine Sammelleidenschaft entfacht.
- Dieter geht arbeiten und er hat das Pfandsammeln zu einer Nebentätigkeit gemacht, in die er investiert. Er fährt mit dem Auto zu Veranstaltungen und macht die auf der Ladefläche des Kombis mitgebrachten Bierkisten voll.
Die Fallstudien ergeben ein Bild der Pfandsammler als aktive Unternehmer und Dienstleister mit einem ausgeprägten Arbeitsethos. Sie organisieren ihre Arbeit professionell und stehen in der Konkurrenz zu anderen Sammlern. Der Pfandzettel des Getränkeautomates zeigt die Höhe des eigenen Verdienstes und der erbrachten Leistung. Dennoch ist die ökonomische Komponente weder der einzige noch der durchweg dominierende Grund für die Sammeltätigkeit. Das Pfandsammeln dient der Entwicklung eines positiven Selbstwertes, der Beseitigung vorhandener leerer Zeit und der Teilhabe am öffentlichen Leben. Allerdings beschreibt Moser gerade beim letzten Punkt auch die ambivalenten Seiten dieser Lösungsstrategie. Flaschensammeln findet zwar in der Öffentlichkeit statt und ist deshalb eine Möglichkeit den eigenen vier Wänden zu entkommen. Die Aufmerksamkeit auf das konzentrierte Sammeln schränkt aber gerade auch die Chancen ein, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Auch sind die öffentlichen Reaktionen auf die Pfandsammler häufig von Feindseligkeiten und Aversionen geprägt.
Im zweiten Teil nimmt der Autor einen Perspektivenwechsel vor. Er verschiebt den Fokus von der Figur des „aktiven Sammlers“ zur passiven Rolle des Gabenempfängers. Auch wenn die Pfandflasche auf den ersten Blick ein vom Besitzer aufgegebenes Objekt ist, knüpfen sich an die Sammeltätigkeit eine Vielfalt verschiedener Beziehungen und sozialer Arrangements. Pfandsammler befinden sich etwa in der Rolle von informellen Dienstboten, wenn sie eine lästige leer Flasche in Empfang nehmen, die sonst zum Mülleimer getragen werden müsste. Parkhauswächter, Sicherheitskräfte und Polizei sind häufig dankbar, wenn mit den leeren Flaschen nicht nur Müll, sondern auch mögliche Wurfgeschosse entfernt werden. Pfandsammler werden hier als Teil einer Ökonomie beschrieben, zu der auch Türaufhalter, Parkplatzanweiser oder Autoscheibenputzer gehören. Sebastian J. Moser analysiert die Tätigkeit und Austauschbeziehungen auf der Grundlage soziologischer Reziprozitäts- und Gabentheorien. Er beschäftigt sich dann mit den Formen und Auswirkungen von Institutionalisierungen des Pfandsammelns, wie sie beispielsweise mit der Internetseite „pfandgeben.de“ oder den in Berlin an öffentlichen Müllbehältern zu findenden Aufklebern zu beobachten sind, die dazu auffordern Pfandflaschen für die Sammler vor die Tonnen zu stellen. Die ambivalente Situation zwischen Unterstützung und Ablehnung wird in den letzten Kapiteln des Bandes dargestellt und diskutiert. Schließlich handelt es sich beim Pfandsammeln um „Dirty Work“, also um eine Arbeit, die nach dem amerikanischen Soziologen Everett Hughes die Gefahr beinhaltet, dass die mit Schmutz verbundenen Kategorien auf die ausführenden Menschen übertragen wird. Moser verbindet die Analyse der sozialen Position von Pfandsammlern mit drei interessanten Exkursen zu den Ährensammlern im alten Testament (3. Buch Mose, 19,9-10), zur Geschichte der Lumpensammler und zur Kritik von Karl Marx am Verbot des „Raffholzsammelns“ im Preußischen Landrecht.
Auf die Grenzen sozialer Anerkennung und den Versuch Pfandsammler aus dem öffentlichen Raum auszuschließen geht Moser in den letzten beiden Kapiteln ein. Die neoliberale Stadtästhetik ist darauf ausgerichtet unerwünschte Gruppen, die das Bild der Stadt als Konsum-, Wirtschafts- und Erlebniszentrum beeinträchtigen könnten, zu verdrängen. Technische Vorrichtungen an Müllbehältern erschweren das Pfandsammeln oder machen es gänzlich unmöglich. Abfallwirtschaftssatzungen transformieren die Sammeltätigkeit in eine Ordnungswidrigkeit. Aber auch auf individueller Ebene sind Pfandsammler häufig Missachtungen, Beleidigung und Gewalt ausgesetzt.
Diskussion und Fazit
Das Buch von Sebastian J. Moser kann unter verschiedenen Gesichtspunkten sehr zur Lektüre empfohlen werden. Es liefert zunächst einen breiten Einblick in die Lebenswelt der Pfandsammler. Der Autor stellt sich in die Tradition von Norbert Elias, der die Soziologie in der Rolle des Mythenjägers sah. Er erweitert das zu kurz gegriffene Bild des Pfandsammelns als rein ökonomische Tätigkeit und materielles Armutsphänomen und beschreibt die heterogene Gruppe der Pfandsammler und ihre Motive. Vielfach handelt es sich um Menschen, die aus dem Arbeitsleben geworfen wurden und von sozialer Teilhabe ausgeschlossen sind. Das Pfandsammeln wird für sie zu einer Strategie der Lebensbewältigung, mit der sie ihren Alltag strukturieren, das Selbstwertgefühl stärken und sich ihrer Leistungsfähigkeit versichern. Dennoch ist ihre Situation ambivalent und prekär. Das Sammeln im Müll hält sie in einer Außenseiterposition und ermöglicht ihnen keinen Aufbau sozialer Kontakte. Vielmehr sind sie in den Augen der neoliberalen Stadtpolitik unerwünscht im Stadtbild und deshalb Verdrängungsversuchen ausgesetzt. Ihr Anblick ist ein Zeichen für gesellschaftliche Risiken und gefährdeten Wohlstand, weshalb sie häufig der Missachtung, Beleidigung und Gewalt ausgesetzt sind.
Für methodisch interessierte Leserinnen und Leser aus den Gebieten der Sozialen Arbeit bietet das Buch gleichzeitig ein gutes Beispiel für Forschungszugänge im Bereich schwer erreichbarer Randgruppen. Dabei nimmt Moser die Pfandsammler ernst und stellt sie als Subjekte in den Mittelpunkt seiner Erkundungen. So gelingt es ihm spannende und lesenswerte Antworten auf seine offenen Fragen zu bekommen: „Was, wie und warum machen die das eigentlich?“. Nicht nur die flüssige und sehr gut lesbare Darstellung, sondern auch der enge Bezug auf soziologische Theorien, macht die Lektüre zu einem Gewinn.
Rezension von
Prof. Dr. Peter Höfflin
Leiter Institut für angewandte Forschung (IAF)
Professur für Soziologie und empirische Sozialforschung
Evangelische Hochschule Ludwigsburg
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